Kapitel 1:
Das würde mal wieder einer dieser Tage werden, die sich so anfühlten als würden sie niemals enden. Das wusste ich schon als ich aufwachte. Die Durchsage der Obrigkeit kam durch den Lautsprecher neben mir und weckte mich unsanft aus meinem tiefen Schlaf. Jeden Tag kam diese Durchsage mit derselben Lautstärke aus dem Lautsprecher.
Wie an jedem anderen Morgen auch hörte ich diesen monotonen Satz, der fortlaufend wiederholt wurde, und das eine Viertelstunde lang. Es klang kaum noch wie die Worte eines Mensches, viel eher wie die metallenen Laute einer Maschine. „Jeder Morgen ist ein guter Morgen.“ rief sie mir durch den Lautsprecher zu. Ich fragte mich an jedem Morgen wieder, was an ihm so gut sein sollte. Ich kam zu dem Entschluss, dass sie mich anlogen. Ein Morgen konnte nicht gut sein, so viel war klar.
Das erste was ich tat als ich aufwachte, war natürlich die Augen öffnen, aber danach streckte ich meine Hand aus und taste müde nach einer Zigarette. Als ich sie dann endlich gefunden hatte zündete ich sie an und nahm einen tiefen Zug. Das erste was meine Lunge am Morgen bekam, war also nicht der Duft des noch jungen Tages, sondern die harte Realität einer Zigarette. Der Rauch füllt meine Lungen und mit einem müden Seufzer entließ ich den blauen Dunst. Danach stehe ich von meiner blauen Pritsche mit den aufgenähten weißen Punkten auf und strecke mich. An so einem guten Morgen wird jede Bewegung zur Qual. Am liebsten würde ich den ganzen Tag in dem ungemütlichen Bett liegen bleiben, eine Zigarette nach der anderen rauchen und dabei zusehen, wie ich langsam sterben würde. Aber leider musste ich zur Arbeit.
Ich senkte meine Arme wieder aus ihrer gestreckten Position und sehe mir die spärliche Bettwäsche an. Die Matratze die auf dem Boden liegt ist ungefähr so gemütlich wie ein Stein und die Decke ist nicht mal so lang, dass sie meine Füße bedeckt. Doch das war die Standardausrüstung für einen Arbeiter mit meinem niedrigen Dienstgrad, deswegen konnte ich mich nicht beschweren.
Langsam löse ich mich von dem jämmerlichen Anblick meiner Schlafstätte und mache mich daran meine Sachen überzuziehen. Ich muss sie an jedem Abend vor dem schlafen gehen waschen, damit ich sie am nächsten Tag wieder anziehen kann. Für mehr als die paar Sachen reichte das Geld leider nicht. Wenigstens ist es nachts nicht so warm, wenn ich ohne Kleidung schlafe. Ich ziehe meine dunkle Jeans an und schließe den Reißverschluss, dann streife ich mein weißes T-Shirt über und zum Schluss ziehe ich meine schwarze Jacke an. Diese Jacke mit dem kleinen Loch am Rücken und der großen Kapuze besitze ich nun schon seit 20 Jahren. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie mein Vater mir diese Jacke an meinem Geburtstag geschenkt hatte. Sie war sein Ein und Alles und dass er sie mir schenkte, war das größte Glück in meinem leidigen Leben. Einen Tag später wurde er von den Anderen getötet, einfach ausgelöscht. Deswegen bin ich auch hier gelandet, ich wollte als Kind eigentlich einen Job in der Obrigkeit und jetzt sitze ich auf diesem Posten fest, keinen Anreiz weiter zu machen. Ich habe mich damit abgefunden, dass man dem einfachen Mann nicht helfen kann, weil er keine Hilfe will. All diese kindlichen Vorsätze sind verschwunden und haben ganz langsam Platz gemacht für die Wahrheit. Es ist eine harte Wahrheit, aber ich muss mich damit abfinden. So lebe ich jeden Tag, ohne das Verlangen nach Gerechtigkeit, dass man bei meinem Job eigentlich haben sollte.
Nachdem ich einen letzten Blick auf die Unordnung in meinem Bett geworfen hatte, steckte ich mir die Zigarettenschachtel in die Brusttasche meiner Jacke und öffne die rostige Eisentür. In dem weißen Korridor scheinen die grellen Neonlampen und bringen meine Augen fast zum Tränen. Genau wie bei den Lautsprecher konnte man die Intensität der Lampen nicht ändern, sodass ich jeden Morgen in diese grelle und sterile Welt eintrat und mich jedes Mal wie ein Fremder fühlte. Der Korridor war das vollkommene Gegenteil zu meinem kleinen Raum. Aber ich dachte mir, dass es vielen so ging, denn die Zimmer links und rechts von meinem sahen alle identisch aus. Gleichheit um die Gerechtigkeit zu wahren, hieß es von der Obrigkeit immer.
Ich setzte einen Fuß aus der Tür und bleibe vor der kleinen weiß schimmernden Bank die meinem Raum gegenüber liegt stehen. Der Mann der auf der Bank sitzt muss leicht lachen und während er lacht sagt er: „Du siehst müde aus, Jack.“ Jetzt, da sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt haben, erkenne ich den Mann besser, es ist Vargo, er ist sozusagen mein Freund. Eigentlich habe ich keine Lust und keine Zeit für Freunde, aber Vargo ist jeden Tag wieder da und bedrängt mich mit seiner Anwesenheit, also sollte ich ihn meinen Freund nennen. „Bist du bereit für das morgendliche Treffen?“ fragt er mich und ich nicke nur leicht. Ich weiß ganz genau, dass ich ihn jeden Morgen anlüge, wenn ich notgedrungen nicke, aber ich belüge sogar mich selbst. Vargo richtete sich zu seiner vollen Größe auf - selbst dann war er noch einen Kopf kleiner als ich - und lächelt mir ins Gesicht. Ich frage mich, wie er jeden Morgen so gut gelaunt sein kann. Er richtete seine braune Krawatte und schreitet voran den Gang entlang und ich folge ihm schweren Schrittes. Wir gehen eine breite weiße Treppe herunter, direkt in die Menschenmenge der wartenden Leute. Sie warten darauf, dass sich das Tor vor ihnen öffnet und sie in das kleine Theater gehen können, in dem der morgendliche Bericht und die Arbeitsverteilung stattfinden, wer da zu spät kommt, bekommt nur noch die miesen Arbeiten. Ich bin einmal zu spät gekommen, danach nie wieder.
Vargo tippt mir ungeduldig auf die Schulter, bis ich mich endlich zu ihm umdrehe und frage was er hat. Er deutete auf ein Fenster vor dem einer der Obrigkeit mit einer neuen Angestellten stand, er wies sie gerade ein. Ich wunderte mich über sie, weil sie noch sehr jung war, höchstens 22. Normalerweise stellte die Obrigkeit nur Leute ein die Erfahrung hatte, aber dann fiel mir wieder ein, dass sie auch häufig welche einstellte die das nötige Kleingeld mitbrachten. Meistens verstanden diese Leute, die uns dann sponserten, unsere Arbeit als einen kleinen Urlaub oder als Abenteuer. Ich musste schon mal mit so einem reichen Mistkerl zusammenarbeiten, bis ich ihm bei einem Unfall den Arm brach. Das war dann das Ende seines munteren Ausflugs. Vargo, der nun neben mir stand, flüsterte mir ins Ohr: „Hoffentlich kann ich mit ihr zusammenarbeiten, ich könnte ich ein paar Handgriffe zeigen die sie sonst nicht lernen würde.“ Ich ignorierte seine Anspielung und sah den beiden weiter zu. So wie sie sich gab, wirkte sie keinesfalls wie ein so genannter ‚Arbeitstourist’, sie hatte denselben Ausdruck in ihren Augen wie ich, als ich hier anfing. Sie wollte wirklich hier arbeiten, mit Leib und Seele, auch wenn sie beides dafür verschenken musste. Vargo bemerkte nur eins, er sagte: „Sie ist wirklich attraktiv.“ Dabei nahm er seine dicke Brille ab und machte sie an seinem blauen Pullover sauber. Obwohl ich seine weiteren Anspielungen, die danach noch folgten, ziemlich abstoßend fand, konnte ich mich nicht dem Eindruck erwehren, dass sie äußerst gut aussah. Ihre schwarzen Haare, die ihre nicht ganz bis zu den Schultern gingen, schimmerten in dem aufkommenden Licht der Sonne leicht gräulich und ihr junges reines Gesicht zeugte davon, dass sie in ihrem Leben noch nicht viel Schmerz erlitten haben musste. Die Massen drängen mich nun allmählich in das nun geöffnete Theater, aber ich kann noch einen letzten Blick von ihrem Gesicht erhaschen. Sie dreht sich zusammen mit dem Mann der Obrigkeit zu dem Theater herum und blickt direkt mit ihren blauen Augen in meine braunen, von Verbitterung gepeinigten Augen, dann verschwinde ich gänzlich im Theater und verliere sie aus den Augen. Ich wusste nicht, wie sie reagiert hatte auf diese dunklen Augen, die sie aus einem grauen Brei von Menschen ansahen, dazu reichte der Augenblick nicht lang genug.
Langsam verbanne ich die Frau in die hinterste Ecke meines Kopfes und setzte mich auf einen der vielen braunen Sitze. Früher, als ich hier mit 16 Jahren anfing zu arbeiten, waren die Sitze gerade neu bespannt worden und damals schimmerten sie noch rötlich. Als mir das Wort ‚damals’ in den Sinn kam, fühlte ich mich auf einmal so alt, trotz meiner 30 Jahre. Aber da kam mir auch wieder der Gedanke an den Satz von Vargo: „Man fühlt sich morgens immer alt.“ Das war eine der Moment, in denen ich ihm zustimmen konnte, aber das kam nicht oft vor. Wir beide waren einfach viel zu verschieden um wirklich einmal dieselbe Meinung zu haben, deswegen arbeitete ich auch nie mit ihm zusammen. Mein Partner bei der Arbeit saß nun neben mir in dem Theater. Er wurde von allen immer nur J.O. genannt, seinen richtigen Namen wollte ich auch nie erfahren. J.O. war eine rundliche und glückliche Person, aus seiner Sicht waren die anderen Menschen mager und er war genau richtig. Aber nicht nur Fett hatte er viel, er besaß auch ein sehr großes Selbstbewusstsein. Er sagte immer, dass er an seinem ganzen Körper kein einziges Haar besaß und ich erinnere mich noch daran wie er einmal sagte, dass er seit seiner Geburt schon ohne ein einziges Haar lebt.
Wie in einem Zeitraffer erleuchtet sich das Theater nur ganz langsam bis schließlich der ganze Raum erhellt ist und ich wieder mit den Lichtverhältnissen kämpfen muss. Das belustigt J.O. jeden Morgen und er lacht jedes Mal laut los, sodass sich die anderen Menschen zu ihm umdrehten, um zu sehen woher das belästigend laute Gelächter kam. Doch dann herrschte vollkommene Stille, kein Geraune von den vorderen Sitzen, kein lärmendes Lachen von J.O, einfach nur Stille. Die Lichter unterhalb der großen Bühne fingen an zu leuchten und ein älterer Mann mit einem schweren Umhang trat hervor. Er hob seine Hände als wolle er, dass es noch ruhiger im Theater wurde und begann zu sprechen. Seine Stimme war laut und durchdringend und sie erfüllte den gesamten Raum. „Wir beginnen nun mit der Arbeitsverteilung, aber vorher möchte unser Rechtsbeamter ein paar Worte sagen!“ Der ältere Mann trat wieder zurück und ein magerer Mann in den Vierzigern trat aus der dunklen Ecke der Bühne hervor um zur Menge zu sprechen. Er trug einen dunkelblauen Anzug und eine dicke Sonnenbrille auf der Nase. Ich kannte ihn eigentlich ganz gut, wir hatten oft miteinander zu tun, wenn der Obrigkeit nicht gefiel wie ich arbeitete. Sein Name war Harry Roots und soweit er es mir erzählt hatte, besaß er keine Familie. Er hob ebenfalls seine Arme um zu sprechen und sagte mit einer wesentlich ruhigeren Stimme: „Vor ein paar Tagen ist uns zu Ohren gekommen, dass wir Spione in unseren Reihen haben, darum muss jeder Vorgang genau beschrieben werden. Wir wollen ganz genau wissen wann ihr was tut.“
„Wollen Sie auch wissen, wann wir auf Klo gehen!“ platzte es aus mir heraus. Eigentlich wollte ich mich ruhig verhalten, aber diese übertriebene, fast schon ängstliche, Vorsichtig ging mir zu weit. Der Mann von der Obrigkeit und Harry Roots warfen mir einen bösen Blick zu, dann fuhr er unbeeindruckt fort. „Natürlich wollen wir nur die für die Arbeit relevanten Dinge wissen. Außerdem haben wir bereits eine Person entlassen und seine Stelle sofort neu besetzt, aber laut unseren Informationen gibt es noch wesentlich mehr Spione.“ Er schloss seinen Satz ab und blickte jeden im Theater mit vorwurfsvollen Augen an. „Das war dann auch alles, Sie werden jetzt Ihre Arbeiten zugeteilt bekommen.“ Nun trat Harry Roots zurück und verließ die Bühne. Ich dachte mir schon, dass er heute bestimmt wieder zu mir kommen würde. Wenn es Probleme gab, kam er immer als erstes zu mir. Der Mann der Obrigkeit machte sich nun daran die Arbeiten unter die wartende Menge zu bringen, indem er immer wieder die Nummer aufrief bis schließlich jemand den Auftrag annahm.
