8 Jahre - Die lange Reise

Hollow Point

Nero VI.
Otaku Veteran
Vorwort

Ein Epos, geschrieben für die einzige Wahrhaftigkeit, die Ewigkeit. Das war das erste, was mir einfiel. Doch dieses Werk hat mehr zu bieten, es soll nicht als eine dieser üblichen Trilogien gelten. Aus diesem Grund ging ich andere Wege, versuchte stilistische Grenzen zu durchbrechen und – selbst wenn es nach purem Größenwahn klingt – eine neue, eine moderne Art des Schreibens erschaffen. Das war ein ehrgeiziges Ziel.
Die Idee befand sich schon lange in meinem Kopf, entstanden aus Einsamkeit. Ohnehin war Einsamkeit das treibende Wesen hinter dieser Geschichte. In jedem Absatz schwingen so viele einsame Gedanken und Sorgen mit, dass sie kaum greifbar sind. Aber wie macht man etwas greifbar, dass nicht wirklich existent ist, doch trotzdem da ist. Viele Jahre habe ich mich nur mit diesem Thema beschäftigt, habe versucht, Emotionen darzustellen, Emotionen auszulösen. Zu Anfang stand nur eine simple Idee, entstanden aus kindlichen Gedanken eines verwirrten Kindes. Daraus wurde ein Einfall, der weitergeführt und immer mehr ausgearbeitet wurde. Bis es schließlich in eine Trilogie ausartete und die Grenzen dessen, was ich mir zu Anfang vorgestellt hatte, sprengte.
Ich lernte mit der Zeit dazu, löschte immer mehr Fehler aus der Geschichte. Und nun, um dieses Vorwort aus Angebrachtheit bewusst kurz zu halten, ist es fast soweit, das ich sagen kann, es ist gut. Aber das muss jeder Leser selbst herausfinden. Er muss seine Lieblingsstellen finden, Stellen, die er hasst, und sich hoffentlich Gedanken darüber machen. Außerdem soll der Leser den wahren, den wirklichen Kern des Werks erkennen, nur für sich allein, und ihn über die Zeit, die die Geschichte andauert, mit sich tragen.
Das soll das Ende des Vorworts sein. Euch soll versichert sein, dass in dieser Geschichte nichts so ist, wie es sein soll. Bis dahin, freut euch auf das Epos.





8 Jahre
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Die lange Reise

29.01.2012 - 12.07.2013




Februar 2012: Ein Mann namens Johnson


Ein müde wirkender und zusammengefallener Mann saß an seinem Tisch in der kleinen Küche in der engen Wohnung. In schnellen, schubartigen Schlücken trank er Kaffee aus seiner weißen Tasse, auf der in großen Buchstaben das Wort Life gedruckt war. Da er keinerlei Kenntnis über die englische Sprache besaß, verstand er nicht, was dort geschrieben stand, aber ihm gefielen die schnörkellose Form und die großen Buchstaben, mit denen das Wort zwischen dem weiß hervorsprang. Durch die Größe wirkte es zuerst bedrückend, doch die Buchstaben waren wie eine Insel in einer grellen Welt. Der Mann betrachtete sie gerne, sie gaben ihm ein mäßiges Gefühl der Zuversicht. Und Zuversicht war das einzige, was in am Leben halten konnte. Seine Wohnung in der äußerlich sehr schönen Stadt Bordeaux war nicht sonderlich groß, doch das Beste, was er sich von seinem ebenfalls kleinen Gehalt leisten konnte. Es reichte ihm schon, wenn die Heizung für wenige Minuten Wärme ausstrahlte und er seine kühlen Hände daran reiben konnte, bevor sie wieder für längere Zeit ausfiel. Der Besitzer des mehrstöckigen Wohnkomplexes hatte ihm schon des Öfteren versichert, dass er sich um die Heizung kümmern würde, doch daraus war nie etwas geworden. Also nahm der Mann es als Selbstverständlichkeit hin. Das bedeutete nicht, dass er genügsam war, aber er hatte in all den Jahren, die er bereits in der armen Gegend verbracht hatte, die wenigen Moment, die zumeist nur in kurzen Schüben kamen, zu schätzen.
Mit einem schnellen Blick auf seine Armbanduhr, erfuhr er die Uhrzeit: es war erst 5:00 Uhr. Wenn das ein üblicher Tag gewesen wäre, dann würde er noch im Bett liegen und selig schlafen. Aber es war ihm wichtig, dass er die Augen offen hielt und an diesem kühlen Tag im Februar die Gedanken zusammen hielt. Und er lachte über den Gedanken, dass er vor einigen Tagen seine Arbeit gekündigt hatte und trotzdem schon am frühen Morgen den Kaffee in rauen Mengen trank. Das alles geschah nur, weil er kurz vor seiner Kündigung ein interessantes Angebot von einem Mann namens Johnson unterbreitet bekam. Und diesem Mann, der stets einen Doktorkittel und ein wie frisch gebügelt aussehendes Hemd trug, war Pünktlichkeit ein unverzichtbares Merkmal. Völlig überraschend sprach der Mann ihn bei seiner damaligen Arbeit als Kassierer im Supermarkt Viande an und machte ihm das Angebot. Er war bereits seit vielen Jahren ein treuer Kunde des Ladens und kaufte jeden Tag nur eine Zahnbürste und zwei Schokoriegel. Der Mann hatte sich schon oft gefragt, warum jemand täglich eine Zahnbürste brauchte. Er müsste über all die Jahre hinweg ein ganzes Lager an Zahnbürsten angesammelt haben. Doch sich weitere Gedanken darüber zu machen, war unnötig, denn das Privatleben der Kunden soll privat bleiben – das sagte ihm jedenfalls der Filialleiter an seinem ersten Tag im Supermarkt.
Wie an jedem anderen Tag auch, ging Johnson zielsicher durch die Regale und legte die Zahnbürste und die beiden Schokoriegel in seinen kleinen Einkaufskorb. Als er an diesem Tag an die Kasse trat und die Waren auf das Laufband legte, fragte er mit seiner dumpfen und krächzenden Stimme: „Verdienen Sie viel Geld?“ Darauf gab es für den Mann nur eine Antwort. Sein Lohn war ein Hungerlohn, kaum wert, dafür zehn Stunden am Tag zu arbeiten. Er antwortete mit einem hastigen Nein und zog die Waren über den Scanner. Als er die Antwort gehört hatte, Blicke sich der Mann namens Johnson über die Schulter und beugte sich vor. „Sie können sofort bei mir anfangen. Ich zahle Ihnen das Zehnfache Ihres jetzigen Gehalts.“ Interessiert lehnte sich der Mann vor. Das klang äußerst viel versprechend. „Jedoch müssten Sie sich für zwei Jahre von allem trennen, was Sie besitzen und auch von Ihrer Familie.“ fügte Johnson hinzu.
„Ich bin einverstanden.“ erwiderte der Mann. Daraufhin reichte ihm der Mann namens Johnson ein kleines Kärtchen, auf dem seine Adresse stand. Der Mann sah sich die Karte an und las laut vor: „Am 23. Februar, um 5:30 Uhr, bei der ehemaligen Fabrikhalle im Stadtinneren.“
„Ich denke, Sie wissen, wo die Halle ist.“
„Ja. Aber es würde mich interessieren, was für eine Arbeit Sie für mich vorgesehen haben. Ich vermute nicht, dass Sie einen Supermarkt in Ihrer Halle haben.“ sagte der Mann humorvoll.
Johnson blieb ruhig, sein Gesicht war regungslos. „Diese Frage würde ich auch stellen, wenn ich in Ihrer Position wäre. Aber Sie müssen verstehen, dass ich es nicht vorher sagen kann. Wenn Sie Geld verdienen wollen, dann kommen Sie bitte pünktlich. Ich kann es nicht ausstehen, wenn Menschen unpünktlich sind.“ entgegnete Johnson streng, aber dennoch in einem so höflichen Ton, dass es sich immer noch wie eine einfache Angelegenheit anhörte. Der Supermarktkassierer wäre verrückt gewesen, wenn er eine derartige Chance leichtfertig verstreichen ließe. Also stimmte er blind zu.
Die Stimme im Radio riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Sein Geist war plötzlich wieder in der schäbigen Wohnung. Lautstark verkündete der Nachrichtensprecher die neuesten Meldungen. Seine Stimme war gesenkt, verriet, dass es keine guten Nachrichten waren. „Wir haben neue Informationen aus dem kasachischen Krisengebiet. Nachdem am gestrigen Tag die russische Regierung dem kasachischen Volk den Krieg erklärt hat, erreichte uns heute die brisante Information, dass russische Truppen bereits auf dem Vormarsch sind und weite Teile der Grenze überrannt haben. Daraufhin erklärte die chinesische Regierung: Wenn die russische Obrigkeit die Friedensvereinbarungen ignoriert, werden wir alles daran setzen, unsere Verbündeten zu unterstütze! Die kasachische Regierung war zu keinem Statement bereit. Und…“ Unerwartete Stille trat ein. Die Wohnung des Kassierers war für kurze Zeit von jedem Geräusch befreit. Kurz darauf erklärte der Nachrichtensprecher: „Wir haben soeben erfahren, dass sich ukrainische und kasachische Truppenverbände auf einer Ebene in der Nähe der Grenze erbitterte Kämpfe mit den Bodentruppen der russischen Armee leisten. Wir halten Sie natürlich über die weiteren Entwicklungen auf dem Laufenden. Aber ein krieg kann noch so tödlich sein, die neunen Shark-Powerriegel überstehen ihn mit ihrer verbesserten…“ Abrupt schaltete er das Radio ab. Diese mehr als makabre Werbung schoben sie immer ein, wenn irgendwo auf der Welt Krieg herrschte. Die Hersteller machten sie absichtlich für solche Anlässe und gestalteten sie mit den dementsprechenden Sprüchen, die sich immer auf die toten oder noch sterbenden Menschen bezogen. Dann wurden sie von den widerlichen Nachrichtensprechern, die allesamt auch keine Skrupel mehr hatten, verbreitet. Aber zu diesen tagen war es üblich, dass man überall auf Werbung traf, die vor nichts Rücksicht nahm. Wahrscheinlich machten die Konzernchefs sogar auf ihren eigenen Beerdigungen Werbung für ihre Produkte. Der Gedanke allein widerte den Kassierer schon an. Er verstand nicht, wie die Welt und die Menschen so verkommen konnten.
Nachdem er ein weiteres Mal auf seine Armbanduhr gesehen hatte, stand er auf und ging in den schmalen Flur. Dort streifte er sich seine dunklen Schuhe über die Füße. Es war 5:10 Uhr, und er würde höchstens zehn Minuten brauchen, um die Halle zu erreichen. Aber er wollte sich vorher noch von Kate verabschieden. Durch den ganzen Stress, den er in der letzten Zeit hatte, vergaß er, ihr von der neuen Arbeit zu erzählen. Er hatte auch eine leichte Furcht verspürt, weil sie ihm doch erst die Arbeit in dem Supermarkt verschafft hatte und er ihr so dankbar dafür gewesen war. Dass er nun so einfach kündigte, würde sie sicher nicht gerne sehen.