Mit meinem Kinn auf die Hand gestützt saß ich in dem großen Essraum des Hauses, außer mir waren schon alle gegangen um zu arbeiten. Ich saß da, vollkommen verlassen auf der weißen Bank und steckte mir müde irgendein synthetisches Essen in den Mund, ich glaube es sollte ein Brot sein. Meistens schmeckte das Essen eh nur wie Pappe, aber manchmal roch es wenigstens wie Essen. Langsam kaute ich das Stück und schluckte es herunter, da kam J.O. in den Essraum. J.O. setzte sich vor mir auf die Bank und blickte sich in dem leeren Raum um. „Die sind schon alle arbeiten, nehmen sich keine Zeit das Essen zu genießen.“ sagte ich ironisch.
„Wir sollten auch schon längst bei der Arbeit sein.“ entgegnet J.O. ernst.
„Ja, ich weiß, aber ich bin noch zu müde. Wir können in einer Stunde anfangen, dann bin ich mit dem pappigen Essen fertig.“
„Du hast wirklich eine miese Einstellung, deswegen habe ich auch beantragt einen neuen Posten zu bekommen.“
Er sah mir nicht mal in die Augen, als er mich so hinterging. Wahrscheinlich hatte er das schon seit Wochen geplant und mir kein Wort gesagt. Wäre ich nicht zu müde gewesen, hätte ich ihn gleich quer durch den Essraum geworfen. Wir arbeiteten schon seit mehr als zwei Monaten zusammen, so lange war noch niemand geblieben. Und jetzt wollte er wegen so einer Kleinigkeit aufhören.
„Und wo willst du jetzt arbeiten?“ fragte ich ihn noch ruhig.
„Bei Jerry Edison ist der Posten des Aufsehers frei geworden, nachdem sein vorheriger Aufseher gefeuert wurde. Du weiß schon, wegen der Sache mit den Spionen.“
„Ja, ich verstehe schon. Weil der Aufseher von Jerry Edison - dem größten Idioten in der Firma - ein Spion war, hast du endlich deine Chance bekommen abzuhauen.“ sagte ich und versuchte immer noch meine Wut zu unterdrücken.
Nun hob J.O. seinen Kopf und sah mir ins Gesicht, endlich stellte er sich mir.
„Das hat sich kurzfristig ergeben, er hat bei mir angefragt, da konnte ich doch nicht nein sagen. Er darf Fälle des Grades E bearbeiten, du hättest die Chance doch auch wahrgenommen, wenn du sie bekommen hättest.“
„Nein, das hätte ich nicht, weil ich meinen Partner nicht verrate.“
Wäre J.O. jetzt nicht aufgestanden, hätte ich mich vielleicht nicht mehr beherrschen können, aber er tat das einzig richtige und ging. Ich sah ihm noch hinterher bis sich die Flügeltür des Essraums schloss, dann widmete ich mich wieder meinem pappigen Essen. Das Essen widerte mich an, es triefte, es stank und mir war der Appetit vergangen. Mit einer schnellen Handbewegung schmiss ich das Tablett über den ganzen Tisch bis es am anderen Ende mit einem klatschenden Geräusch an der Wand landete. Jetzt konnte ich die Arbeit vergessen, ich würde den ganzen Tag damit verbringen bei der Obrigkeit einen neuen Aufseher zu beantragen. Bestimmt würde es Wochen dauern bis ich meine Arbeit wieder aufnehmen konnte, weil ich die ganze Zeit darauf warten müsste einen neuen Aufseher zu bekommen.
Ich warf meine Jacke über und verließ den Essraum. An der Wand gelehnt, mit einer Zigarette im Mund, stand Harry Roots. Er stieß sich von der Wand ab und folgte mir durch den Gang. „Hey, Jack! Ich möchte mich ein wenig mit dir unterhalten!“ rief er mir hinterher, weil ich ihn ignorierte. Ich blieb nur kurz stehen, damit er aufholen konnte, dann ging ich weiter durch den weißen Gang. „Normalerweise werde ich doch erst am Abend mit deiner Anwesenheit belästigt.“ sagte ich abfällig.
„Mann, Jack. Die Lage ist wirklich ernst. Du solltest dich wirklich nicht so auffällig verhalten, sonst werden die da oben auf dich aufmerksam. Die Aktion im Theater war völlig unnötig.“
Harry nannte die Männer von der Obrigkeit immer ‚die da oben’, als wären es Götter oder irgendwelche andere übernatürliche Wesen. Meistens fand ich das recht belustigend, nur heute nicht. Er hatte Recht, die Obrigkeit sah mir bei jedem Handgriff auf die Finger, ich konnte keinen Schritt machen ohne von ihren Kameras beobachtet zu werden. Die Obrigkeit sagte zwar immer, dass sie ihre Arbeiter nicht mit Kameras überwachen würde, aber ich konnte die kleinen Dinger sofort entdecken. Sie versteckten sie überall, aber meistens waren es bewegliche, nur wenige Millimeter große Kameras die einem bei jedem Schritt folgten. Vor einigen Jahren hat das einen in den Wahnsinn getrieben. Der Typ dachte immer und überall beobachtet zu werden, irgendwann hat er es nicht mehr ausgehalten und ist aus dem Fenster im 30. Stockwerk gesprungen. Ich kannte ihn nicht, aber Vargo, der immer über alles Bescheid wusste, hat mir die Geschichte erzählt. Seitdem überwacht die Obrigkeit uns nicht mehr so auffällig und nur noch Arbeiter die besonders ‚seltsam’ waren.
Vor der Treppe blieb ich stehen und sagte zu Harry: „Falls du mich heute noch suchst, ich bin bei der Obrigkeit.“ Ich dachte, dass ich ihn so loswerden würde, aber er erwiderte: „Das passt gut, dann kann ich dir alles erklären. Ich muss auch zu denen für den wöchentlichen Report.“ Also folgte er mir.
Nachdem wir auf der vierten Ebene waren, konnten wir endlich den Fahrstuhl betreten. Dort empfing uns eine kühle Luft und durch die Lautsprecher drang Musik die auf mich sehr ermüdend wirkte. Wäre Harry nicht neben mir, hätte ich die ganzen zehn Minuten, die der Fahrstuhl brauchte um die oberste Ebene zu erreichen, durchgeschlafen.
Das Gebäude war 70 Stockwerke hoch und immer zehn Stockwerke waren in eine Ebene geteilt. Die Eben der Obrigkeit war die 7., aber dort war der Zugang zum 69. und 70. Stockwerk allein für die Männer der Obrigkeit bestimmt. Außer bei der morgendlichen Arbeitsverteilung und an bestimmten Tagen, bekam man die Männer der Obrigkeit nicht zu sehen. Ich musste für meinen Antrag in den 62. Stock der 7. Ebene, wohin Harry wollte wusste ich nicht.
Als die Türen geschlossen waren und der Fahrstuhl sich langsam in Bewegung setzte, fing auch Harry wieder an zu reden. „Die Obrigkeit will dich demnächst prüfen, sie wollen dir einen Tag lang bei der Arbeit zusehen. Also kannst du nicht wie sonst eine Stunde später anfangen als du es normalerweise machen solltest. Wenn du dir da einen Fehler erlaubst, bist du gefeuert. Sie haben mich damit beauftragt, deine Arbeit zu filmen und dich zu beurteilen. Ich würde dir gern helfen, aber du musst dir helfen lassen. Wenn das so weiter geht wie jetzt, dann werde ich denen die gesamte Wahrheit zeigen. Aber wenn du dich ändern willst, dann kann ich bei dem Urteil ein wenig nachhelfen.“
„Ich brauche deine Hilfe nicht.“
„Das weiß ich auch, du willst die Hilfe von niemand, aber so kommst du nicht weit. Lass dir wenigstens einmal helfen. Ich habe dir auch gesagt, dass ich dir einen Aufseher besorgen kann, der besser zu dir passt und dich bei der Arbeit besser unterstützt, aber die Hilfe wolltest du auch nicht.“
„Na gut, wenn du mir schneller als die Obrigkeit einen Aufseher besorgen kannst.“
„Das kann ich nicht, es geht kein Weg an denen da oben vorbei.“
„Dann brauche ich deine Hilfe auch nicht.“
„Sei doch vernünftig. Ich kannte deinen Vater, er war einer unserer Besten. Du könntest auch einer unserer Besten sein, wenn du nicht so disziplinlos wärst.“
„Du musst mir nicht erzählen, dass du meinen Vater kanntest, das weiß ich noch. Ich weiß auch noch, dass du meine Mutter sehr gut kanntest, zu gut.“
Nachdem ich das gesagt hatte, machte Harry eine ablehnende Handbewegung und schüttelte den Kopf.
„Du weiß ganz genau, dass das nicht stimmt. Ich war ein Freund deines Vaters, und deiner Mutter. Nur ein Freund.“
„Das erzählt mir jeder.“
„Du willst es einfach nicht verstehen. Wenn du meine Hilfe nicht willst, dann nützt es mir auch nicht dich weiter retten zu wollen.“
Harry drückte auf den Knopf und der Fahrstuhl kam langsam zum stehen, dann öffneten sich seine Türen. Harry trat aus dem Fahrstuhl und drehte sich zu mir um. „Ich dachte, du wolltest auch nach oben.“ sagte ich.
„Nein, ich wollte dich retten.“ erwiderte Harry bedrückt und die Türen schoben sich wieder zu. Nun war ich allein in dem Fahrstuhl, ich lehnte mich an die Wand und schloss meine Augen.
Der Fahrstuhl wurde langsamer bis er schließlich ganz anhielt, dann öffneten sich seine Türen und ich schlug meine Augen auf. Der 62. Stock, genau wohin ich wollte. Die Dame hinter dem breiten und hohen Tisch sah mich an und grinste breit, mir fiel natürlich gleich auf, dass es ein falsches Grinsen war. Am liebsten hätte mich die Frau den Fahrstuhlschacht hinuntergeworfen und hätte sich der Pflege ihres makellosen Gesichts gewidmet. Aber der Eindruck der Makellosigkeit täuschte, als ich näher herantrat konnte ich sehen, dass nur versucht künstlich jung zu bleiben. Wahrscheinlich hatte sie schon mehrere Schönheitsoperationen hinter sich und das bei ihrem miesen Gehalt. Bestimmt erschreckt sie sich jeden Morgen, wenn sie sich im Spiegel ansieht und fragt sich warum sie altern muss, dann wird sie versuchen das Alter unter einer Schicht von Make-up zu verstecken. Den Satz ‚in Ehren altern’ hatte man ihr wohl nie so richtig erklärt. Obwohl mich ihr künstliches Gesicht anwidert, bleibe ich freundlich und frage: „Wo sind die Anträge Nr. 12a zu finden?“ Ich war schon so oft hier, dass ich ganz genau wusste, wie der Antrag hieß.
„Sie sind da wo sie immer sind, Jack, die erste Tür rechts.“ sagte die Empfangsdame mit einer piepsigen Stimme. Ich war wohl doch schon öfter hier als ich vermutete, die Dame kannte schon meinen Namen. Ich ließ mich nicht weiter von dem Plastikgesicht beirren und führte meine Schritte zu der Tür.
Ich war der Einzige in dem Raum, wie so oft wenn ich hier war. Eigentlich kam es nur selten vor, dass sie ein Team aus Springer und Aufseher trennte. Ich setzte mich an eines der Terminal und blickte auf den Monitor. Mit dem Ziegefinger tippte ich auf das große grüne Wort ‚ja’, das auf dem Monitor blinkte. Ich kannte die Frage die darüber stand schon auswendig: Wünschen sie einen neuen Aufseher? Danach musste ich meinen Zugangscode eingeben, den wusste ich natürlich auch auswendig. Aber den Zugangscode auswendig zu kennen, war für jeden Arbeiter Pflicht, wie das bei der Obrigkeit ablief, wusste ich nicht. Ich glaube nicht mal, dass die Obrigkeit auch nur ein bisschen machte um die Firma am laufen zu halten.
Ich gebe meinen Zugangscode ein und der Monitor färbt sich vollkommen rot, dann ertönt eine Stimme. „ES GIBT PROBLEME MIT IHREM ZUGANGSCODE! MELDEN SIE SICH BITTE SOFORT IM STOCKWERK 4, DER EBENE 7!“
Ganz egal was das Problem war, es konnte nichts gutes sein, das war vorher noch nie passiert. Vielleicht habe ich meinen Millionsten Aufseher beantragt und jetzt bekomme ich einen Preis, dachte ich unbeeindruckt und musste leicht lachen.
Ich ging an der Empfangsdame vorbei, sie wusste schon was vorgefallen war und sah mich als wäre ich ein Schwerverbrecher. Dennoch verabschiedete sie mich freundlich.
Ich ging über die Treppe bis in das 64. Stockwerk, es sah fast genauso aus wie das 62., auf jeden Fall stand dort der gleiche schwere Tisch im vorderen Teil. Ich war vorher noch nie gewesen, aber auf der Ebene 7 sah sowieso alles gleich aus. Neben dem Tisch stand ein kleiner Mann, er winkte mich zu sich und richtete seine große Brille. Ich ging auf ihn zu und fragte sogleich: „Was für ein Problem gibt es?“
„Guten Tag, ich bin Herr Kitsune, kommen Sie bitte mit in mein Büro.“ Mehr sagte er mir nicht, dann ging er schon schnellen Schrittes voran. Wir gingen durch einen langen Korridor, an den Wänden waren Türen mit Fenster durch die ich aber nicht hindurch sehen konnte. Sie waren so sehr verdunkelt, dass ich nur einzelne Schatten erkennen konnte die an den Fenstern vorbeihuschten. Nun erreichten wir endlich die Tür zu seinem Büro, sie war am hintersten Ende des Stockwerks. Mit einem großen Schlüssel schloss er die Tür auf und wir betraten sein Büro. Die Wände waren voll mit Regalen auf denen große Bücher standen und in der Mitte stand ein kleiner dunkler Schreibtisch. Der kleine Mann setzte sich an seinen kleinen Schreibtisch und sagte mir, dass ich davor platz nehmen sollte. Nachdem ich mich gesetzt hatte, klatschte der Mann in die Hände und faltete sie zusammen. Er hob seinen Kopf von einem Buch und sagte: „Sie wollten heute ihren achten Aufseher in diesem Jahr beantragen. Was haben Sie dazu zu sagen?“ Ich sah dem kleinen Mann mit der dicken Brille in die Augen und erwiderte eintönig: „Scheint wohl ein neuer Rekord zu sein, sonst wärt ihr nicht so aufgeregt. Bin ich in Schwierigkeiten?“
„Wenn es nach mir gehen würde, wären Sie schon lange entlassen worden, aber jemand von der Obrigkeit scheint Sie zu mögen. Sie bekommen einen neuen Aufseher, aber da wir zurzeit nicht viele freie Aufseher haben, bekommen Sie einen Neuling. Sie sind dafür zuständig ihn einzuweisen und ihm alles beizubringen. Wenn Sie das nicht hinkriegen, werden Sie endgültig gefeuert und verlieren jegliche Ansprüche.“
„Dann muss ich nur mit einem Frischling zusammenarbeiten, ich dachte schon die Bestrafung wäre härter.“ sagte ich und lehnte mich zurück.
„Seien Sie sich nur nicht zu sicher, die Ausbildung von Neuankömmlingen ist sehr schwierig und nachdem was ich über Sie gehört habe, werden Sie es nicht schaffen dem Neuling auch nur einen Handgriff beizubringen. Ihre Disziplinlosigkeit wird dann endlich ein Ende haben.“
„Wann wird der Frischling anfangen?“ fragte ich und versuchte mich von seinen Anfeindungen nicht beeindrucken zu lassen.
„Gleich Morgen. Außerdem müssen Sie ihre Kammer räumen und in ihre Arbeitskammer umziehen, der Raum wird für den Neuling gebraucht.“
Das traf mich dann schon eher, ich besaß diesen Raum seit ich hier angefangen habe, aber nun musste ich mir alles neu anschaffen. ‚Die Kammer räumen’ bedeutete, dass man alles, bis auf die persönlichen Gegenstände, nehmen musste und in die Arbeitskammer, also den Arbeitsplatz, bringen musste. Und das nur, weil ein Neuling deine alte Kammer bekam. Ich bezeichnet es immer zynisch als ‚Kreislauf des Leben’ wenn ich sah, dass wieder mal jemand die Kammer räumen musste und jetzt traf es mich selbst.
Ich erhob mich von dem Stuhl und Herr Kitsune reichte mir die Hand, aber ich erwiderte es nicht und ging. Doch ich sah noch, dass der kleine Mann über meine Reaktion lächelte, das war wohl genau das was wollte. ich schlug die Tür hinter mir zu und hörte wie ein Regal nach dem anderen umfiel, wie Dominosteine. Von Herrn Kitsune hörte ich nur ein: „Oh nein!“ Die Türen in dem Korridor waren nun geöffnet und die Menschen, die vorher noch Schatten waren, wurden zu beweglichen Gesichtern, die mich unverwandt anstarrten. Ohne den Gesichtern einen weiteren Blick zu schenken gehe ich durch den Korridor bis zum Empfang, dort lehne ich mich an den Tisch und fasse mir an den Kopf. Jetzt haben sie mir einen Neuling an das Bein gebunden, dabei bin ich mit meiner Arbeit sowieso schon im Rückstand. Und wenn sie mich rauswerfen, würde ich nirgendwo in dieser Stadt eine Arbeit bekommen. Wer würde schon einen einstellen, der vorher bei der Kolomnian Inc. gearbeitet hatte? Die Dame, die wesentlich jünger ist als die Frau zwei Stockwerke unter ihr, fragt: „Geht es Ihnen nicht gut? Wünschen Sie, dass ich einen Arzt hole?“ Ich schenke ihr nur einen kurzen Blick, dann erwidere ich darauf nur: „Mir ging es noch nie gut.“ Ich gehe weiter auf den Fahrstuhl zu und drücke auf den Knopf, er öffnet sofort seine Türen und ich trete ein.
Kapitel 2:
Vorsichtig greife ich nach der Zigarette und zünde sie an, dann nehme ich einen Zug. In der letzten Nacht durfte ich herausfinden, dass man sehr schlecht auf dem Boden der Arbeitskammer schlafen konnte, ich musste mir für die nächste Nacht unbedingt etwas einfallen lassen. Doch das war jetzt eher unwichtig, ich setzte mich müde auf und lehnte mich an das Kontrollterminal. Heute war ich schon eine halbe Stunde vor den anderen aufgewacht, das musste an dem Druck von der Obrigkeit liegen. So schlecht wie in der Nacht, hatte ich noch nie geschlafen.
Ich zog meine Klamotten über und stand nun auf, zwar wackelig aber ich stand. Leicht gähnend zog ich ein letztes Mal von der Zigarette, dann warf ich sie auf den Boden. Die Tür öffnete sich und Vargo trat ein, er sagte: „Da fragt jemand nach dir, ich glaube du solltest ihn abholen.“
„Ja, ich geh ihn gleich holen.“
„Scheinbar haben sie dir einen Neuling gegeben, das sieht nicht gut aus für dich.“ erkannte Vargo und schüttelte den Kopf leicht.
„Ich werde das schon schaffen.“
„Du ganz sicher, aber ich weiß nicht ob der Typ das übersteht.“
Vargo wollte lachen, aber als ich ihn böse anblickte, merkte er wie ernst es mir war und verschwand so schnell es ging. Ich ging durch die geöffnete Tür und sah Vargo nur noch um die Ecke gehen. Kurz nachdem Vargo weg war, kam der Anfänger um die Ecke, ein kleiner Jüngling, der in, wenn es an die richtigen Fälle ging, ganz schnell einknicken würde. Ein kurzer Haarschnitt, die Krawatte glatt gebügelt und das Hemd akkurat in die Hose gesteckt. Ich hatte mir schon lange abgewöhnt mich nach der gängigen Mode hier im Gebäude zu kleiden, das viele Anzugtragen wurde irgendwann einfach zu anstrengend, da habe ich wieder meine alten Sachen angezogen. Der Typ kam auf mich zu und reichte mir energisch die Hand, scheinbar kannten mich mehr Leute als ich dachte. „Sie müssen Jack sein, ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ Da konnte ich mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, sie erzählten einem Auszubildenden von mir, das müsste bedeuten, dass auch mal etwas richtig gemacht hatte. Aber bestimmt nutzten sie mich als Negativbeispiel und wiesen darauf hin, dass möglichst niemand so werden sollte wie ich. Das war mir auch recht, nicht mal ich wollte so sein wie ich bin.
„Beginnen wir gleich mit der Arbeit?“ fragte mich der Neuling.
„Als erstes sagst du mir deinen Namen und deinen Zugangscode, dann können wir mit der Arbeit beginnen.“
„Ich dachte, am Morgen geht jeder Arbeiter in das Theater.“
Das hatte mir gerade noch gefehlt, die hatten mir einen Klugscheißer gebracht. Zweifellos würden das die längsten drei Wochen meiner gesamten Laufzeit werden.
„Ich habe noch so viele unerledigte Arbeiten, da brauchen wir nicht noch ins Theater zu gehen. Also sag mir endlich deinen Namen und gib mir deinen Zugangscode.“
Dann hatte ich auch schon meinen kleinen S-Coder in der Hand um seinen Zugangscode einzugeben und drängte ihn ein weiteres Mal.
„Mein Name ist Jon Kolomnian, Zugangscode 1ad3Ds1.“
Ich sah dem jungen Mann in die Augen und er erwiderte meinen Blick gelassen, er war es wohl gewohnt, dass die Menschen ihn beim ersten Mal so anstarrten. Und ich hätte nie gedacht, dass es in meiner miesen Lage noch schlechter kommen konnte. Ich hatte nicht nur einen Klugscheißer bekommen, sondern den größten Klugscheißer von allen. Sein Vater, Edick G. Kolomnian, war der Inhaber der Firma und der höchste Mann in der Obrigkeit, nichts kann beantragt werden ohne ihn zu fragen. Außerdem besitzt er mehrere andere Firmen und ist der reichste Mann der Welt. Aber er war nicht mein Problem, es war sein Sohn der immer wieder in die Schlagzeilen kam. Vor kurzer wurde er vor Gericht freigesprochen. Es sollte vor ein paar Monaten eine junge Frau vergewaltigt haben und alle Beweise standen gegen ihn. Wie er schließlich aus der Sache herausgekommen ist, kann eigentlich nur sein Vater wissen. Als ich in seine Augen sah, sah ich in die kalten Augen eines Mannes der zu allem fähig war.
„Stimmt etwas nicht mit dem Zugangscode?“ fragte er unschuldig.
„Nein, es ist alles in Ordnung.“
Eines war mir gleich klar, ich würde diesem Typen nie den Rücken zudrehen. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er mir nichts tun kann, er vergriff sich nur an schwachen Frauen und dafür verachtete ich ihn aus tiefstem Herzen.
Wir traten in die Arbeitskammer ein und ich zeigte ihm seinen Platz am Kontrollpult, ich stellte mich davor um ihn alles zu erklären. „Wie du weißt ist unsere Firma…“ Der junge Mann lachte und ich fragte warum er mich unterbrach.
„Sie müssen wissen, dass diese Firma meinem Vater und mir gehört, also sprechen Sie bitte von meiner Firma.“
Zähneknirschend akzeptierte ich seinen Einwand und fuhr fort: „Wie Sie wissen ist ‚Ihre’ Firma dafür zuständig Zeitsprünge zu unternehmen um die Vergangenheit zu ändern. Unsere Aktivität zwischen den Zeiten wird von der Polizei und dem Staat gebilligt und unterstützt. Zurzeit befinden sich in Ihrer Firma mehr als 30 frühere Polizisten. Ein Zeitsprungteam arbeitet immer zu zweit in einer so genannten Arbeitskammer und besteht aus einem Springer und einem Aufseher. Der Aufseher ist dafür zuständig, dass der Springer wieder heil von den Zeitsprüngen zurückkommt und dafür sorgt, dass während der Arbeit des Springers nichts Unerwartetes geschieht. Soweit müsstest du dich auch auskennen.“
Der junge Kolomnian nickte nur gelangweilt.
„Auf deinem Kontrollpult werden dir alle wichtigen Anzeigen über den Springer aufgezeigt, wie zum Beispiel möglicher Blutverlust, Krankheit oder psychische Anomalien. Der Aufseher muss dann geeignete Maßnahmen ergreifen und den Springer entweder zurückholen oder ein Serum zur Heilung zu verabreichen. Die Serums findest du unterhalb des Kontrollpults…was willst du denn jetzt?“
Der Junge Mann fuchtelte mit seinen Händen in der Luft herum und brachte mich aus dem Konzept, darum konnte ich ihn nicht weiter ignorieren.
„Erstens: Sie dürfen mich nicht duzen und zweitens: kenne ich das alles schon auswendig, ich habe das hier nicht ohne Grund fünf Jahre studiert. Ich bin allein wegen der praktischen Anwendung hier und um ein paar spannende Zeitsprünge von dir zu sehen. Du musst wissen, das ist besser als fernsehen.“
„Du wirst hier keine spannenden Zeitsprünge erleben, ich bearbeite Fälle des Grads A und B. Falls du Spannung willst, dann musst du zum Grad K, dort kannst du dann Hitler in seiner Wiege erwürgen oder wie du ihn gern töten würdest.“
„Für die Eliminierung von Personen verwenden wir stets unsere Cans, das müsstest sogar du wissen.“
„Ich wusste ja nicht, wie du gerne tötest, aber ich weiß dass du es tust.“
Der junge Kolomnian stand auf und schenkte mir einen bösen Blick. Das war genau die Stelle, an der ich ihn verletzen konnte. Sein linkes Augenlid zuckte und er fing sich langsam, aber er war immer noch geladen. Mit einer ruckartigen und unnatürlichen Handbewegung griff er nach seiner Jacke und sagte mir: „Ich werde mich beim Grad K bewerben, hier kommt man sowieso nicht weiter.“ Ich fühlte wie ich mich langsam entspannte, als der junge Mann durch die Tür ging. Aber bevor er aus der Tür war sagte er noch: „Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen, du gefällst mir. Vielleicht können wir mal abends um die Häuser ziehen, du weißt schon.“ Er schenkte mir einen letzten Blick, der so kalt war wie Eis. Es war der Blick eines Wahnsinnigen, der imstande war alles zu machen, was er will und womit er will.