Als Kate ihn bei dem Filialleiter vorstellte und dafür sorgte, dass er die Arbeit bekam, arbeitete sie schon seit einem halben Jahr in dem Supermarkt. Die Kollegen mochten Kate, sie war immer freundlich, hilfreich und bereit, auch die Arbeiten zu verrichten, die sonst niemand machen wollte. Sie half ihm gerne, wenn er mit der Arbeit überfordert war und sorgte dafür, dass er nicht schon am ersten Tag wieder entlassen wurde. Wenige Tage danach schaffte sie es, eine Arbeit bei der städtischen Bankfiliale zu bekommen. Das war immer ihr großer Traum gewesen. Dort bekam sie ein hohes Gehalt und hatte somit die Möglichkeit, ihm bei zwischenzeitlichen finanziellen Engpässen zu helfen. Er schämte sich dafür, dass er ihre Hilfe so ausnutzte, aber sie versicherte ihm jedes Mal, dass sie ihm noch etwas schuldig war, wegen dem Vorfall in ihrer Kindheit. Doch auch wegen dieser manchmal übertriebenen Vorsorge wollte er unbedingt die Arbeit bei Johnson. Er wollte nicht ständig auf sie angewiesen sein, endlich auf seinen eigenen Füßen stehen.
Kate war fünfundzwanzig Jahre alt, ein Jahr jünger als er, und sie gingen früher manchmal, wenn er Zeit dafür fand, zusammen zur Schule. Aber schon wenige Monate nach ihrem ersten Treffen und ihrer ersten Unterhaltung, war sie plötzlich zusammen mit ihrer Familie fort gegangen. Sie tauchte erst sieben Jahre später wieder auf. Seit diesem Tag aber waren sie unzertrennlich, bis Kate ein schlimmes Schicksal ereilte: Fünf Jahre nach ihrem Wiedersehen verlor Kate ihre gesamte Familie bei einem Autounfall. Sie waren alle zusammen auf einer einsamen Straße unterwegs und wurden dann von einem Unbekannten von der Straße gedrängt. Sie war die Einzige, die sich, zwar schwer verletzt, doch lebend, in ein nahe gelegenes Dorf retten konnte. Als wenig später die Polizei bei der Unfallstelle eintraf, fanden sie nur noch toten Körper ihrer Eltern. Ihre beiden Geschwister waren nicht mehr aufzufinden, wie vom Erdboden verschluckt, und sie hatte nie wieder etwas von ihnen gehört. Sie gab die Hoffnung, dass ihr Bruder und ihre Schwester noch lebten, nie auf. Aber sie musste durch eine lange Zeit der Trauer gehen, während der der Kassierer ihr endlich auch einmal helfen konnte. Aber Kate schaffte es, sich wieder aufzuraffen und in ein geregeltes Leben zurück zu finden.