Ich war froh ihn losgeworden zu sein, aber bestimmt würde ich keinen weiteren Aufseher genehmigt bekommen. Herr Kitsune freute sich ganz sicher schon darauf mich mit einem Tritt aus dem Gebäude zu schmeißen. Mich dessen bewusst, setzte ich mich auf den Boden und zog eine Zigarette aus der Jackentasche. Doch bevor ich sie anzünden konnte, hörte ich einen lauten Aufprall. Ich rappelte mich auf um durch die offene Tür zu sehen. Ich sah Herrn Kitsune, aber er wollte nicht zu mir, denn er stand mit dem Rücken zu meiner Arbeitskammer, einige Meter entfernt im Korridor. Vier Wachen zogen einen Mann aus der einen Arbeitskammer, doch sie bekamen ihn auch zu viert kaum unter Kontrolle. Schließlich kamen zwei weitere Wachen hinzu und so konnten sie ihn fixieren. Herr Kitsune stand nun vor dem fixierten Springer und sagte zu ihm: „Sie werden beschuldigt illegale Geschäfte mit den Schwarzen Geiern zu tätigen. Die Anklage wird in wenigen Tagen erfolgen, solange bleiben Sie in Haft.“ Er sprach so laut, dass jeder der durch die Tür spähte, mitbekam was dort vor sich ging. Ich hätte vielleicht Mitleid mit dem armen Mann haben sollen, denn ich kannte ihn. Er besaß eine große Familie die er versorgen musste, aber ich sah nur seinen nun freien Aufseher. Gleich heute müsste ich wieder hochgehen und einen beantragen. Dann musste ich hoffen, entweder würde man mir kündigen wegen der der verpatzten Ausbildung oder ich würde den Aufseher bekommen. Trotz meiner letzten Chance bei dem Jungen, konnte ich darauf hoffen dass die Firma zurzeit unterbesetzt war und dringend noch ein paar Teams brauchte.
Als die Wachen den Springer abführten warf mir Herr Kitsune einen kurzen Blick zu, aber ich erkannte, dass er auch schon wusste was passieren würde.
Am Nachmittag saß ich vor dem Büro von Herrn Kitsune, er hatte noch einen kleine Sitzung, also musste ich warten und das nun ganze zwei Stunden. Aber ich hatte es nicht eilig, heute nicht und auch die nächsten Tage nicht. Ich hatte Vargo darum gebeten mir ein paar meiner Arbeiten abzunehmen und er nahm sie gleich alle. Dafür musste ich ihm versprechen mich bei Herrn Kitsune zu benehmen und meine Arbeiten demnächst pünktlich zu erledigen. Ich könnte mich sicherlich benehmen, aber ich wusste nicht ob ich in der nächsten Zeit pünktlich fertig werden würde. Ich bekam vielleicht einen neuen Aufseher und wir müssten uns erstmal aufeinander einstellen, das würde bestimmt einige Tage dauern.
Die Tür öffnete sich und Jon Kolomnian ging hindurch, er sah mich nicht, denn sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Nun rief Herr Kitsune mich herein und ich betrat sein kleines Büro. Die Bücher und die Regale waren wieder an ihrem Platz und Herr Kitsune staubte gerade ein paar Bücher ab. Aber als er mich sah, legte er sie zur Seite und setzte sich an den Schreibtisch.
„Ich bin hier um einen neuen Aufseher zu beantragen, der Neuling ist freiwillig gegangen.“
„Ich weiß schon bescheid, da gab es wohl ein Missverständnis, denn er wollte ursprünglich in den Grad K. Er war auch dafür qualifiziert, aber Sie wissen ja wie das mit dem Papierkram ist, da verliert man schnell den Überblick. Aber er sagt, dass Sie dort unten einen guten Job machen und ich muss Ihnen wohl oder übel einen neuen Aufseher zuteilen.“
„Wann fängt er an?“
„Heute. Sie bekommen den Aufseher zugeteilt, der gerade frei geworden ist.“
„Vielen Dank.“
Ich sah wie die Wut in ihm anstieg und ihm fast der Kragen platzte, doch ich war zufrieden und schloss beim gehen vorsichtig die Tür hinter mir. Doch mir wurde klar, dass mir der Mann geholfen hatte, den ich für seine Taten verabscheute. Da wurde meine Freude zu einem kleinen Häufchen Elend zusammen gefaltet und ich gab sie schließlich auf. Niedergeschlagen trottete ich zu dem Fahrstuhl und betrat ihn.
Der neue Aufseher war überaus eifrig, er tat alles was ich ihm auftrug und stellte meine Entscheidungen nicht in Frage, genau die Art von Aufseher die ich brauchte. Er war ein kleiner Mann Ende Fünfzig mit dicken und buschigen Augenbrauen. Am nächsten Tag schafften wir unsere Arbeit noch bevor es dunkel wurde. Ich erinnere mich noch daran wie ich mit J.O. manchmal bis in die Nacht arbeiten musste, damit wir unsere Mindestzahl erreichten.
Doch nachdem ich von meinem letzten Zeitsprung zurückkam senkte sich die Sonne bereits und färbte die Außenwand des Gebäudes orange. Der Zeitsprung war eine reine Routinearbeit, schnell einen Mann betäuben und an eine andere Stelle setzten, mehr nicht. Meistens hatte die Arbeit des Grads A damit zu tun, Menschen von einem Ort zum anderen zu bringen, die Auswirkungen waren meist so winzig, dass man sie nicht mitbekam. Bei Arbeiten des Grads B - für die ich auch eine Zulassung hatte - musste man dann schon manchmal die Menschen eliminieren. Beim ersten Mal war es noch schwer ein Kind in seiner Wiege einfach zu löschen, aber mit der Zeit bekam man kaum noch mit was man auslöschte. Da wurde dann alles gleich behandelt, ob es nun ein Hund ist oder ein Kind, das macht keinen Unterschied.
Die Sonne bahnte sich in kleinen Strahlen ihren Weg durch die Jalousie unserer Arbeitskammer und zeigte mir an, dass es Zeit für die ‚abendliche Essenszufuhr’, wie sie von allen Arbeitern genannt wurde. Mein Aufseher ging schon voraus, während ich die letzten Protokolle abschloss. Als ich das dann geschafft hatte, griff ich nach meiner Jacke und wanderte ziellos durch den Korridor. Ich hatte Hunger, aber ich wollte warten bis die anderen Arbeiter fertig waren, damit ich meine Ruhe hatte. Schnell erreichte ich einen Ort an dem ich mich hinsetzten konnte, es war mitten im Korridor vor einem der vielen gläsernen Wänden die auf den kleinen Park hinter dem Gebäude gerichtet waren. Ich nahm mir eine Zigarette und wollte mich ein wenig entspannen, aber ich vernahm Schritte hinter mir. Eine weibliche Stimme sagte: „Das rauchen in den Gängen ist nicht gestattet.“ Ich drehte mich um und erblickte die Frau die Vargo und ich gesehen hatten bevor wir in das Theater gingen. Sie tippte mit ihren schlanken Fingern auf ein rotes Schild und mit ihrem Fuß auf den Boden. Ich musste mir das Schild nicht ansehen, ich wusste schon was es bedeutete und zerdrückte die Zigarette auf dem Boden. Ich richtete mich auf um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein, aber sie reichte mir nur bis zu den Schultern. „Sind Sie neu hier?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.
„Stock 4 der Ebene 2, Empfang für die Gäste von Jerry Edison und du musst Jack sein. Herr Edison scheint kein Freund von dir zu sein.“
So erniedrigend es auch klang, aber Jerry Edison besaß wirklich seine eigene Etage mit seiner eigenen Empfangsdame. Ich hatte schon oft davon gehört, dass Jerry den Grad E besaß und zudem noch diese Zugaben hatte, aber ich wollte es nie glauben.
„Der Essraum für die Ebene 2 befindet sich aber eine Etage tiefer.“ sagte ich, da ich bemerkt hatte, dass sie nicht freiwillig in diesen Gängen umherirrte.
„Ich wollte mir nur die Zeit vertreiben, bis der Rest der Arbeiter fertig ist, erst dann wollte ich essen gehen. Du scheinst schon gegessen zu haben. Ist es noch voll in dem Essraum?“
„Die sind schon alle fertig.“
„Vielen Dank für die Auskunft und nächstes Mal gehst du zum rauchen in deine Kammer.“
Sie winkte leicht mit der Hand um sich zu verabschieden und ging dann den langen Korridor entlang, aber ich Schritte waren nicht mehr ziellos, sie führten sie direkt zur Treppe. Bevor sie ging blieb sie stehen und sah noch mal zurück, ich winkte nur leicht und wand mich dann von ihr ab um in die andere Richtung zu gehen.
Ich dachte, dass die Frau nun - eine Stunde später - fertig mit ihrem Essen war, denn ich hatte keine Lust auf Gesellschaft wenn ich esse. Das hatte bis jetzt immer so gemacht und ich wollte auch, dass es so bleibt. Aber die Tür zum Essraum war verschlossen und daran hing ein Zettel. Ab heute schließen wir die Essräume jede Nacht ab. Mein Magen knurrte, eigentlich bekam ich hier immer am Abend noch was zu Essen. Wütend schlug ich gegen die Tür und rief: „Saftladen!“ Hinter mir vernahm ich wieder die Schritte der Empfangsdame und ich versuchte unauffällig an ihr vorbei zu gehen. „Ich wusste, dass du noch nichts gegessen hattest, das war das Erste was Herr Edison über die erzählt hat.“ Ich blieb neben ihr stehen und sie blickte mich an. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Tüte. „Dann kennt mich Jerry wohl schon besser als ich mich selbst.“ erwiderte ich gereizt. Wenn ich Jerry jemals wieder treffen würde, könnte ich seine Unversehrtheit nicht mehr garantieren. Aber Jerry hatte Glück, dass er zu viele wichtige Termine hatte und so kaum noch aus seinem Büro kam. Die Frau wedelte mit der Tüte in der Luft herum und sagte: „Ich habe etwas für dich eingepackt, wenn du willst kannst du es essen.“
„Danke.“ erwiderte ich und nahm ihr die Tüte aus der Hand. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Die Frau blieb vor mir stehen und sah mir zu wie ich das pappige Essen in meine Mund steckte. Nachdem ich die Portion aufgegessen hatte, stand ich wieder auf. „Jetzt weißt du schon so viel über mich, aber ich kenne nicht mal deinen Namen.“ sagte ich.
„Ich bin Ivy Mendelew. Du solltest morgen pünktlich kommen, sonst stehst du wieder vor verschlossenen Türen.“ Sie wartete auf eine Reaktion, aber mir fiel nicht ein was ich dazu noch sagen sollte. „Wir sehen uns bestimmt mal wieder.“ sagte sie nun und schritt davon durch die weißen Korridore und ich konnte ihr nur wieder hinterher sehen.
Kapitel 3:
Nun sind bereits drei Wochen vergangen seit ich meinen neuen Aufseher bekommen hatte und ich war immer noch willig zu arbeiten. Ich wunderte mich darüber, dass ich noch denselben Aufseher hatte, obwohl es zwischendurch ein paar Meinungsverschiedenheiten gab. Normalerweise hätte ich mich stundenlang mit ihm streiten können, wenn er mich darauf hinwies, dass ich eine kleine Regelwidrigkeit begangen hatte, aber ich ignorierte es einfach. Das hing wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ich mein Glück kein weiteres Mal herausfordern wollte. Also lebte ich die drei Wochen lang in vollkommener Ausgeglichenheit und Ruhe, aber langsam langweilte mich das.
Am Abend verließen wir die Arbeitskammer und Vargo stand im Korridor. Ich fragte ihn: „Was machst du denn hier, musst du nicht arbeiten?“
„Ich habe meine Arbeit schon längst beendet, aber ich wollte dich ein wenig begleiten. Lass uns doch zusammen zum Essraum gehen.“ erwiderte Vargo und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Was hast du vor?“ fragte ich wegen meinem angeborenen misstrauen anderen Leuten gegenüber.
„Du musst sicher hungrig sein und es wird Zeit sich zu den Essräumen zu begeben. Lass uns jetzt gehen.“
Er wollte mir nicht verraten was er vorhatte, also ließ ich mich überraschen. Wir gingen zu den Essräumen, die ersten Menschen drängten sich schon hinein und wir schlossen uns der Menge an. Von einer der vielen kleinen Durchreichen holten wir uns ein Tablett und setzten uns in einer Ecke an den Tisch. „Willst du mir jetzt sagen, was du vorhast?“ fragte ich, immer noch skeptisch.
„Isst du nicht immer mit dieser Tippse von Jerry? Ist sie heute nicht hier?“ fragte er und sah sich in der ganzen Halle um.
Das war es worauf Vargo aus war, er wollte, dass ich ihm Ivy vorstelle. Es stimmte zwar, dass wir in den letzten drei Wochen öfter nebeneinander saßen und uns unterhielten, aber es das kam höchstens zweimal in der Woche vor. Aber Vargo war voller Vorfreude, dass sie heute hier auftauchen würde.
„Sie wird bestimmt nicht kommen.“ sagte ich mit vollem Mund.
„Weißt du etwa was, was ich nicht weiß?“
„Sie kömmt nur ein paar Mal die Wochen runter. An den anderen Tagen ist Jerry so großzügig und bringt seinen Arbeitern das Essen an den Arbeitsplatz.“ erklärte ich ihm und konnte die Enttäuschung in seinem Gesicht erkennen.
„Von wegen großzügig, das macht er nur damit sie an ihrem Arbeitsplatz bleiben. Der weiß wie man seine Arbeiter an sich bindet.“
Im selben Moment trat Ivy aus der Schlange die an der Durchreiche stand und bewegte sich auf uns zu. „Du hast Glück.“ sagte ich zu Vargo und deutete leicht in ihre Richtung.