Er war nun aus der Wohnungstür getreten und handhabte seinen Schlüssel geschickt, um die Tür abzuschließen. Als er sich umdrehte, blickte er verblüfft den leeren Flur entlang. Es war ungewöhnlich ruhig. Tagsüber kamen die Frauen und alten Menschen – jedenfalls die, die nicht das Glück hatten zu arbeiten – aus ihren Wohnungen in den Flur, um dort den tag zu verbringen. Da es in den Wohnungen meist stark nach Fäkalien oder anderen oder anderen Körperflüssigkeiten roch, war es dort kaum auszuhalten, am meisten noch während der warmen Sommertage. Die Nächte waren oft schlaflos, weil die Menschen sich in ihren Betten wälzten, oft mit eine kleinen Klammer auf der Nase. Und die Fenster waren alle nicht zu öffnen. Der Besitzer hatte sie alle versiegeln lassen, weil schon öfter Menschen hinaus gesprungen sind, ums ich das Leben zu nehmen. Aus diesem Grund galt dieses Haus unter den anderen Bewohnern der Stadt nur als das Todeshaus. Dort gab es mit Abstand die meisten Selbstmorde. Denn die Bewohner des Hauses fanden auch andere Möglichkeiten, als aus dem Fenster zu springen.
Das Haus war schon vor vielen Jahren erbaut worden, vielleicht in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, und seitdem nicht einmal saniert worden. Die meisten Toiletten waren verstopft, es gab selten Wasser, um sich zu waschen und der Fahrstuhl war ein einziger Trümmerhaufen. Ein einfaches Bauwerk, für die Menschen, die wenig bis gar nichts verdienten. Die Regierung versorgte sie nur mit dem Nötigsten, damit sie noch zu der Arbeit in den großen Fabriken oder zum Müllsammeln vor den großen Villen geeignet waren. Wenn sie das nicht mehr konnten, übersah man sie einfach.
Er musste nie in den Flur, denn seine Wohnung war noch nicht in einem derartig desolaten Zustand. Bisher gab es nur ein oder zwei Selbstmorde der Vormieter und es sah auch noch nicht so aus, als wären die Wände von Schimmel befallen. Wie bei vielem hatte Kate ihm zu der Wohnung verholfen. Sie wohnte früher mit ihrer gesamten Familie – für ihn alleine war sie schon zu klein – und sie kannte den Vermieter gut. In dieser Gegend war es von Vorteil, wenn man die richtigen Menschen kannte, die einem zu den wenigen guten Dingen verhalfen oder man sparte genug Geld, um in eine einigermaßen saubere Wohnung zu gelangen.
Ihn interessierte das Schicksal der anderen Menschen wenig. Er hatte einen Arbeitsplatz gehabt, wo er keine schweren Arbeiten verrichten musste. Auch wusste er, dass ihn die anderen Menschen im Haus deswegen beneideten. Obwohl er kaum mehr als sie verdiente. Doch für die Fußabtreter der Gesellschaft – wie er sie und sich selbst gerne bezeichnete – zählte jede noch so unwichtige Kleinigkeit. Man war ein reicher Mann, wenn man ein einigermaßen geregeltes Einkommen besaß, obwohl man in der eigenen schäbigen Wohnung von Ratten aufgefressen würdest und gegen Schimmeldämpfe ankämpfen müsste.
Wenn man hinter dem Haus ein Stück die Straße herunterging, konnte man den ehemaligen und verkommenen Kiosk eines netten, älteren Ehepaars sehen. Vor einiger Zeit wurde der Mann krank und musste ins Krankenhaus. Die Ärzte hier konnten ihm nicht helfen, also brachten sie ihn nach Paris in ein besseres Krankenhaus. Dort erholte sich der Mann schnell und konnte das Krankenhaus wieder verlassen. Aber als sie die Rechnung für die Behandlung bekamen, mussten sie ihren Kiosk verkaufen, um überhaupt einen teil davon bezahlen zu können. Danach geschah das, was immer passierte, wenn die Menschen ihre Arbeit und ihre Wohnung verloren: sie verfielen beide dem Alkohol. Nach einem Jahr waren sie dann nicht mehr nett. Um zu überleben, überfiel sie Passanten. Irgendwann brachen sie zusammen in ein Lagerhaus ein und wurden prompt bei ihrem ersten Einbruch von einem Wachmann erschossen. Daraufhin wurde der Wachmann befördert und konnte mit seiner ganzen Familie in eine bessere Gegend umziehen. Das war der Kreislauf des Lebens im Jahre 2012. Niemand glaubte, dass sich jemals etwas daran ändern würde. Sie alle schwammen auf einer Welle aus ihrem eigenen Dreck und Hass und steuerten direkt auf eine Klippe zu. Irgendwann würde die Welle dort aufschlagen und samt ihrer Dummheit in den Abgrund ziehen. Doch sah niemand oder wollte niemand sehen, nicht einmal die wenigen verbliebenen Intellektuellen.
Diesem bedrückenden Gedanken noch nachhängend stapfte er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Er hatte sich daran gewöhnt, dass er immer vom fünften Stockwerk aus die Treppe nehmen musste. Es gehörte zum Alltag, darum beschwerte er sich schon nicht mehr darüber.
Auf der Straße vor dem Gebäude angekommen machte er einen tiefen Atemzug. Die Luft war morgens noch rein, frei von dem Geruch der Autos. Nicht so wie zu den Stoßzeiten, wenn die Autos durch die schmalen Straßen drängten und es kaum ein durch kommen für einen Fußgänger wie ihn gab. Er besaß weder ein Auto noch ein Fahrrad, das erschien ihm unnötig, da er selten über die nächsten vier Stadtteile hinaus kam. Selbst wenn er irgendwann die Chance bekommen hätte, zu verreisen, hätte er sie wahrscheinlich nicht wahrgenommen. Er sagte immer, er liebe seine eigenartige Stadt und wollte deshalb nie weg, doch in Wahrheit hatte er sich nie zugeben wollen, dass er Angst hatte in die Fremde zu gehen. Was erwartete ihn dort schon? Überall auf der Welt war es gleich, überall herrschte Armut. Er musste nicht verreisen, um das zu erleben. Plötzlich unterbrach er seine Gedanken. Er wollte nicht weiter über dieses Thema nachdenken. Ansonst kam er nie dazu, über solche Nebensächlichkeiten nachzudenken, doch an diesem Tag schien es ihm, als hätte er alle Zeit der Welt.
Er hielt einen Moment lang inne und hob seinen Kopf gen Himmel. Er wollte nach den Sternen und dem Mond Ausschau halten, doch sie wurden von düsteren, schwarzen Wolken verdeckt, die den ganzen Himmel in ein bedrohlich wirkendes Szenario verwandelten. Da er nichts außer Wolken sehen konnte, setzte er sich in Bewegung. Gemütlich schlenderte er durch die schmalen Gassen zum Stadtzentrum.
Er war nie glücklich mit seiner Lebenssituation gewesen, aber manchmal gab es Momente, in denen ihm das alles so unwichtig erschien. Dann war er einfach nur froh über die kleinsten Augenblicke. Natürlich hatte er früher auch große Ziele gehabt, wollte irgendwann einmal in das saubere Stadtzentrum umziehen, viel Geld verdienen. Aber nachdem seine Eltern starben, wurden ihm seine Träume entrissen. Als einige Jahre später seine Adoptiveltern starben, verlor er jeglichen Ehrgeiz und lebte nur noch von einen Tag auf den anderen. Er glaubte, dass es nichts anderes zu tun gab, als allmählich auf den unvermeidlichen Tod zuzusteuern. Lange Zeit hing er dem Gedanken nach, blieb nur in seiner Wohnung sitzen und schüttete den billigsten Alkohol, den er finden konnte, in sich hinein. Erst als Kate wieder in sein Leben trat, konnte er sich von seiner Trunksucht trennen und wieder anfangen zu arbeiten.
Er trat vor die Wohnungstür von Kate und klopfte zweimal kräftig gegen das dunkle Holz der Tür. Es dauerte einige Minuten, bis Kate schließlich an die Tür trat und sie aufschloss. Sie riss die Tür einen Spalt weit auf, die langen schwarzen Haare lagen wüst auf ihrem Kopf, die grünen Augen wirkten verschlafen. Verwundert und sehr hastig fragte sie: „Rafael? Es ist doch noch so früh. Hast du wieder getrunken? Sag schon.“
Man konnte nicht behaupten, dass Kate ein sehr hektischer Mensch war, aber wenn etwas nicht so verlief, wie es das üblicherweise tat, wurde sie schnell unruhig und äußerst misstrauisch. In diesen Momenten fragte er sich, ob sie nicht doch noch unter dem Tod ihrer Eltern litt.
„Zuerst möchte ich dir einen Guten Morgen wünschen. Und ich bin nüchtern.“ erwiderte er. Dann erzählte er in aller Kürze die ganze Geschichte von seinem Treffen mit Johnson. Sie hörte aufmerksam zu und nachdem er die Geschichte erzählt hatte, ließ sie ihn in die Wohnung. Sie setzten sich in die Küche und sie fragte ihn, ob er einen Kaffee trinken wollte. Er lehnte dankend ab, obwohl das ein sehr verlockendes Angebot gewesen war; sie besaß noch echten Kaffee und nicht so einen synthetischen Brei, wie er ihn jeden Tag trank. Doch seine Zeit war begrenzt.
Kate gähnte stark und er merkte, dass sie in der letzten Zeit nur wenig geschlafen hatte. Denn der Beruf bei der Bank versprach ihr zwar ein hohes Gehalt, doch sie musste lange und hart arbeiten, um die Stelle zu behalten, manchmal noch mehr als er.
„Für zwei Jahre?“ fragte sie ungläubig. „Das ist eine lange Zeit. Wenn du dringend Geld brauchst, dann kann ich es dir auch geben. Du weißt doch, dass ich dir immer helfe.“
„Ich habe doch immer davon gesprochen, dass ich endlich auf meinen eigenen Füßen stehen will und nicht mehr ständig deine Hilfe ausnutzen möchte. Das ist die Chance, um es zu verwirklichen. Und wenn ich wiederkomme, dann…“ Er stoppte mitten im Satz. Sie schüttelte den Kopf.
„Du machst ohnehin das, was du willst. Auf Wiedersehen.“
„Aber du…“ Er stockte abermals. Wenn sie wenig geschlafen hatte, konnte er nur selten über ein wichtiges und schweres Thema mit ihr reden. Er traf dann bei ihr auf taube Ohren. Deswegen lenkte er die Unterhaltung in eine weniger bedrückende Richtung. Und wenig später verabschiedete er sich von ihr. Mit herunterhängendem Kopf verließ er die Wohnung. Kate legt sich sofort wieder in ihr Bett und schlief in aller Ruhe ein. Währenddessen ging Rafael über die Straße, die ihn zu seinem Ziel führte.

Die Halle, die Johnson vor einigen Jahren gekauft hatte, war früher ein Lager für Waffen aller Art gewesen, die in den nebenstehenden Fabriken produziert wurden. Als in den Fabriken noch gearbeitet wurde, trieb sich Rafael oft dort herum, um sich mit kleineren Arbeiten ein bisschen Geld zu verdienen. Aber seitdem die Fabriken vor einem Jahr geschlossen wurden, war er nicht mehr in dem Stadtteil gewesen.
Durch die vernagelten Fenster der Halle drang Licht, das kleine Leuchtpunkte auf die Straße warf. Das Äußere wirkte heruntergekommen, überall blätterte schon der weiße Anstrich herunter und machte Platz für eine Rostschicht. Im Inneren waren leise Stimmen und manchmal auch Gelächter zu hören. Rafael stand vor der schmalen Stahltür und horchte daran. Dann aber klopfte er beherzt an die Tür. Innerhalb der großen halle wurde es sogleich still und die Lichter wurden ausgeschaltet.
„Wer ist da?“ fragte eine leise Stimme durch die Stahltür hindurch.
„Hier ist Rafael Jardot, der Kassierer.“ erwiderte er unsicher.
In einem Ruck flog die Tür auf und das Licht wurde wieder eingeschaltet. Vor ihm stand die kleine Gestalt mit Glatze und Doktorkittel, an dem eine Hand behutsam zerrte - das war Doktor Erik Johnson. Er ließ Rafael mit ein paar wenigen freundlichen Worten in die Halle eintreten und schloss hinter ihm die Tür, genau so schnell wie er sie geöffnet hatte.
Das Innere der Halle war in drei Räume unterteilt. In dem vorderen Raum, der zudem mit Abstand der größte war, befanden sich mehrere Tische, auf denen sich in mehreren geordneten Haufen kleine mechanische Teile und komplette Geräte stapelten. Mitunter befanden sich dort Geräte, die bereits uralt waren und schon leichten Rost angesetzt hatten. In der hinteren Ecke des hohen Raumes befand sich ein kleiner abgetrennter Bereich, der auf den ersten Blick wie ein Büro wirkte. An der gegenüberliegenden Wand waren zwei Türen angebracht, die zu den anderen Räumen führten. Für Rafael schienen es nur kleine Abstellräume zu sein, die Dr. Johnson wahrscheinlich nutzte, um seine Zahnbürsten einzulagern.
Der Mann namens Johnson loste Rafael an den Geräten und Maschinen vorbei zu einem Tisch in der Mitte, der überraschend leer war. Auf zwei von den vier Stühlen, die um den Tisch herum standen, saßen zwei Männer und spielten Karten. Der eine der Männer, dem ständig eine Zigarette im Mundwinkel hing, blickte fortwährend mit seinen schmalen Augen zu seinem Mitspieler, als wolle durch die Karten hindurch sehen. Nebenbei ließ er sich nicht einmal davon abbringen die Zigarette zu rauchen; selbst wenn er sprach, hatte er sie im Mund. Der Mann, dem er versuchte in die Karten zu sehen, war eine massige Gestalt und wirkte kräftig wie ein Stier. Mit seinen mächtigen Händen umklammerte er die Karten, als würde er sie nie wieder hergeben wollen. Über seine linke Gesichtshälfte zog sich eine dunkle Narbe, die ihn noch gefährlicher aussehen ließ.
Als Dr. Johnson Rafael einen Platz zwischen den beiden Männern anbot, gewann der massige Mann gerade lachend die Runde. Er riss freudig seine dicken Arme in die Höhe und enthüllte eine Reihe gelber Zähne. Doch sein Gesicht war schnell wieder wie erstarrt. Er warf die Karten schwungvoll auf den Stapel und wand sein Gesicht in die Richtung von Dr. Johnson. Der andere legte ebenfalls seine Karten weg und blickte Dr. Johnson an. Nun, wo sie nicht mehr in das Spiel vertieft waren, wirkten sie weitaus weniger angespannt und bedrohlich, fast wie zwei gute Freunde, die man schon seit vielen Jahren kannte.
Dr. Johnson leget seine Hände auf die Lehne des letzten unbesetzten Stuhls und erklärte: Meine Herren, das ist Rafael Jardot, unser dritter Mann. Mr. Jardot, das sind Satoru Yunaka und Hank Aberdeen, Ihre Kollegen für die nächsten zwei Jahre.“
Der fernöstlich aussehende, schmächtige Mann, der von jedem nur San genannt wurde, grinste nun breit und lehnte sich zu Rafael herüber, um ihm die Hand zu schütteln. Dann bot er ihm eine Zigarette an und sagte mit seinem starken japanischen Akzent: „Das ist der letzte Tag in Freiheit, also genießen Sie die frische Luft.“
Rafael nahm die Zigarette dankbar an und wand sich dann an Dr. Johnson. „Können Sie mir jetzt verraten, was für eine Arbeit auf mich zukommt?“
„Ich denke, wir tun das, was San schon sagte und genießen den letzten Tag. Danach werde ich Sie gerne aufklären. Seien Sie unbesorgt, entspannen Sie sich.“ Dann hatte er auch schon den Stapel Karten in der Hand und verteilte sie an die Männer. Er setzte sich auf den Stuhl und lachte Rafael an.

Sie spielten bereits seit zwei Stunden und Rafael war kurz davor diese Runde zu gewinnen. Wenn es etwas gab, das er konnte, dann war es das Spiel mit den Karten. Er beherrschte fast jede mögliche Art des Kartenspiels. Als er noch ein Kind war, war es das einzige, womit der sich beschäftigen konnte.
Nachdem Rafael letztendlich die Runde gewonnen hatte, war seine Neugier bis zur Unerträglichkeit angestiegen. Seine Finger tippten unruhig auf die Tischplatte, der Blick war ständig auf Dr. Johnson gerichtet. Kurz bevor San die Karten austeilte, stellte Rafael ihm ein paar Fragen, um Informationen zu bekommen. Dr. Johnson antwortete nur knapp und irgendwann stand er auf. „Ich denke, ich werde Ihnen Ihren Arbeitsplatz zeigen. Sie werden es ohnehin nicht glauben, wenn ich es Ihnen nur erzähle. Kommen Sie mit.“ Er kehrte dem Tisch den Rücken zu und ging zwischen den Tischen hindurch auf eine der beiden Türen im hinteren Bereich zu. Hank und San folgte ihm stumm, wie zwei willenlose Sklaven. Doch auch sie hatte die Neugier gepackt, sie wollten sehen, wie der Unwissende reagieren würde.
Sie gingen zu der linken Tür, wo Dr. Johnson den Auftrag an Hank gab, sie zu öffnen. Knirschend und ächzend flog die Tür durch die rohe Kraft von Hank auf und gab eine riesige Maschine preis. Unschlüssig trat Rafael in den Raum, den Blick an die Spitze der Maschine gerichtet, die fast bis zur Decke reichte. Er konnte sich nicht vorstellen, wozu sie benutzt werden konnte.
An der Oberseite des länglichen Ungetüms hingen mehrere durchsichtige Schläuche, durch die eine rötliche Flüssigkeit lief. Unterhalb der Schläuche lief die Maschine spitz zu und kurz bevor die spiralförmige untere Spitze begann, gab es ein kleines Fenster, das in Rafaels Richtung deutete. Das Gerät, das an ein langes Stahlrohr erinnerte und einen mächtigen Durchmesser besaß, stand auf Stützen, die es am Fallen hinderten. Im mittleren Teil des runden Körpers war eine kleine Luke eingelassen, zu der eine dünne Strickleiter führte. Die Luke stand offen, Licht drang aus dem Inneren.
Mit dem größten Vergnügen standen San und Hank bei Rafael, um ihn über die besonderen Eigenschaften der Maschine aufzuklären. Zwischen den vielen fachlichen Wörtern hörte Rafael nur heraus, das die Maschine zum graben gebaut war. Mehr wollte er nicht hören, also ignorierte er sie. Mitten in einer Erklärung des Antriebs, unterbrach Dr. Johnson Hank, weil er merkte, dass es Rafael keineswegs interessierte. Er erklärte stolz und in Worten, die Rafael auch verstehen konnte: „Das ist die FOS-31, unsere neueste Erfindung. Sie gräbt sich innerhalb von drei Monaten 400 Kilometer weit in die Erdoberfläche hinein. Betrachten Sie die Maschine von Nahem, ich möchte, dass Sie sich mit ihr vertraut machen.“
Sprachlos und immer noch überwältigt von dem Anblick trat Rafael auf die FOS-31 zu. Dieses Ding, wie er es nannte, war zu unfassbar, er musste in seine Nähe, es berühren, um sich seiner Existenz wirklich bewusst zu werden. Beinahe taumelnd bewegte er sich darauf zu, die Augen immer weit nach oben gereckt, um die volle Größe zu erfassen. Hank lief neben ihm her, erzählte ihm noch einige Einzelheiten. Als sie beide davor standen, stieß Hank ihm seinen Ellbogen in die Rippen, das es ihn fast schmerzte, und sagte augenzwinkernd: „Du brauchst dir keine Hoffnungen machen, weil ich nämlich das Baby fahren darf.“
Unbeeindruckt entgegnete Rafael: „Nicht mal, wenn ich es könnte, würde ich dieses Ding in Bewegung setzen können.“ Doch da wusste er noch nicht, dass dieses Ding Hanks größter Stolz und sein wichtigstes Werk war. Er hütete sie wie einen Schatz und konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn jemand seinen Schatz ein Ding nannte. Er verlangte Anerkennung dafür.
Rafael ließ Hank, der nach den richtigen Worten suchte, um ihn zu ermahnen, stehen und stieg die lose Strickleiter hinauf. Oben angekommen kroch er durch die kleine Luke hinein. Nun stand er im Maschinenraum und war von Rohren und Anzeigetafeln. Durch eine weitere Luke an der Unterseite des halbhohen Raumes kam man in die Fahrerkabine, wo sich das einzige Fenster befand. Eine Luke an der Oberseite führte in einen kleinen Raum, der als Aufenthaltsraum und Schlafraum genutzt wurde.
Plötzlich stand San neben Rafael in dem engen Maschinenraum. Er blies ihm den Rauch entgegen und sagte: „Es ist sehr dienlich und eng, aber es die beste Bohrmaschine, die sie zurzeit bekommen können.“ Rafael sah ihn einen Moment lang an und stieg dann wortlos durch die Luke nach oben. San blieb im Maschinenraum stehen und rauchte seine Zigarette.
Im Aufenthaltsraum gab es einen kleinen Küchenbereich, die dem Verlauf der runden Maschine folgte und vor dem einen kleinen Teppich lag. Davor standen ein Tisch und drei Stühle, die allesamt am Boden festgemacht waren. Der Tisch wirkte alt, als wäre er schon einige Jahre alt. Auf der anderen Seite standen drei schmale Feldbetten, die ebenfalls am Boden verankert waren und ebenfalls sehr alt aussahen.
San und Hank kletterten in den Aufenthaltsraum und setzten sich auf die Stühle. Rafael begutachtete gerade die ramponierten Betten, kurz darauf drehte er sich zu den beiden um. „Die Betten sehen aus, als hättet ihr sie von der Müllhalde geklaut. Und darauf sollen wir schlafen?“ spottete Rafael. Damit hoffte er, die beiden zum Lachen zu bringen, um das Arbeitsklima gleich von Anfang an zu lockern. Aber sie sahen ihn nur schweigend an. Und dann platzte die Wut aus Hank heraus. Er sprang von seinem Stuhl auf, stampfte zu Rafael und richtete sich vor ihm zu seiner vollen Größe auf. Fordernd blickte er ihm in die Augen und begann zu schimpfen. „Es tut mir Leid, dass hier nicht alles mit Blumen dekoriert ist und wunderbar duftet! Das ist ein Arbeitsplatz und kein Spielplatz und zwar der Beste, den du jemals bekommen kannst!“ Rafael trat zwei Schritte zurück, aber nicht aus Hanks vor Hanks geballten Fäusten, sondern weil ständig kleine Speicheltropfen aus dem Mund von ihm schossen, wenn er sprach. Doch Hank wollte ihn nicht so schnell gehen lassen. Er trat wieder näher an Rafael heran und zeterte weiter. „Wir könnten schnell jemand anders für den Job bekommen, jemanden, der das zu schätzen weiß! Wir brauchen dich nicht! Von deinem Einsatz hängt nichts ab!“
Dr. Johnson kletterte in den Raum und trat mit langsamen Schritten auf Hank zu. Er versuchte ihn zu beruhigen indem er sagte: „Beruhigen Sie sich Mr. Aberdeen. Sie wissen doch selbst am Besten, wie schwer es ist, gutes Personal zu finden.“
Unbeeindruckt von der Aufregung blies San den Zigarettenrauch an die Decke und fügte zu Johnson Ausführung hinzu: „Es wäre besser, wenn Hank und ich uns schon schlafen legen und Sie dem Neuling die Arbeit erklären.“
Erleichtert atmete Dr. Johnson durch. „Genau. Das dürfte das Beste sein. Folgen Sie mir in mein Büro, Mr. Jardot.“ sagte er ruhig.
Rafael wich Hank aus und folgte Dr. Johnson mit einem erleichterten Gefühl im Magen in sein Büro. Als Rafael gegangen war, beruhigte sich Hank, wenn auch nur allmählich, und stieg in sein kleines Feldbett auf das er so stolz war.