Sie setzte sich neben uns und fragte: „Ich störe eure Unterhaltung doch nicht?“ Vargo schüttelte nur den Kopf und ich erwiderte: „Nein, wir hatten nichts wichtiges zu besprechen. Übrigens, das ist mein Freund Vargo.“ Warum hatte ich ihn meinen Freund genannt, ich war wohl wirklich ein wenig an dieser nervigen Ausgeglichenheit aus der ich nicht mehr herauskam. Ivy warf einen schnellen Blick auf Vargo und sagte dann: „Ich kenne ihn, er ist oft bei Jerry im Büro.“
Eigentlich teilte Vargo meinen Hass gegen Jerry Edison, weil er immer schon ein Freund des Minimalismus war, aber ich wusste nicht was er von Jerry wollen könnte.
„Was machst du denn bei Jerry?“ fragte ich ihn und blickte ihn mit prüfenden Augen an.
„Du weißt doch, dass J.O. und ich seit unserer Kindheit gute Freunde sind, da kann ich ihn doch auch bei Jerry besuchen.“
Diese Antwort konnte mich einfach nicht zufrieden stellen, er wäre sonst in seiner Freizeit zu J.O. gegangen. Ich spürte schon so langsam wie ich aus meiner ausgeglichenen Spur trat und die Wut in mir brodelte. Doch erstmal ließ ich mir nichts anmerken und wechselte das Thema. „Wie läuft die Arbeit, Ivy?“ fragte ich ganz profan.
„Es läuft sehr gut, ein Springer aus der dritten Ebene ist auf mich aufmerksam geworden und dann kann ich vielleicht blad wechseln.“ erwidert sie mit einem Lächeln. Ich entgegnete ihr Lächeln nur leicht, aber wenigstens tat ich es, dachte ich.
„Ich habe einen korrupten Politiker eliminiert.“ sagte Vargo um sich in das Gespräch einzubringen. Mittlerweile hatte ich mein Tablett geleert, genau der richtige Zeitpunkt, denn wenn Vargo erstmal in dem Gespräch war, konnte er auf meine Hilfe verzichten. Er brauchte mich immer nur um das Gespräch in Gang zu bringen, ab dem Zeitpunkt war ich dann überflüssig. Das kam mir heute auch ganz recht, ich war müde von der Arbeit und wollte so schnell wie möglich schlafen gehen.
Schnell griff ich nach meinem Tablett und schob es in den Schacht, dann machte ich mich auf den Weg aus dem Essraum. Doch eine weitere Gruppe von Arbeitern drängte sich in den Essraum, sodass ich gezwungen war zu warten bis sie alle in dem Raum waren. Ich sah ein letztes Mal zurück zu dem Tisch, aber scheinbar lief das Gespräch nicht so gut. Vargo und Ivy saßen nur noch nebeneinander und aßen von ihren Tabletten. Aber als sie merkte, dass ich immer noch im Raum stand, sah Ivy auf und winkte mich unauffällig zum Tisch. Ich setzte mich wieder hin und Vargo fragte überrascht: „Warst du nicht fertig mit deinem Essen?“
„Ja, aber ich wollte noch ein wenig hier sitzen und die Ruhe genießen.“ entgegnete ich.
„Überall um uns herum essen Menschen und unterhalten sich, in der Ecke hört man den Schacht: Wie kannst du hier Ruhe finden?“ fragte Vargo und deutete auf den Schacht der die benutzten Tablette an ihren Bestimmungsort zurückbrachte, wo das war wusste ich nicht. Aber der Schacht gab gelegentlich knackende Geräusche von sich. Und Vargo hatte Recht, die Stimmen der durcheinander sprechenden Menschen ließen jeden ruhigen Moment hektisch werden, aber ich war auch nicht wirklich wegen der Ruhe hier.
„Woher kommst du eigentlich Ivy, dein Nachname war doch Mendelew?“ fragte ich sie und ließ mich von Vargos lauten, schmatzenden Geräuschen nicht irritieren.
„Meine Großeltern kamen ursprünglich aus Polen. Und was ist mit dir, besitzt du einen Nachnamen?“ erwiderte sie meine Frage.
Das war Vargos Moment wieder in das Gespräch einzutreten. „Darüber redet er nicht, aber viele sagen auch, dass er gar keinen Nachnamen hat.“
„Wir sollten wirklich nicht darüber reden.“ bestätigte ich ihn.
„Aber woher kommst du?“ fragte Ivy.
Ich wollte nicht über meine Herkunft reden, damit hatte ich nicht gerechnet, dass sie danach fragte. Dann hätte ich mir etwas überlegt, was ich sagen könnte, aber nun kam es völlig überraschend und mir fiel nichts ein. Sie sah mich mit ihren schmalen Augen an und wartete auf eine Antwort während ich überlegte.
„Das geht dich nichts an.“
„Nun komm schon, ich habe dir auch erzählt woher ich komme.“ drängte sie mich weiter.
Ich hätte ihr vielleicht verständlicher klar machen sollen, dass es keine gute Idee war darüber zu reden, aber ich nahm einen anderen Weg. Ich nahm den Weg, der steinig und voller Schlaglöcher war. Flink brachte ich meine Finger unter das Tablett von Vargo und schleuderte es gegen den Rücken eines vor uns sitzenden Arbeiters. Sogleich drehte der sich um und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die immerhin ganze zwei Meter waren. Verwundert blickten die anderen Arbeiter sich zu mir und dem Riesen um. „Was sollte das.“ fragte der Riese mit einer dunklen und bedrohlichen Stimme. Jetzt wäre die letzte Chance gewesen wieder auf den anderen Weg zu wechseln, aber ich blieb auf meiner Strecke und lief immer weiter in den dunklen Wald hinein. „Dein riesiger Schädel hat mich gestört.“ erwiderte ich kühl. Nun hatten wir die Aufmerksamkeit von wirklich jedem in diesem Essraum. Der große Mann schlug seine Fäuste auf den Tisch und beugte sich zu mir herunter, ich konnte sein schlecht riechenden Atem in meinem Gesicht spüren. „Du willst wohl unbedingt Ärger machen.“ schnaubte der Riese.
„Tu es nicht, Jack, das gibt nur wieder Probleme mit der Obrigkeit.“
„Lass mich nur machen. Das Riesenbaby will Ärger, also bekommt es das auch.“ sagte ich zu Vargo und drängte den Mann zurück, damit ich aufstehen konnte. Ich ging um den Tisch herum und stellte mich vor dem Riesen auf, damit ich im direkt in sein hässliches Gesicht sehen konnte. Der Mann der noch auf der Bank saß und scheinbar mit dem Riesen befreundet war, war schon bereit seinem Freund zur Hilfe zu eilen. Mir war klar, dass ich keine Chance gegen den großen Typen hatte, und schon gar nicht wenn ihm sein fast genauso großer Freund half. Aber ich hoffte auf die Alarmbereitschaft der Wachen, sie kommen bei dem kleinsten Anzeichen eines Krawalls sofort in Bewegung, aber das sofort dauerte bei den Wachen mindestens zehn Minuten. Also musste ich noch ein wenig Zeit schinden und wenn die Wachen in den Raum kamen, würde ich dem Riesen einen Schlag versetzten damit eine Panik ausgelöst wird.
„Hast du es jetzt mit der Angst bekommen?“ fragte der Riese hämisch.
„Du solltest nicht so viel reden, du riesiger Boxsack.“ erwiderte ich sogleich, aber das war ein Fehler. Das spornte ihn an den ersten Schlag zu landen. Sein Faust schlug hart auf meinem Gesicht auf und sendete mich direkt zu Boden. Ich wollte aufstehen, aber er packte mich am Kragen und zog mich nach oben. Mit einem Ruck ließ er mich zu Boden fallen und trat mir gegen den Arm. Es fühlte sich an als würde jeder Knochen in meinem Arm brechen und zu Staub zerfallen, so stark war sein Tritt. Er wollte mich ein weiteres Mal hoch nehmen, aber da traten die Wachen ein und ein Tumult brach aus. Als jeder die Wachen sah wollte sie nicht in die Schlägerei verwickelt werden und machten sich auf zu den Ausgängen zu laufen. Dann kam endlich meine Chance, der Riese war von der Masse die an ihm vorbeidrängten abgelenkt, da stand ich auch wieder und landete einen Treffer auf seine Nase. Der Typ sank in die Knie, um seinen Freund brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, der war schon längst weg. Ich schlug wieder auf das Gesicht des Mannes und er sank nun vollends zu Boden. Mit einer blutenden Nase setzte ich mich auf die Brust von ihm und ein paar Tropfen landeten auf seinem Gesicht. Ich hob meine rechte Faust damit sie wieder auf ihn herabfallen konnte, aber eine Wache schlug mir mit ihrem Stock gegen den Arm. Mühsam senkte ich meine Faust und stand von dem Mann auf, aber bevor die Wache mich fixieren konnte, war ich auf den Tisch gesprungen und lief zum rettenden Ausgang. In der Tür sah ich Ivy und eine Meter weiter lief Vargo davon. Nur noch über den einen Tisch, dann hätte ich es geschafft, doch ich stolperte über ein Tablett und riss mit mir den gesamten Tisch um.
Schnell hatte ich mit meinen Händen die an den Handgelenken zusammengebunden waren eine Zigarette aus meiner Jackentasche geholt und sie mir angezündet. „Willst du auch eine?“ fragte ich Ivy. Sie hatte mir unter dem Tisch hervor helfen wollen und war dann selbst geschnappt worden. Nun saßen wir zusammen in einem schmalen und schlecht ausgeleuchteten Raum auf dem Boden. Sie hatte sich gegenüber von mir an die Wand gelehnt und sprach kein Wort seit wir in die Zelle kamen.
„Ich rauche nicht.“ erwiderte ich und ich konnte seit zwei Stunden endlich wieder ihre beruhigende Stimme hören. Aber sie klang nicht mehr so ruhig, sondern sie bebte, ich weiß nicht ob vor Wut oder aus einem anderen Grund. „Das könnte mich den Job kosten, nur weil ich dir helfen wollte. Ich hätte einfach weiter laufen sollen.“
„Du bist noch neu hier, das könnte dich höchstens die Beförderung kosten. Du konntest nicht wissen, dass bei solchen Tumulten die eigene Unversehrtheit an erster Stelle steht.“
„Du bist wirklich eigensinniger als ich mir vorgestellt hatte, und das obwohl Jerry immer nur deine schlechten Aktionen hervorhebt.“
„Dann sollte ich mich geschmeichelt fühlen.“ sagte ich und hustete sogleich.
Sie kroch aus der dunklen Ecke und setzte sich wieder neben mich.
„Was wird jetzt passieren?“ fragte sie und starrte an die Decke. Sie hatte einen hellen Fleck entdeckt den sie jetzt mit den Augen fixierte.
„Sie werden uns einzeln verhören und uns die Kameraaufnahmen zeigen, dann konfrontieren sie uns mit ein paar erfundenen Zeugenaussagen. Wenn du das dann endlich hinter dir hast, werden sie dir sagen wie hoch deine Strafe ist.“
„Du hast das schon öfter mitgemacht, oder? Und alles nur, weil du mir nicht sagen konntest, dass du keinen Nachnamen hast.“
Sie lachte leicht, aber es war ein angespanntes Lachen. Dann flog die Tür auf und Herr Kitsune trat mit zwei Wachen ein. „Nehmen sie zuerst die Frau.“ befahl er und die Wachen packten Ivy bei den Armen.
Nach einer Stunde kam Herr Kitsune wieder vorbei und ließ mich von den Wachen in einen Verhörraum bringen. „Können wir das schnell hinter uns bringen?“ fragte ich, da ich auf das lange Gerede verzichten wollte.
„Natürlich werde ich Ihren Wunsch befolgen. Wir haben die Kamerabilder schon ausgewertet und bereits herausgefunden, dass sie der Auslöser des Tumults waren. Ihnen wird die Zulassung für den Grad B entzogen und Sie werden für fünf Wochen vom Dienst abgezogen, danach können Sie einen neuen Aufseher beantragen. Und nun verschwinden Sie endlich, ich kann Sie nicht mehr sehen.“
Eine Wache löste die Fixierung und ich konnte meine Hände wieder frei bewegen. „Endlich mal Urlaub.“ sagte ich und verließ den Verhörraum. Vargo wartete schon hinter der Tür um die Neuigkeiten als erster zu hören.
„Wie ist es gelaufen?“ fragte er neugierig, als wir den Gang entlang gingen.
„Eigentlich ganz gut. Mir wurde die Zulassung für den Grad B entzogen, ich bin für fünf Wochen vom Dienst abgezogen und ich habe meinen Aufseher verloren.“
„Ich habe dich gewarnt.“ sagte Vargo besserwisserisch, als er in einen anderen Gang einbog als ich. Jetzt würde es nur wenige Minuten dauern und jeder wüsste die Neuigkeit, da konnte man sich bei Vargo sicher sein.
Ich war mit der Entscheidung zufrieden, es hätte viel schlimmer sein können. Doch ich war wieder ohne Aufseher, dabei konnte ich mit Edward Stead gut zusammenarbeiten. Aber ich konnte meine Probleme entspannt angehen, da ich erstmal Ruhe von dem Arbeitsstress hatte.