Rafael setzte sich auf den Bürostuhl vor dem kleinen Schreibtisch in dem kleinen Büro. Dann horchte er aufmerksam, was Dr. Johnson zu sagen hatte. „Das, was sie gerade gesehen habe, ist die Zukunft, Mr. Jardot. Dieses Experiment hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Aber diese Maschine wird in die Geschichte eingehen und Sie sind einer der Auserwählten, die bei der ersten Fahrt dabei sein dürfen, ein wahrer Pionier.“ Er hielt inne und kramte einen bedruckten Zettel aus einer Schreibtischschublade. „Doch vorher müssen Sie nur dieses Papier unterzeichnen.“ Er reichte Rafael den Zettel und einen Stift. „Das sind nur die üblichen Sicherheitsvorkehrungen. Damit erklären Sie nur, dass sie niemals ein Wort über die Vorgänge auf diesem Gelände verlieren. Aber Sie können es sich natürlich durchlesen.“
Wortlos unterschrieb Rafael den Zettel und reichte ihn seinem Gegenüber. Er war verwundert, dass sich dieser Doktor plötzlich wie ein Vertreter gebärdete, als wolle er ihm einen Staubsauger verkaufen. Doch er vertiefte den Gedanken nicht weiter.
„Nachdem Ihre Arbeit beendet ist, werden sich unser aller Wege trennen: San wird nach Japan gehen, Hank kehrt in seine Heimat Großbritannien zurück und ich ziehe in die USA um. Sie werden in Frankreich bleiben und werden nie wieder eines der genannten Länder besuchen.“
„Ich war ohnehin noch nie im Ausland.“
Dr. Johnson nickte leicht, dann schreckte er auf, als hätte ihn jemand vor dem Einnicken bewahrt. „Bitte entschuldigen Sie all diese hohen Sicherheitsvorkehrungen, aber es ist nur zu Ihrem und zu unserem Schutz.“ Er sah erneut auf den Tisch, als suche er nach den richtigen Worten. „Es gibt einige militante Organisationen, die alles daran setzten würden ein solchen Projekt zum scheitern zu bringen.“
„Das verstehe ich, schließlich ist die WTE vor einigen Wochen wieder aktiv geworden. Die versuchen doch alles zum scheitern zu bringen.“
Dr. Johnson nickte erneut, aber dieses Mal mit mehr Zustimmung im Gesichtsausdruck. „Genau das habe ich gemeint.“ Er räusperte sich leicht und sein Gesicht wurde starr. „Nun möchte ich Sie nur noch darum bitten, diesen Brief an sich zu nehmen.“ Johnson überreichte ihm einen schneeweißen Briefumschlag. „Öffnen Sie ihn erst, wenn die FOS-31 ihr Ziel erreicht hat.“
Rafael nickte und verstaute den Brief in seiner Jackentasche.
„Sehr gut. Sie fahren um 18:00 Uhr ab, also schlafen Sie noch ein paar Stunden.“
Er sah verwundert zu Dr. Johnson auf. „Aber warum sollte ich dann schon so früh hier sein?“
Lachend stand Dr. Johnson von seinem Sessel auf und reichte Rafael die Hand. „Ich wollte nur testen, ob Se pünktlich sein können. Ansonsten hätte ich Ihnen den Job nicht gegeben.“ Immer noch lachend geleitete er Rafael aus dem Büro. Hinter sich hörte Rafael das Lachen verstummen und wie ein Schlüssel in dem Schloss der Tür herumgedreht wurde. Er wand sich nicht mehr um, er wollte nur noch schlafen.


Eine kühle Hand auf seinem Arm und ein leichtes Rütteln rissen Rafael aus einem tiefen Schlaf - es war San, wie immer mit einer Zigarette im Mundwinkel. Als er sicher war, dass Rafael wach war, fragte er lächelnd: „Hast du gut geschlafen, Jardot?“ Müde setzte er sich in dem kleinen Bett auf und sah sich schlaftrunken um. Er rieb sich durch das Gesicht und fragte: „Wie spät ist es?“ San war bereits zu dem Tisch gegangen und hatte sich eine weitere Zigarette angezündet nachdem die andere verloschen war. Von seinem Sitzplatz aus erwiderte er: „Es ist exakt 18:02 Uhr, Zeit zum Aufstehen.“ Rafael kroch aus der Bettenecke hervor und setzte sich neben San an den Tisch. „Seit wann bist du wach?“
„Seit exakt 17:00 Uhr.“
„Und wo ist Hank?“
Doch diese Frage erübrigte sich. Hank kletterte gerade die Leiter hinauf und polterte dann durch den Aufenthaltsraum. Er trampelte mit seinen breiten Plattfüßen auf San und Rafael zu und rief mit brüllend lauter Stimme: „Er ist auch endlich wach! Ich wusste sofort, dass er zu nichts zu gebrauchen ist!“ Kurz darauf senkte er seine von Natur aus laute Stimme und sagte in einem überraschend zivilisierten Ton: „Wir können jetzt fahren, also wer aussteigen will, sollte es jetzt machen.“ Während er sprach fixierten seine Augen Rafael, doch der wand sich nur unbeeindruckt ab. Nach dieser kurzen Pause während er Rafael unentwegt angestarrt hatte, kroch er wieder mit weit ausholenden Bewegungen die Leiter hinunter.
„Du solltest dir nicht so viele Gedanken über ihn machen.“ sagte San leise und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Er ist nun mal nur ein einfacher Mann, der gerne an irgendetwas herumschraubt. Sein Wort zählt nicht viel.“
Rafael nickte.
San nickte ebenfalls und wand sich wieder einem anderen Thema zu. „Während des ersten Eintritts in die Erde solltest du sitzen bleiben, weil das der holprigste Teil der Fahrt ist.
Kurz darauf setzte sich die riesige Maschine auch schon in Bewegung. Ein ohrenbetäubendes Hämmern und Klirren ertönte, alles schien zu vibrieren. San hielt den Aschenbecher fest, weil er ansonsten vom Tisch gefallen wäre. Als sich die Maschine langsam in die Erde schraubte wurde es sogar noch schlimmer, jeder an Bord fühlte sich als wäre er in ein Erdbeben geraten.
Hank blickte aus dem kleinen Fenster der Fahrerkabine und sah dort Dr. Johnson völlig regungslos stehen und schwerfällig winkte. Doch trotzdem verriet sein Gesicht, dass er sich freute, er freute sich wie ein kleines Kind über ein Bonbon, und das erfüllte Hank mit Stolz auf ihre Arbeit. Er hob seine mächtige Hand von dem Pult mit den vielen blickenden Knöpfen und winkte Dr. Johnson.
Die Fahrerkabine war nach der Spitze das Erste, was im Boden verschwand, wenig später war auch der hintere Teil, in dem San und Rafael saßen, vollends in der Erde verschwunden. Das einzige was sie hinterließen war ein großes, nach heißem Metall riechendes Loch im Erdboden.
 