Ich setzte mich auf den Boden der Arbeitskammer, nachdem ich Edward verabschiedet hatte. Er hatte schnell seine Sachen zusammengepackt und war nach einem kurzen ‚Auf Wiedersehen’, so schnell ihn seine krummen Beine tragen konnten, gegangen. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss langsam meine Augen, aber ich schlug sie wieder auf erhob mich von meinem Platz. Obwohl ich müde war und sofort einschlafen könnte, musste ich noch zu Ivy, ich hatte es ihr versprochen. Und ich hielt meine Versprechen immer, auch wenn dafür in das Büro von Jerry Edison müsste. Als ich an sein Gesicht dachte, kam die Wut wieder in mir auf und ich unterdrückte sie.
Ivy saß hinter dem großen Schreibtisch in ihrer Arbeitskleidung und tippte gerade etwas in einen Computer ein als ich eintrat. Sie sah von dem Monitor auf und lächelte mich an. „Ich bin gleich fertig.“ sagte sie und beendete die letzten Zeilen. Ich legte meine Arme auf den hohen Schreibtisch und blickte hinüber. „Wie lief es?“ fragte sie während sie die Tastatur zur Seite legte.
„Mir wird eine Zulassung entzogen, mein Aufseher ist weg und ich habe fünf Wochen Urlaub. Und was hatten sie gegen dich in der Hand?“
„Ich wollte dir helfen, also haben sie mich wie deine Komplizin behandelt. Ich muss noch mindestens drei Jahre bei Herrn Edison arbeiten und in diesen drei Jahren muss ich jährlich die Hälfte meines Lohns abgeben.“
Sie versuchte durch ihr Lächeln Zuversicht zu vermitteln, aber ich wusste dass sie die Lohnkürzung hart traf, ich wüsste nicht wie ich dann noch über die Runden kommen würde.
„Geht es dir denn gut?“ fragte ich vorsichtig, weil mir nichts anderes einfiel.
„Die Lohnkürzung werde ich schon irgendwie mit zusätzlicher Arbeit ausgleichen, in diesem Gebäude gibt es immer was zu tun. Aber ich wollte dich was anderes fragen.“
„Was denn?“
„Ich habe über das Wochenende frei, da dachte ich wir könnten uns morgen in einem Café treffen. Hättest du vielleicht Lust?“
„Morgen habe ich keine Zeit, aber wenn du nichts anderes zu tun hast, dann könnten wir das um einen Tag verschieben.“
„Na gut, dann treffen wir uns übermorgen bei dem Café.“
Ihr lächeln wurde wieder sicherer und ihre Finger tippten ungeduldig auf den Tisch. Sie musste wieder arbeiten, also wollte ich sie nicht weiter stören und verschwand so schnell wie ich gekommen war.
Kapitel 4:
Ich hob meinen Kopf von dem Kontrollpult und starrte an die Decke. Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich mich weit auf dem Stuhl zurück und richtete meinen Kopf vollends nach oben. Nur noch eine Woche, dann würde der Stress der Arbeit wieder losgehen, dachte ich. In der Tür entdeckte ich das bekannte Gesicht von Vargo. „Bist du endlich wach?“ fragte er ungeduldig. Ich erwiderte nichts, ich sah ihn nicht einmal an. Langsam steckte ich meine Hand in die Brusttasche und zog eine Zigarette heraus. „Wir müssen uns beeilen, sonst bekommen wir kein Essen mehr.“ drängte mich Vargo nun weiter. Gemächlich zündete ich die Zigarette an und hob sie zum Mund. „Du kannst schon gehen, ich esse heute Morgen nichts.“ erwiderte ich nun endlich.
„Ich wollte euch nicht belauschen, aber willst du dich nicht beim Essen mit Ivy treffen?“ fragte Vargo neugierig.
„Das geht dich nichts an!“ entgegnete ich schnell und unfreundlich. Jetzt zog Vargo sich zurück und schloss die Tür hinter sich. Ich widmete mich nur meiner Zigarette und als ich sie schließlich ausdrückte, erhob ich mich von dem Sitz. Langsam zog ich meine Jacke über und verließ den Raum. Doch ich ging nicht zum Essraum, sondern in die andere Richtung. Ich stieg in den Fahrstuhl am Ende des Korridors und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss.
Leise hielt der Fahrstuhl im Erdgeschoss und öffnete seine Türen. Ich trat aus und ging an der kleinen Dame am Empfang vorbei nach draußen, dort empfing mich die helle Morgensonne. Sie schien so sanft von oben herab, dass ich einen Moment in ihrem Licht verharrte, doch ein Mann in einem dunklen Anzug stieß unachtsam gegen mich, sodass dieser ruhige Moment wie nichts verschwand. Ein weiterer Mann rempelte mich an, bis ich mich schließlich den Massen auf dem Fußweg einordnete. Zwischen diesen fein gekleideten Anzugträgern kam ich mir vor als käme ich aus einer vollkommen anderen Welt. Aber ich versuchte mich so gut es ging anzupassen, bis der Ansturm sich schließlich um eine Ecke wand. Ich ging weiter geradeaus, hier waren keine Menschen mehr auf den Fußwegen oder auf der Straße. Ein letztes Mal blickte ich auf die belebte Straße zurück, dann betrat ich abermals eine andere Welt, eine schmutzige Welt. Ganz im Gegenteil zu der weißen und sterilen Welt des Firmengebäudes, waren hier die kleinen Bauten grau und manchmal von schwarzen Flecken durchsetzt. Sie Menschen die hier wohnten, lebten in ihrer eigenen Welt. Jeder kannte jeden, alle wussten über einen bescheid und wusste sofort wenn wieder ein Nachbar wegen den giftigen Schimmeldämpfen ohnmächtig geworden war. Sie hatten kein Geld um ihre Häuser zu renovieren und das bei den undichten Wänden. Zudem kam noch die Tatsache, dass viele die hier lebten und keinen Weg sahen weiterzukommen, einfach kriminell wurden. Das bedeutete, dass in der Woche mindestens zwei Menschen bei einem Überfall starben. Aber der Großteil der Verbrecher hielt sich in anderen Gebieten auf, in denen es sich mehr lohnte die Leute auszurauben.
Ich ging an einem kleinen Jungen vorbei der mit einem rostigen Rohr auf einen Zaun einschlug. Ich hörte das Bersten des Holzzauns hinter mir bis es schließlich verstummte. Vorsichtig drehte ich mich um und sah den Jungen weglaufen - das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich ging in eine kleine Gasse und verharrte dort, aber nichts passierte. Langsam kam ich wieder aus meinem Versteck und folgte weiter der Straße. Dann erreichte ich endlich mein Ziel, ein kleines und verrottetes Haus am Ende der Straße. Es besaß einen kleinen Vorgarten mit einem zerschlagenen Holzzaun rundherum und vor dem Eingang stand eine klein gelbe Blume aufrecht. Sie war der einzige Farbtupfer in dieser grauen Welt der Gewalt, aber das irritierte sie keineswegs, sie stand dort ganz gerade als würde irgendwer jemals ihre Schönheit bewundern. Doch niemals würde irgendwer vorbeikommen und nur wegen dieser Blume stehen bleiben, niemals. Ein Fenster klappte im Wind auf und zu und erzeugte einen gruselig dumpfen Ton in der leeren Straße. Schnellen Schrittes ging ich auf die Tür des Hauses zu und klopfte zweimal kräftig.
Vargo saß an dem Esstisch und schob sich ein großes Stück seines grauen Brots in den Mund, als sich Ivy mit ihrem Tablett neben ihn setzte. „Wo ist Jack?“ fragte sie, aber musste lange auf eine Antwort warten da Vargo erst das Brot herunterschlucken musste um irgendetwas sagen zu können. „Nicht hier.“ erwiderte Vargo geheimnisvoll und schwer atmend, weil ihm das Brot fast im Hals stecken geblieben wäre.
„Was soll das heißen?“
„Er wollte nicht zum essen kommen, ich glaube er ist wieder draußen.“
Vargo sprach von der Welt außerhalb des Gebäudes so ehrfürchtig als wäre es ein anderer Planet auf dem Menschen leben die allesamt schrecklich anders waren. Vielleicht hatte er recht, wer hier erstmal gearbeitet hat, kam nachher schwer in auf dem ‚anderen Planeten’ zu Recht, die unterschiede waren einfach zu groß.
„Aber wir wollten uns hier treffen.“
„Ich weiß, aber er hatte heute eben keine Lust. Du musst verstehen, dass das bei ihm sehr schnell schwanken kann - an einem Tag ist er noch zufrieden und an einem anderen Tag will er die Welt verändern. Du kannst ihn nicht ändern, aber du kannst dich ihm anpassen.“
„Du weißt doch sicher wo er sich aufhält. Verrat es mir.“ drängte sie ihn. Sie wusste, dass er ein Geheimnis nicht lange für sich behalten konnte, wenn man ihn ein wenig drängte es zu sagen.
„Ich kann es dir nicht sagen, ich habe es ihm versprochen.“
„Wir sind doch Freunde, er wird nicht erfahren woher ich es habe.“
Sie wollte unbedingt mehr über mich in Erfahrung bringen und bei Vargo war sie da an der richtigen Stelle.
„Ich kann dir nur eine Sache verraten, er ist bei seiner Mutter. Er wird mir den Hals umdrehen, wenn du auch nur ein Wort darüber verlierst.“
Er hatte wirklich große Angst, wenn er sich ausmalte was ich mit ihm machen würde, wenn ich erfahren, dass er Dinge aus meinem Privatleben erzählt. Vorher war er zwar noch nie in die Situation gekommen, dass ich die Hand gegen ihn erhob, aber er hatte schon oft gesehen was ich mit anderen gemacht hatte. Zuletzt war da diese unkontrollierte Sache mit dem Typ im Essraum, das hatte Vargo noch mehr zur Vorsicht angeregt.
„Wo wohnt seine Mutter?“ fragte Ivy weiter und riss Vargo aus seinen Gedanken.
„Das kann ich wirklich nicht sagen, da bleibt mein Mund verschlossen. Ich habe dir sowieso schon viel zu viel erzählt.“
Er brach sein Essen ab, da ihm der Appetit vergangen war, und warf sein halbvolles Tablett in den Schacht. „Vielen Dank!“ rief ihm Ivy hinterher, als er langsam den Essraum verließ. Sie entschloss kurzerhand, dass sie mich am Abend nach ihrer Schicht besuchen wollte um mehr über meine Mutter in Erfahrung zu bringen.
Meine Mutter saß zusammengefallen wie sie war in ihrem kleinen Schaukelstuhl und keuchte leise. Als ich eintrat hob sie leicht die Augen vom Boden um zu sehen wer gekommen war. „Hallo, Mutter.“ sagte ich leise um sie nicht zu erschrecken, jedoch erwiderte sie kein Wort.
„Ich habe mich lange nicht mehr bei dir blicken lassen, aber ich hatte zu viel bei der Arbeit zu tun. Es tut mir Leid.“ sagte ich nun und trat näher an den Stuhl.
„Du bist wie dein Vater. Kommst ab und zu vorbei wenn du nichts Besseres zu tun hast um ein wenig Mitleid zu heucheln.“ sagte meine Mutter mit einer leisen und krächzenden Stimme. Sie litt schon lange unter dem Einfluss des Schimmels und ich hatte nicht das Geld und die Mittel um sie hier rauszuholen, doch sie verstand das nicht.
„Hast du ihn wenigstens mitgebracht.“ sagte sie und hob den Kopf. Ein leichter Anflug von Freude in ihr wurde unterdrückt als sie mich mit ihren kühlen Augen ansah.
„Was meinst du?“ fragte ich und sah mich in der Hütte um. Neben dem Schaukelstuhl lief der Fernseher und in der Küche lagen die Teller auf einem unordentlichen Haufen. Eine Ratte huschte durch das Wohnzimmer und verschwand in einem Loch im Boden. Dann sah ich wieder in die Augen meiner Mutter, der Anflug von Freude war hinüber als ich keine Antwort auf ihre Frage fand.
„Dein Vater scheint schon wieder Besseres zu tun haben, als seiner Frau einen kleine Besuch abzustatten. Wenigstens bist du hier Jacky.“
Das traf mich schwer, mittlerweile war ihr Geist so benebelt, dass sie glaubte ihr Mann würde gleich durch die Tür treten und sie in die Arme nehmen, wie er es früher getan hatte - aber das würde nie geschehen.
Der Himmel verdunkelte sich und kleine Regentropfen fielen auf die Schaukel im Garten. Ich hielt dem Blick meiner Mutter nur schwerlich stand, aber ich musste sonst hätte sie gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie senkte ihren Kopf und gleichsam ihre Augen um auf den staubigen Boden zu starren. Nun konnte ich meinen Blick von ihrem frühzeitig gealterten Körper abwenden und aus dem Fenster sehen. Der Himmel war nun nur noch ein schwarzer Fleck der manchmal von grellen Blitzen durchzogen wurde. „Geh jetzt in den Garten und schaukle ein wenig, ich mache solang das Essen.“ sagte sie, obwohl sie nicht mal aufstehen konnte. Alle zwei Tage kam jemand vorbei den ich bezahlte, damit er sie versorgte.
Ich drehte mich von ihr weg um das Haus zu verlassen, da sagte sie noch: „Und vergiss nicht immer auf deinen Vater zu hören, wenn du bei seiner Arbeit spielst.“
„Natürlich, Mama.“ erwiderte ich und entfernte mich aus der baufälligen Hütte. Ich zertrat die gelbe Blume die sich mühsam ihren Weg Platz in diesem unfruchtbaren Gebiet erkämpft hatte und zündete mir eine Zigarette an. Dieser Tag konnte nicht schlimmer werden, dachte ich nur.