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März 2012: Langeweile


Der Geruch von Motoröl stieg Rafael in die Nase und erinnerte ihn wieder daran wo er sich befand. Langsam schlug er die Augen auf und sah sich in dem Aufenthaltsraum um. Er hatte keine Ahnung woher der Geruch kam, doch er hinderte ihn an einem geruhsamen Schlaf. Dabei schlief er am Anfang noch viel zu viel, manchmal verschlief er sogar den ganzen Tag. Aber er konnte sich nicht beschweren, schließlich bekam er für sein bloßes Nichtstun viel Geld. Doch seit einem Monat saß er schon in diesem Raum, und allmählich begann er sich zu langweilen. Und die Zeit die er mit Schlafen verbrachte wurde immer kürzer, mittlerweile schlief er nur noch notgedrungen.
Nachdem Rafael aufgestanden war, blieb er vor dem Bett stehen und sah sich ein weiteres Mal in dem Raum um. Er ging nur die paar Schritte zum Stuhl und ließ sich dann müde auf ihn niederfallen. Unter sich hörte er, wie San versuchte ein Rohr zu stopfen, das ewig leckte. Es war so etwas wie eine Vollzeitbeschäftigung für San, auf dieses Rohr aufzupassen. Kurz darauf stapfte er in den Aufenthaltsraum und ließ sich neben Rafael auf den Stuhl fallen. Rafael schob die Zigarettenschachtel zu San, denn er wusste, dass San jetzt eine brauchte. Sein Gesicht war mit schwarzen Flecken übersäht und er schwitzte stark. San nahm sich eine Zigarette und sagte höflich: „Vielen Dank.“
„Hast du das Rohr endlich dicht gemacht?“ fragte Rafael neugierig. Dabei interessierte ihn das Schicksal des Rohrs wenig, er wollte nur jemanden zum reden haben.
„Ich versuche es jedes Mal, aber andauernd fängt es wieder an zu tropfen. Verdammte Angelegenheit!“
„Warum versuchst du es nicht mal zu schweißen.“ schlug Rafael vor.
San drückte schnell seine Zigarette auf dem Tisch aus und ging zum Werkzeugschrank. Doch bevor er wieder durch die Luke verschwand, drehte er sich um und sagte genervt: „Sag mir nicht wie ich meinen Job machen soll, ich mach das doch auch nicht. Aber du hast doch nichts zu tun, dann könntest du hier aufräumen.“ Er hasste es, wenn ihm jemand, der keine Erfahrung in solchen Dingen hatte, sagte was er machen soll. Da konnte auch so ein ruhiger und ausgeglichener Mensch wie San, wütend werden. Aber es war wirklich ein wenig dreckig, das bemerkte auch Rafael. Also nahm er sich den Besen und fegte die Küche und die Ecke für die Betten aus. Danach wollte er die Betten in Ordnung bringen. Als er Sans Kissen anhob, fiel ein Foto aus dem Kisseninneren. Rafael hob es auf und wollte es sofort zurückstecken, aber seine Neugier ließ ihn ein Blick darauf werfen. Es zeigte San vor dem Eifelturm, neben ihm stand ein kleines Mädchen und grinste breit in die Kamera. Ihre Hände waren fest um einen kleinen roten Ball geklammert.
Rafael bemerkte zu spät, dass sich San von hinten genähert hatte und wurde völlig überrascht, als er ihm das Foto aus der Hand riss. Sogleich versuchte Rafael sich zu entschuldigen, aber San war keinesfalls wütend, er lächelte nur leicht und sah das Foto an. „Das kleine Mädchen ist Maria, meine Tochter. Sie war so liebeswert.“
„Was ist mit ihr passiert?“
„Sie hat Schande über die Familie gebracht, darum bin ich aus Japan geflohen. Ich bin letztes Jahr einfach aus Japan abgeflogen. Aber ich habe beschlossen, dass ich mich sobald ich wieder oben bin, mit ihr versöhne, damit wir eine glückliche Familie werden können.“ Er atmete durch. „Hast du Familie, Jardot?“ San stopfte das Foto schnell zurück in das Kissen und riss es Rafael aus der Hand, um es auf seinen Platz zu legen.
„Meine Familie ist tot.“
„Sie sind alle tot?“ fragte San ungläubig. Er stellte sich unter einer französischen Familie eine große Gemeinde aus mindestens 20 Personen vor, die fröhlich in ihren Weinbergen lebten.
„Ja, zuletzt starben meine Adoptiveltern als ich 19 Jahre alt war.“
„Was ist mit deinen anderen Verwandten?“
„Wir sollten jetzt wirklich nicht darüber reden. Hast du das Rohr zugeschweißt?“
„Das Leck ist jetzt endgültig dicht. Vielen Dank für den Tipp.“
San ließ sich auf den Stuhl fallen und rauchte eine Zigarette, so wie er es immer tat wenn er eine Arbeit erledigt hatte. Einfach nur dasitzen und sich über nichts Gedanken machen.
 

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Mai 2012: Bitte kein Blut!

Knirschend kam die FOS-31 nach einigen, letzten Bewegungen zum Stehen und verankerte ihre kräftigen Arme in dem harten Grund. Sie waren nun einhundert Kilometer tief in die Erde eingedrungen und befanden sich inmitten einer starken Gesteinsschicht.
Hank griff nach dem kleinen Mikrofon, das über seinem Steuerpult stand und brüllte hinein: „Wir sind Angekommen! Ihr könnt mit der Arbeit anfangen!“ Seine Stimme klang ohnehin schrecklich, aber durch das Mikrofon wurde sie nochmals widerlich und grotesk verzerrt und klang unwirklich. San und Rafael hielten sich jedes Mal die Ohren zu, wenn er dadurch zu ihnen sprach, doch selbst dann dröhnte ihnen seine Stimme noch in den Ohren.
San nahm sein Messer, welches er immer am rechten Fußgelenk trug, verdeckt von seiner Socke, und schnitt seinen Briefumschlag auf. Währenddessen saß Rafael auf seinem Feldbett und war bereits dabei seinen Brief zu lesen. In einer schönen und klaren Handschrift stand dort geschrieben: Sehr geehrter Mr. Jardot, ich habe großes Vertrauen in Sie und war mir schon bei unseren ersten Begegnung sicher, dass Sie genau der richtige Mann für diese Art von Arbeit sind. Sie erschienen mir sehr loyal und das gefällt mir an einem Menschen. Doch nun erkläre ich Ihre Aufträge. Unter Ihrem Bett befinden sich zwei Behälter, die jeweils mit einem A, beziehungsweise einem B gekennzeichnet sind. In den Behälter, der mit dem A gekennzeichnet ist, füllen Sie bitte eine Probe der Bodenschicht, die Sie dort unten vorfinden. Die benötigte Gerätschaft steht im Werkzeugschrank im Maschinenraum. Fragen Sie Mr. Kim, wenn Sie nicht wissen welche Geräte Sie benutzen sollen.
In dem kleineren Behälter, der mit dem B gekennzeichnet ist, hinterlassen Sie bitte eine Probe Ihres Bluts. Danach übergeben Sie beide Behälter an Mr. Kim und erfüllen seine weiteren Anweisungen. Ab diesem Zeitpunkt werden Sie nur noch Aufträge von Mr. Kim erhalten.
Bevor Sie Ihren Kollegen unnötige Fragen stellen, möchte ich jetzt die wichtigsten Fragen beantworten: Die Blutprobe ist notwendig, damit Mr. Kim Ihre Identität überprüfen kann. Das ist nur eine der üblichen Sicherheitsvorkehrungen, da es bei vergangenen Arbeiten häufiger zu Störfällen kam wegen Mitgliedern einer militanten Organisation, die sich selbst die WTE nennt.
Nun kommen ich zu dem Plan für den wir die gesammelte Bodenschicht dringend benötigen, das worum sich die ganze Arbeit dreht. Jedem Menschen ist bewusst, dass die Welt am Abgrund steht. Unsere Ozonschicht ist bereits massiv zerstört, die Wälder werden immer weiter abgeholzt und Kriege zerstören alles, was den Menschen noch an materiellen Gütern geblieben ist. Es ist eine dunkle Zeit, aber es gibt Hoffnung. Sämtliche regierenden Persönlichkeiten der Welt sind sich dessen bewusst und haben in gemeinsamer Arbeit einen Plan entwickelt, den „Plan Beta 1“. Ich höchstpersönlich wurde damit beauftragt einen Hohlraum unter die Erdoberfläche zu schlagen. Nach seiner Fertigstellung soll er Platz für 100.000 Menschen und 150.000 Tiere geben. Bevor der Hohlraum nicht mehr ausreichen würde, könnte man ihn beliebig erweitern. Auch wurde bereits eine genetisch veränderte Baumart entwickelt, dessen Wachstum ernorm ist. Sie werden die Menschen mit lebensnotwendigem Sauerstoff versorgen, bevor die zuvor angelegten Reserven zu Ende gingen. Nun liegt es an Ihnen, die Bodenschicht zu sammeln, damit wir sie überprüfen können. Dann wissen wir, ob wir die Bäume direkt in den Boden pflanzen können. Nun verstehen Sie hoffentlich, dass Ihre Arbeit sehr wichtig ist.
Dieser Plan wäre innerhalb von zehn Jahren realisierbar. Bis dahin gibt es eine Liste auf der die 100.000 Menschen vermerkt werden, die mit in das neue Reich dürfen. Ich selbst, als führender Forscher, darf außer mir noch sieben weitere Personen auf die Liste setzen. Wenn Sie Ihre Arbeit erledigen, dürfen Sie zusammen mit einer Begleitperson in die saubere Stadt ziehen. Bis dahin verabschiede ich mich von Ihnen.
Rafael legte den Brief wieder in den Umschlag. Er konnte nur schwerlich davon aufblicken, irgendwo zwischen militanten Organisationen und genetisch veränderten Bäumen war er verloren. Natürlich wusste er, dass die Welt nur noch ein einziger Müllberg war, aber war das wirklich die einzige Lösung, die ihnen noch blieb, fragte er sich in Gedanken. Er wusste es nicht, er war auch viel zu müde, um darüber nachzudenken. Das einzige, was er wusste war, dass sein Wille zu überleben größer war als der Drang nach Gerechtigkeit für alle. Wer wusste denn überhaupt noch, was Gerechtigkeit war in diesen Zeiten. Das war ein Wort hinter dem sich Verbrecher und die Oberschicht versteckten, um nicht von anderen belangt zu werden. Rafael war es egal. Er wollte leben, er wollte nicht mehr in der Unterschicht, bei dem Proletariat, vermodern und wenn er die Chance dazu bekam, wollte er sie nutzen, auch wenn Massen sterben mussten.
„Stehst du auch auf der Liste?“ fragte er San, der immer noch seine Aufträge durchsah.
Er antwortete ohne von dem Stück Papier aufzublicken. „Maria und ich stehen schon lange auf der Liste. Sonst hätte ich das hier doch nie mitgemacht. Lass mich nicht zu lange mit den Proben warten.“
Rafael nickte.

Mit dem Behälter in der einen Hand und einer einfachen Spitzhacke in der ging Rafael durch den Maschinenraum. Er stieg über einige Werkzeuge, die San achtlos hatte liegen lassen und kam zu der Luke. Er stellte den Behälter daneben ab. San hatte ihm vorher gesagt, dass er die Luke nicht lange offen stehen lassen sollte, weil auch er nicht wusste, was ihn dort draußen erwartete. Rafael legte eine Hand auf den Griff und zog daran. Zuerst ließ sich die Luke nur schwerlich öffnen. Er brauchte einige Zeit, bis der Hebel endlich nach unten sprang und er sie aufschieben konnte. Als sie offen war, zog ein eiskalter Luftzug durch den Maschinenraum. Die Kälte ließ Rafael erzittern. Solch eine bittere Kälte hätte er nicht erwartet und war deshalb zunächst überrascht. Er kniff seine Augen zusammen, der schneidende Wind brachte sie zum Tränen.
Vor ihm war eine massive, düstere Schicht aus festem Gestein. Er befühlte die Oberfläche mit seiner Hand, sie war sogar noch härter, als er erwartet hatte. Ein weiterer Luftzug stieß von oben auf ihn herab. Nun beeilte er sich. Er nahm die Spitzhacke und schlug einmal kräftig in die dunkle Schicht. Er bekam nur eine handvoll von dem Gestein zu fassen, doch das reichte ihm völlig. Schnell warf er den Klumpen in den Behälter und verschloss ihn. Dann riss er die Luke auch schon wieder zu. Zitternd und mit tiefroten Händen stand er in dem Maschinenraum. Er atmete schwer, als wäre er gerade gerannt. Er musste sich hinsetzen. Die Hände waren kalt, also rieb er sie aneinander. Doch als er das tat, verrieb er nur etwas Flüssiges auf seinen Händen, das noch roter war, als seine verfrorenen Hände. Langsam löste er die Hände voneinander und entdeckte eine tiefe Risswunde an seiner linken Handfläche. Sein Blick verschwamm allmählich. Ausgerechnet Blut. Seit seiner Jugend endete der bloße Anblick von kleinen Mengen bei ihm in einer Ohnmacht. Aber er konnte den Blick nicht mehr von seiner blutigen Hand abwenden. Der Schmerz war im ganzen Arm zu spüren, ein paar Tropfen fielen auf den Boden. Endlich hob er den Kopf von dem Anblick, aber der Raum begann sich zu drehen. Er versuchte nach etwas zu greifen, um halt zu gewinnen, aber tastete nur im Leeren. Sein Körper sackte zur Seite und er blieb bewusstlos liegen.

Das Klatschen des Schlages hörte Rafael, doch er fühlte keinen Schmerz. Er erlangte sein Bewusstsein zurück und blickte in das breit grinsende Gesicht von Hank. Freudig stand Hank da, die Arme verschränkt, und rief: „Wie ich sehe hast du ein kleines Nickerchen gemacht. Ich habe dich beobachtet, du kannst wohl kein Blut sehen.“
„Nein…ich…habe mir den Kopf gestoßen.“ erwiderte Rafael benommen und stand schwankend auf. Er wankte so schnell es ging zu der Leiter, bloß weg von Hank. Als er die Leiter mühsam hoch krabbelte, begann Hank laut und voller Häme zu lachen. Selbst als er sich neben San an den Tisch setzte, dröhnte das Lachen noch von zu ihm hoch. Und sogar San musste mit sich kämpfen, um nicht in ein schallendes Gelächter auszubrechen. Sie waren eben schon lange da eingesperrt und mittlerweile konnten sie über alles lachen, auch wenn es die größten Nichtigkeiten waren. Normalerweise lachte Rafael auch, aber dieses Problem war ihm äußerst ernst.
San sah Rafael mit seinen schmalen Augen an und hielt sich die Hand vor seinen Mund.
„Anscheinend habt ihr viel Spaß auf meine Kosten.“ sagte Rafael ernst.
„Es ist doch nicht schlimm, dass du Angst vor Blut hast. Vielleicht sollte ich dir bei deiner Blutprobe helfen.“ erwiderte San und brach nun vollends in lautes Gelächter aus.
„Ich habe mir nur den Kopf gestoßen. Diese Blutprobe ist kein Problem für mich.“
Rafael griff nach Sans Messer, das immer noch auf dem Tisch gelegen hatte, und schnitt sich in den Handrücken. Dann zeigte er San die Wunde.
San, der von dieser Aktion schockiert war, sprang auf und riss Rafael das Messer aus der Hand. „Das war doch nur Spaß. Du hättest das nicht tun müssen.“
In demselben Moment fielen Rafael die Augen zu und er sank in den Stuhl.
 