Rastlos schlenderte ich auf das Firmengebäude zu, meine Gedanken kreisten nur um eine Sache; War ich ein schlechter Sohn? Meine Mutter war schon lange krank, aber ich fühlte, dass etwas hätte tun können. Vielleicht hätte ich härter arbeiten müssen um meine Muter mit genug Geld aus diesem Loch holen zu können. Aber zurzeit sah ich keine Möglichkeit ihr mehr helfen zu können.
Ich öffnete die Tür und trat ein. „Sind Sie hier um jemanden zu besuchen?“ fragte die Empfangsdame. Sie hatte mich vor kurzer Zeit hinausgehen sehen, aber jetzt erinnerte sie sich nicht mehr an mich. Ich war zu unauffällig - wie ein Schatten streifte ich durch das Gebäude, niemand kannte mich, niemand kümmerte sich um mich. So war es mir recht und ich wollte nicht, dass sich das änderte. Die Anonymität half mir mich in der Arbeit zu Recht zu finden und mich aus dem größten Ärger herauszuhalten.
Im vorbeigehen zeigte ich der Dame meinen Ausweis und stieg die Treppen hinauf. ich hätte mit dem Fahrstuhl fahren können, dann wäre ich wesentlich schneller oben gewesen, aber ich wollte einfach nur gehen, immer weiter gehen.
Ich erreichte die Arbeitskammer, die seit meiner Beurlaubung nicht mehr genutzt wurde, und machte es mir auf dem Stuhl hinter dem Kontrollpult gemütlich. Mein Magen knurrte - ich hätte mir etwas zu Essen holen können, aber ich wollte jetzt einfach nur schlafen.
Der Schlaf hielt nicht lang. Ich hörte, dass jemand an die Tür klopfte und erhob mich mühselig. Ivy stand sogleich im Raum und bot mir etwas zu Essen an. Es war nun schon abends und ich hatte seit gestern nichts mehr gegessen, aber ich sagte: „Ich will nichts essen.“
„Aber du hast heute noch nichts gehabt.“ erwiderte sie ein wenig besorgt.
Warum sorgte sie sich um mich, ich kannte sie doch erst seit zwei Monaten? Für meine Verhältnisse kam sie mir ein wenig zu nah, das gefiel mir überhaupt nicht.
„Hast du nichts Wichtigeres zu tun?“ fragte ich kühl.
„Nein. Aber iss doch erstmal, ich weiß, dass du Hunger hast.“
Sie wedelte mit der Tüte vor meinem Gesicht herum und wollte mich dazu drängen sie endlich in die Hand zu nehmen und zu öffnen. Ich schlug ihr gegen die Hand, sodass sie die Tüte auf den Boden fallen ließ.
„Ich will nichts essen.“ sagte ich ein weiteres Mal, aber mit noch mehr Nachdruck.
„Warum bist du wütend, ist es wegen deiner Mutter?“
Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund und starrte mir in die Augen. Sie versuchte sich da herauszureden, aber ich merkte schon, dass Vargo wieder geredet hatte.
„Wie viel hat er dir erzählt?“ fragte ich und erwiderte ihren starren Blick.
„Was meinst du damit? Niemand hat mir etwas erzählt?“
Das war nur ein lächerlicher Versuch Vargo zu schützen, aber wusste wie ich etwas aus ihr herausbekommen würde. Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie fest im Griff. „Was hat er dir gesagt?“
„Er hat mir nur gesagt, dass du deine Mutter besucht hast!“ rief sie verzweifelt und versuchte sich aus meinem Griff zu winden.
„Mehr nicht?“ fragte ich streng und prüfend.
„Nein, das war alles!“
Sie versuchte sich immer noch herauszuwinden, körperlich und in dem was sie sagte, dachte ich. „Du lügst doch!“ setzte ich nach.
„Bitte, hör auf! Ich halt das nicht mehr aus!“ schrie sie mit verzerrten Gesicht und ich bemerkte erst jetzt, dass ihre Hand schon ganz rot angelaufen war, fast so wie ihr Gesicht. „Hör auf.“ fügte sie mit einem leise flehenden Ton hinzu. Mit einem Ruck ließ ich von ihr ab und schnappte mir meine Jacke. „Wo ist Vargo?“ fragte ich sie, während sie vorsichtig ihre Hand hielt. „Ich hatte es auch ohne ihn herausgefunden, er hat mich nur bestätigt.“ log sie und versuchte sich nicht zu verraten.
„Du hast also in meiner Akte gestöbert.“
Ich wusste, dass jeder der am Empfang arbeitete auch Zugang zu den Akten der Arbeiter hatte. Es wäre ein leichtes für sie gewesen, alles über mich herauszufinden.
„Du hast so wenig über dich erzählt, aber ich wollte dich besser verstehen, da habe ich die Akte benutzt.“ sagte sie kleinlaut.
Drohend und mit geballten Fäusten stand ich vor ihr und sah sie mit wutentbrannten Augen an.
„Verschwinde von hier und lass dich nie wieder in meiner Nähe blicken, sonst mach ich dich fertig.“ knurrte ich und deutete auf die Tür.
„Aber…“ Sie ließ ihre Hand los und machte einen Schritt nach vorne um mich zu greifen. Sie wollte nur irgendwie halt an mir bekommen, damit sie nicht meine Nähe verlieren würde. Ihr blieben alle Worte im Hals stecken als sie nach meinen geballten Fäusten griff und sie umschloss. „Schick mich nicht weg, ich liebe dich.“ flüsterte sie und hoffte auf eine positive Reaktion. Das überraschte mich zuerst, aber ich war so wütend, dass ich sie bei den Armen packte und vor die Tür setzte. Sie stolperte und setzte sich auf den Boden. „Bitte nicht, Jack.“ Ich hob eine Faust und brüllte: „Verschwinde endlich!“ Dann schlug ich die Tür so stark zu, dass der Knall im ganzen Flur nachhallte.
Einen Tag später saß ich wieder müde im Essraum und zwang mich zu essen. Vargo saß neben mir und erzählte irgendwelche Geschichten von seiner Arbeit, doch ich hörte ihm nicht zu. Plötzlich standen zwei Männer in hellen Anzügen vor mir und sahen auf mich hinunter. „Wir überbringen Ihnen diese Papiere von der Obrigkeit, bitte leisten Sie dem Aufruf folge.“ sagte der rechte und zog einen Briefumschlag aus seiner Tasche. Behutsam legte er den Brief auf den Tisch und zog sich zusammen mit dem anderen Anzugträger aus dem Essraum zurück. Die anderen Arbeiter starrten mich und den Brief an, als wäre gerade etwas Schockierendes geschehen. Das war es natürlich auch, ich hatte eine personelle Ladung der Obrigkeit bekommen, das konnte nur Ärger bedeuten. Ich nahm den Brief und öffnete ihn, mein Essen war jetzt unwichtig geworden. Es steckte ein handschriftlich beschriebener Zettel in dem Umschlag. Die Obrigkeit lädt Sie heute gegen Abend zu einem förmlichen Essen ein, wir wären sehr erfreut wenn Sie unserer Nachfrage Folge leisten. Jedoch möchten wir nicht zu viele Einzelheiten in diesem Brief beschreiben, seien Sie sich einfach nur bewusst, dass wir keinesfalls daran interessiert sind Sie zu entlassen. Wir bitten Sie nur zu den Essen zu kommen, es könnte sich auch für Sie lohnen. Unterschrieben war der Zettel von Edick G. Kolomnian höchstpersönlich. Vargo sah mich neugierig an, aber ich verriet ihm kein bisschen. Ich beendete mein Mittagessen und machte mich bereit für die zweite Schicht. „Warum sagst du mir nicht, was in dem Brief steht?“ fragte Vargo besonders interessiert, als er mir hinterher lief.
„Dir verrate ich gar nichts mehr, es reicht mir schon, dass du ihr das mit meiner Familie verraten hast.“
„Ich habe ihr nur verraten, dass du deine Mutter besuchst. Wie geht es Ivy eigentlich, sie hat sich lange nicht mehr hier unten blicken lassen?“
„Sie ist mir scheißegal, soll sie doch an ihrer Neugier verrecken!“ erwiderte ich grob und sah wir sich seine Mundwinkel nach unten senkten.
„Du willst doch heute zur Obrigkeit, da kannst du doch vorher mal bei ihr vorbeischauen. Nur ganz kurz, sie wird sich sicher freuen.“ schlug Vargo vor.
Ich blieb stehen und drängte ihn gegen die Wand, dann ergriff ich seinen dicken Hals. „Ich will nichts mehr mir ihr zu tun haben, ich will auch nichts mit dir zu tun haben. Lasst Mich einfach in Ruhe.“ schnauzte ich ihn an.
„Ist ja…gut…ich zieh mich zurück. Vielleicht…denkst du in ein paar…Tagen anders.“ keuchte er, als ich ihn losließ.
„Glaub mir, das werde ich ganz sicher nicht.“ entgegnete ich und ließ Vargo erschöpft auf dem Boden sitzen. Wegen seiner blöden Aktion musste ich mich wieder aufregen, das passte mir überhaupt nicht. Ich wusste nicht mal ob ich heute zur Obrigkeit zu diesem langweiligen Essen gehen wollte.
Schließlich stieg ich am Abend doch in den Fahrstuhl und fuhr bis in die oberste Etage der siebten Ebene. Die Fenster waren verdunkelt und eine kleine Glühbirne leuchtete über der Empfangsdame. Sie sah mich verwundert an, es kam sicherlich nicht oft vor, dass jemand in diese Etage kam. „Was wünschen Sie?“ fragte sie mit einer übertrieben fröhlichen und lauten Stimme durch den ganzen Raum. Ich ging langsam auf sie zu, das schüchterte sie - glaube ich - ein wenig ein. „Ich bin Jack, die Obrigkeit hat mich zum Essen eingeladen.“ Ich zeigte meinen Ausweis vor. „Guten Abend, Jack. Ich rufe nur schnell an, dann wird Sie jemand zur Obrigkeit führen. Nehmen Sie doch solang platz.“ Mit einer schnellen Bewegung deutete sie auf das kleine Sofa in der Ecke, auf dem ich sogleich platz nahm.
Wenige Minuten später kam durch eine weiter hinten im Korridor gelegene Tür ein großer dunkelhäutiger Mann. Er tapste unbeholfen auf mich zu und hielt schnaufend vor mir an. „Jack?“ fragte er mit einer so dunklen Stimme wie ich es noch nie gehört hatte. Ich nickte nur. „Folge mir bitte.“ Ich erhob mich von dem kleinen Sofa und folgte dem breiten Mann durch den Korridor.
So aufrecht wie ich noch nie war, saß ich auf dem Handgeschnitzten Stuhl vor einem großen dunklen Tisch. Rechts von mir saß Joe Edwardson, ein kleiner gedrungener Mann mit einem kahlen Haupt über das sich eine kleine Narbe zog. Zu meiner linken aß Ardin Healin ihre Suppe, sie war eine ältere Frau mit grauem Haar und deinem Gesicht das von vielen Falten durchzogen war. Gegenüber von uns saß Edick G. Kolomnian, ein kräftig gebauter Mann, der ansonsten wie ein durchschnittlicher Arbeiter aussah und neben ihm sein Sohn, Jon. Alle aßen ruhig ihre Suppe, nur manchmal hörte man das leise Geräusch des Schlürfens. Schließlich durchbrach Joe Edwardson die bedingte Stille. „Sie sind also ein Grad A, wie läuft die Arbeit dort?“ Seine Frage richtete sich an mich, darum legte ich den Löffel in den Teller und erwiderte: „Es beinhaltet die grundlegenden Arbeiten, die für mich keinerlei Sinn haben.“
„Dann sollten wir den Grad A abschaffen.“ lachte Joe Edwardson.
„Aber das geht nicht, sonst wäre das Alphabet der Grade in Unordnung. Wir sollten den Grad A mit wichtigerer Arbeit betrauen.“ entgegnete Ardin Healin.
„Das ist doch jetzt nicht wichtig, wir sind aus einem anderen Grund zusammengetreten.“ erhob Edick G. Kolomnian seine Stimme. Sogleich verstummten die beiden Streitenden und ließen ihn gewähren. Es sah so aus, als würden sie alles für ihn machen.
„Wir sind hier damit wir uns um die Zukunft dieses Arbeiters kümmern. Mein Sohn sagt, dass er sehr viele Talente hat die leider nicht zum Ausdruck kommen können, wenn er so einen niedrigen Stand hat. Hat jemand eine Idee, was zu tun ist?“ Er fragte ganz offen, sogar der dunkelhäutige Mann, der neben der Tür stand, hätte jetzt wahrscheinlich einen Vorschlag machen können. „Wir könnten ihm die Zulassung für den Grad D erteilen.“ schlug Joe Edwardson vor. Er war der Mann der für die morgendliche Zuteilung der Arbeit zuständig war und er war keinesfalls ein Freund von meiner Arbeitsweise. Aber wir alle wussten, dass Jon Kolomnian alles tun konnte, sogar einen Grad A Mitarbeiter wie mir alles zu geben. „Nein, das reicht nicht. Er ist der beste Arbeiter der mir in meiner ganzen Laufbahn vorgekommen ist.“ sagte nun der junge Kolomnian, er hing an dem Arm seines Vater wie ein kleines Kind und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Ein weiteres Mal erhob Edick G. Kolomnian seine Stimme und sagte: „Er bekommt die Zulassung des Grads K und eine bedingte Mitgliedschaft in der Obrigkeit.“
Den beiden anderen der Obrigkeit blieb der Mund weit offen stehen und Edick G. Kolomnian sah in ratlose Gesichter.