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Oktober 2012: Dein Gehirn auf meinem Hemd

Großer Schmerz in Rafaels Armen, ein stetiges Hämmern im Kopf. Er versuchte, sich vom Boden zu erheben, doch er sackte zusammen, als er sich auf seine Arme stützen wollte. Am Boden liegend sah er sich seinen schmerzenden Körper an: die Seite auf der er lag war mit tiefen Druckstellen von den Gittern auf dem Boden des Maschinenraums übersäht, an seinen Händen war getrocknetes Blut. Langsam hob er einen Arm und befühlte seinen trockenen Hals. Er spürte eine Unebenheit der Haut, scheinbar eine Narbe, quer über seinen Kehlkopf. Zudem fühlte sich seine Kehle so an, als hätte er seit Tagen nichts mehr getrunken. Sein Magen knurrte, aber das kümmerte ihn wenig.
Er dachte, dass das wieder ein Scherz von Hank und San war, ihn einfach dorthin zu legen und da zu lassen - ihnen würde er das zutrauen. Aber er traute ihnen nicht zu, ihm in den Hals zu schneiden, das wäre mehr als nur ein einfacher Streich gewesen.
Mit weitaus weniger Kraftaufwand als er erwartet hätte, konnte sich Rafael aufsetzen, mit dem Rücken an der Luke. Aber er brauchte zehn weitere Minuten, um auf die Füße zu kommen, zur Leiter zu wanken und sich hinauf zu ziehen. Im Aufenthaltsraum fiel er gleich wieder zu Boden. Ein widerlich verfaulter Geruch warf ihn zu Boden. Sein blutiges Hemd diente als Schutz vor dem Geruch, was aber nur mäßig half. Er wollte sich wieder aufrichten, doch da sah er das Chaos in dem Aufenthaltsraum. Die Stühle waren aus ihren Verankerungen gerissen und der Tisch lag in einer dunklen Ecke, die man dank einiger ausgeschlagener Glühbirnen nicht einsehen konnte. Die Betten waren wie ein Wall angeordnet, die Kissen jedoch aufgerissen. Federn wurden von dem Lüftungssystem durch den Raum geweht. Plötzlich hörte Rafael ein leises Stöhnen. Nun stieg die Angst in ihm auf. Natürlich versuchte er, die Ruhe zu bewahren und sich an das zu erinnern, was ihm sein Vater ständig gesagt hatte. Er hatte ihm eingeschärft, in welcher Situation er sich auch befand, immer die Augen offen zu halten und auf alles vorbereitet zu sein. Rafael versuchte, den Ratschlag zu befolgen, doch auf seine Sinne konnte er nicht mehr vertrauen, sie drehten allesamt durch. Das schummrige Licht beeinträchtigte seinen Blick, die lärmenden Geräusche aus dem Maschinenraum störten sein Gehör, der bestialische Geruch trieb in fast in den Wahnsinn.
„San, bist du es?“ Die Worte kamen nur schwerlich über seine Lippen. Das Stöhnen nahm an Intensität zu. Jemand saß hinter dem Bettenwall.
Rafael nahm die letzten Reste seines Mutes zusammen und trat langsam auf den Bettenwall zu. Er sah hinüber und erblickte eine traurige Gestalt. San saß zusammen gekrümmt in der kleinen Ecke hinter den Betten, die Augen weit aufgerissen, einen Revolver in der Hand. Er atmete schwer, es wurde sogar noch heftiger, als er Rafael sah. Rafaels Blick wanderte auf Sans Hand, die fest auf seine blutende Brust gedrückt hatte.
Nachdem er die Betten zur Seite geschoben hatte, saß Rafael vor San. Er wollte ihm helfen, aber er konnte nur neben dem gekrümmten Mann knien und dabei zusehen, wie er litt.
„Was ist passiert?“ fragte Rafael. Aber es kam kein Wort aus dem Mund des sonst so redegewandten San, nur ein leises Fiepen. „Wer war das?“ Rafaels Hände begannen zu zittern, als er das demolierte Gesicht von San sah, das er nun langsam zum Licht wand. Die Spitze seiner Nase fehlte, stattdessen befanden sich dort nur noch zwei große Löcher, die umgeben waren von einer glänzenden Schicht. Sein Kiefer sah aus als wäre er gebrochen, übersäht mit dunklen Flecken und verkrusteten Schnitte.
Behutsam und äußerst unsicher hob Rafael seinen Kopf an und hatte sogleich einen Büschel Haare, die nur noch lose auf seinem Kopf gelegen hatten, in der Hand. „Wo ist Hank?“ fragte Rafael, nachdem er seinen Kopf wieder losgelassen hatte. Er stellte ihm viele Fragen, doch nicht eine wurde beantwortet.
San schloss sein linkes Auge und starrte Rafael mit dem anderen an. Plötzlich hielt er die Luft an. Dann innerhalb von wenigen Sekunden schob er sich den Revolver in den Mund und drückte ab. Rafael gelang es nur noch seinen Kopf zur Seite abzuwenden, um das Blut und die Reste von Sans Gehirn nicht sehen zu müssen, die nun langsam sein Hemd herunter liefen. Er stand auf und einige letzte Reste fielen von seinem Hemd. Seine Augen waren starr auf den Revolver gerichtet, der schlaff in der Hand lag.
Mit geschlossenen Augen fingerte Rafael nach dem Revolver und nach dem kleinen Foto, das San in seiner Brusttasche aufbewahrt hatte. Er hatte mit seiner Tochter ein neues Leben anfangen wollen, alles wiedergutmachen wollen, und nun hatte er sich selbst das Hirn aus dem Kopf geschossen. Das ergab keinen Sinn. Warum war er so zugerichtet worden? Warum wollte ihn jemand leiden sehen? Er musste seinen ihr die traurige Nachricht persönlich überbringen. Ein seltsames Gefühl überkam Rafael, er übergab sich neben die Betten.
Als er sich erholt hatte, begab er sich auf die Suche nach Hank. Aber er fand ihn bald. Hank lag mit einem ebenso geschundenen Körper und einem eingeschlagenen Schädel unter dem Tisch. Die Augen waren herausgerissen, sie hingen nur noch an einem roten dünnen Faden und starrte zu Boden. Rafael übergab sich ein weiteres Mal.
Rafael fühlte seinen Körper und seine gesamten Gefühle verrückt spielen. Es war ein Wunder, das er für einen kurzen Moment einen klaren Kopf bewahren konnte, um sich die Lebensmittel und Getränke aus der großen Vorratskiste zu holen und wenig später damit in der Fahrerkabine einzusperren. Den Revolver trug er, wie San, immer in einer Hand.
Er wusste, dass es nur eine logische Antwort für all das Übel geben konnte: die WTE waren dort. Vielleicht war San sogar einer von ihnen oder Hank. Er kannte die Weißen Tauben im Exil, sie waren zu allem fähig und äußerst grausam. Ein Rebellentrupp gespickt mit früheren Mitgliedern der Fremdenlegion und verschiedener internationaler Geheimdienste, die jeden töteten, der nicht ihre Meinung vertrat. Und nach ihrer Meinung war die Demokratie ein Fluch, genauso wie der technische Fortschritt. Diese Killertruppe hatte schon mehrere Politiker auf dem Gewissen, obwohl kaum einer ihre wirkliche Meinung kannte. Die Meinung der WTE konnte sich mitunter rasend schnell ändern.
Niemand anderes als diese verrückten Rebellen hatten die Möglichkeit und das Motiv gehabt, um San und Hank zu töten. Aus diesem Grund schloss sich Rafael in der Fahrerkabine ein, aus diesem Grund hielt er den Revolver in der Hand, aus diesem Grund fühlte er sich dem Tod so nah.
Rafael wollte nur die Maschine zum Laufen bringen, schnellstmöglich nach oben - weiter dachte er in dem Moment nicht, weiter konnte er nicht denken, obwohl er alles durchging. Die Vorräte würden für ungefähr drei Monate ausreichen, genauso lange wie es dauern würde, um die nach oben zu kommen.
Er drückte den Revolver nah an seinen Körper. Notfalls würde er um sein Leben kämpfen, die Mission kümmerte ihn nicht mehr. Plötzlich spürte er nichts mehr, weder die angeschwollenen Hände oder sein sich vor Hunger krümmender Magen. Er wollte nur noch schlafen. Bevor ihm die Augen zufielen, tastete er willkürlich nach der Tastatur vor ihm. Schwächlich tippte er auf den Knöpfen herum, drückte mal einen großen Knopf, mal einen kleinen, mal einen roten, mal einen grünen Knopf. Irgendwann begann die Maschine zu vibrieren. Er wusste nicht, ob sich die Maschine jetzt bewegte oder ob sie gleich explodierte. Ihm fielen die Augen zu.

...yay...das letzte Einführungskapitel...jetzt geht es richtig los...
 
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