„Und was bedeutet eine bedingte Mitgliedschaft.“
Joe Edwardson schloss seinen Mund und erklärte: „Eine bedingte Mitgliedschaft bedeutet, dass du bei wichtigen Entscheidungen, wie dem Etat, mitentscheiden darfst, aber kein Anrecht auf die Vergünstigungen der Obrigkeit hast.“
„Melden Sie sich bei Tammy am Empfang, sie wird Sie zu ihrem neuen Büro bringen.“ fügte Edick G. Kolomnian hinzu.
„Ich bekommen mein eigenes Büro? Ich verdanke Ihnen sehr viel und möchte Sie nicht enttäuschen.“ biederte ich mich an. In dem Moment kam ich mir dreckig vor, aber ich bekam dafür eine gute Position.
„Gehen Sie nun, das Essen ist beendet. Ihr Büro in der Ebene 6 erwartet Sie.“ sagte Edick G. Kolomnian.
„Vielen Dank.“ sagte ich wieder und ließ mich von dem breiten Mann zur Empfangsdame bringen. Die Empfangsdame stand auf und sagte: „Bitte folgen Sie mir.“
Kapitel 5:
Das wirkte immer noch alles so unecht auf mich, aber ich musste mich wohl langsam daran gewöhnen. Ich saß in meinem eigenen Büro auf der Ebene 6 und konnte meine zwei Teams befehligen. Ich musste nicht mal ins Theater, um mir Arbeit zu sicher, jeden Morgen kam Ardin Healin vorbei und übergab mir die Arbeit. Ich musste sie dann nur noch auf meine Arbeiter verteilen und am Ende des Tags die Protokolle schreiben. Aber nach zwei Wochen dieser monotonen Arbeit fing ich an mich zu langweilen. Mittlerweile glaubte ich, dass mir die Obrigkeit den Grad K nur gegeben hatte, um mich aus dem Verkehr zu ziehen, aber das ließ ich nicht mit mir machen.
Am Abend, nach getaner Arbeit, zog ich meine Jacke über und stieg in den Fahrstuhl. Obwohl ich mir bei meinem Gehalt schon längst neue Kleidung hätte kaufen können, hielt ich mich immer noch bei meiner alten Jacke. Mir war irgendwie danach Jerry Edison einen Besuch abzustatten. Er war es doch gewesen, der immer gesagt hatte, dass ich nichts Wert sei und es nie zu etwas bringen würde. Ich wollte sein wütendes Gesicht sehen, wenn ich ihm von der Neuigkeit erzählte.
Der Fahrstuhl hielt und seine Türen öffneten sich. Ivy saß in ihren besten Sachen hinter dem Schreibtisch und konnte es nicht glauben, als ich aus dem Fahrstuhl trat. Mir war entfallen, dass sie ja auch hier ist.
Langsam näherte ich mich dem Tisch und legte meine Hände auf die Ecken. „Ich möchte gern zu Jerry Edison.“ sagte ich.
„Jack“, sagte sie nun fast sprachlos, „Können wir nicht noch mal darüber sprechen, ich weiß jetzt, dass du dein Privatleben für dich behalten willst. Bitte, sprich wieder mit mir.“
„Ich möchte einen Termin bei Jerry Edison. Beeil dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ sagte ich und ignorierte ihre Bitte.
Nun merkte sie, dass sie nicht mehr mit mir sprechen konnte und gab es auf. Mit einer leisen und vorsichtigen Stimme, um nicht gleich in Tränen auszubrechen, sagte sie: „Er hat zurzeit nichts zu tun, du kannst gleich zu ihm gehen.“
„Vielen Dank.“
Ich trat ohne zu klopfen in das Büro von Jerry Edison ein und setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Entspannt legte ich die Füße auf den Tisch und sagte: „Hallo, Jerry. Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut und dir?“ entgegnete er kühl.
„Es könnte mir nicht besser gehen, ich habe ein Büro auf der sechsten Ebene, mehrere Arbeiter stehen mir zur Verfügung und ich habe eine bedingte Mitgliedschaft bei der Obrigkeit. Ich wie läuft es bei dir?“
„So wie immer. Vielleicht interessiert es dich ja, dass ich nach einer neuen Empfangsdame suche, meine alte ist ein wenig faul in der letzten Zeit.“
„Du willst sie doch nur feuern, weil du mich damit verletzten willst. Aber ich muss dich enttäuschen, ich habe nichts mehr mit ihr zu tun.“
Seine Mundwinkel zogen sich ein wenig nach oben und zeigten mir seine gelben Zähne. Was hatte er vor, warum sah er mich so an? Es musste irgendetwas geben, weshalb er sich überlegen fühlte. „Warum grinst du?“ fragte ich.
„Ich finde es nur belustigend, dass du etwas mit meiner Tippse hattest, obwohl du in der Ausbildung doch immer gesagt hast, dass dir Freunde lästig sind.“
„Wir waren nicht zusammen. Ich hatte nie vor mit ihr befreundet, sie kam einfach immer wieder an.“
„Na gut, es war schön mal mit dir gesprochen zu haben, aber jetzt muss ich wichtigerem zuwenden. Und ich werde sie trotzdem entlassen.“
Er reichte mir die Hand und ich erwiderte seinen Handschlag nur widerwillig. „Ich hasse dich.“ sagte ich und verließ schnellen Schrittes sein Büro.
Ich hielt abrupt vor dem großen Schreibtisch von Ivy und fasste mir an den Kopf, dann drehte ich mich zu ihr um. „Willst du bei mir arbeiten?“
„Du willst, dass ich bei dir arbeite?“ fragte sie verwundert.
„Jerry hat gesagt, dass er dich feuern will und ich denke, dass du gut arbeitest und meine Empfangsdame ist nicht so gut.“
Die Worte kamen mir nur schwerlich über die Lippe und sie merkte, dass ich mich dazu zwingen musste.
„Wann kann ich anfangen?“
„Morgen.“
„Ich werde auf jeden Fall da sein.“
„Aber ich mache das nur, weil du gut und schnell arbeitest, aus keinem anderen Grund.“
„Okay.“ sagte sie ein wenig enttäuscht, aber immer noch froh genug um sich nichts anmerken zu lassen.
„Dann gehe ich jetzt wieder.“
Ich entfernte mich von dem Schreibtisch und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Der Fahrstuhl erreichte die Etage und ich trat ein. Mit dem Gesicht von ihr abgewandt, sagte ich: „Du warst eben nur neugierig, da kann ich nichts bei machen.“
„Es wird nie wieder vorkommen.“ erwiderte sie.
Ich nickte und die Fahrstuhltüren schlossen sich hinter mir.
Mit einem leichten Niesen begrüßte ich die ankommende Morgensonne in meinem Büro. Ich war an meinem Schreibtisch eingeschlafen und hatte die ganze Nacht hier verbracht, anstatt in meinem kleinen Schlafzimmer mit dem sauberen Bett. Die Arbeit war zu langweilig gewesen, aber ich hatte sie noch rechtzeitig fertig bekommen bevor mir die Augen zufielen. Im selben Moment in dem ich das gedacht hatte, klopfte es an meiner Tür und Ardin Healin trat ein.
„Hier sind die Protokolle.“ sagte ich schlaftrunken.
„Und hier ist ihre Arbeit.“ erwiderte sie und nahm sich die Protokolle vom Tisch und legte im Gegenzug die neue Arbeit ab.
„Sie scheinen schlecht geschlafen zu haben.“ bemerkte sie.
„Nicht so schlecht wie sonst.“ entgegnete ich und gähnte. Ich nahm die Arbeit zur Hand und bedankte mich bei Ardin Healin, dann schloss sich die Tür auch schon wieder und ich war allein in dem großen Büro. Schnell überflog ich die Arbeit und verteilte sie auf die Arbeitskästen der beiden Team, damit war die Arbeit für die erste Stunde getan.
Ich ging aus meinem Büro zu meiner Empfangsdame und stellte mich neben den Schreibtisch.
„Gibt es ein Problem?“ fragte sie freundlich.
„Ja, ich muss Ihnen leider sagen, dass ich Sie entlassen muss. Bitte, räumen Sie den Schreibtisch und verlassen Sie Ihren alten Arbeitsplatz.“
Sie nickte nur und machte sich daran die wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken. Das lief einfacher als ich zuerst gedacht hatte, sie sagte kein Wort als sie die Etage über den Fahrstuhl verließ. Ehrlich gesagt, hatte ich kein Mitlied mit ihr, sie würde von der Obrigkeit sicher einen neuen Arbeitsplatz bekommen. Und wenn sie keinen bekam, dann war mir das auch relativ egal.
Als die entlassene und geknickte Empfangsdame den Fahrstuhl betrat, kam Ivy die Treppen hoch und stellte sich wie beim Militär vor mir auf.
„Ich bin bereit für meine Arbeit.“ sagte sie entschlossen.
„Hast du gar keine Sachen dabei?“ fragte ich, da sie nur ihre Tasche mit den Arbeitssachen drin dabei hatte.
„Was meinst du?“
„Die Empfangsdamen für den Grad K bekommen einen Raum neben dem Büro, damit sie nicht so weit laufen müssen. Diese Dame hatte ihren nicht genutzt, weil sie abends zu ihrer Familie fuhr.“ klärte ich sie auf.
„Das wusste ich nicht. Ich frage nur ungern, aber hilfst du mir beim tragen?“
„Dafür gibt es den Aufzug.“ entgegnete ich und schritt auf den Flur zu meinem Büro zu. „In einer halben Stunde will ich dich an deinem Arbeitsplatz sehen, sonst bist du gleich wieder gefeuert!“ rief ich noch bevor ich die Tür meines Büros schloss.
„Okay!“ rief sie und lief die Treppen wieder hinunter. Sie lief so schnell sie konnte, obwohl sie dafür auch den Fahrstuhl nehmen konnte. Aber aus irgendeinem Grund - den sie selber wahrscheinlich nicht mal kannte - lief sie jedes Mal die Treppe rauf und runter.
Eine halbe Stunde später verließ ich mein Büro wieder um zu sehen ob sie auch an ihrem Platz war. Langsam schritt ich durch den Korridor um ihr, wenn sie noch nicht da war, ein wenig Zeit zu geben. Aber das war nicht nötig, sie saß auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch und änderte den Zugangscode für den Computer.
„Du bist ja doch schon hier.“ sagte ich und sah von oben auf sie herab.
„Ja.“ erwiderte sie einsilbig und ließ sich nicht davon abbringen die Tastatur des Computers zu bearbeiten. Ivy hatte ihr Gesicht von mir abgewandt und tippte immer schneller auf den Tasten herum.
„Was hast du?“ fragte ich.
Sie schlug mit der Faust auf die Tastatur und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Auf einmal fing sie jämmerlich an zu weinen und überraschte mich auf dem falschen Fuß.
„Es tut mir ja Leid, dass ich so abweisend bin, aber deswegen brauchst du doch nicht heulen.“ gab ich zu, um sie ein wenig zu beruhigen.
„Das ist doch nicht deswegen!“ entgegnete sie laut und hob ihren Kopf um in meine Augen zu sehen. Unterhalb ihres rechten Auges hatte sie einen dicken und dunklen Fleck. Aus ihrer Nase tropfte Blut auf die Tastatur und ihre Hände waren mit Schürfwunden übersät. „Wer war das?“ fragte ich sofort.
„Diese Typen haben mir auf der vierten Ebene aufgelauert, gerade als alle gegessen haben und niemand in der Nähe war. Dann haben sie auf mich eingeschlagen, mein ganzer Körper schmerzt.“ erwiderte sie schluchzend.
„Hast du es gemeldet?“
„Wenn ich es melde, werden sie mich bestimmt töten. Ich habe Angst, Jack.“
Mit ihren großen Tränenunterlaufenen Augen starrte sie mich an und ich hatte keine Idee was ich machen sollte. Doch dann fiel mir etwas ein.
„Welche Typen waren das?“
„Das war der Typ den du im Essraum verprügelt hast, zusammen mit seinem Freund. Sie haben gesehen, dass ich dir geholfen habe und jetzt wollen sie wahrscheinlich uns beide töten.“
„Dazu wird es nicht kommen.“
Sie senkte ihren Kopf ein wenig und kratzte sich mit ihren Fingern am Kopf, doch sie ließ schnell davon ab weil sie zu sehr schmerzten.
„Sind sie immer noch in der vierten Ebene?“
„Ja, sie wollten sich dort ein wenig entspannen nachdem sie mich verprügelt haben. Aber was hast du vor?“
In ihrer Frage steckte furcht vor einer unüberlegten Handlung von mir. Sie wusste, dass ich schnell die Kontrolle verlor und wollte das verhindern.
„Wenn ich Glück habe, kann ich sie überraschen.“ sagte ich und war mir jetzt schon sicher, dass ich gewinnen kann. Sie waren zwar zu zweit, aber wenn ich die richtigen Mittel hatte um sie mir von Leib zu halten, dann könnte ich es schaffen. Ich war mir so sicher, dass ich es schaffen würde, dass ich alle Gefahren übersah.
„Hör bitte auf damit.“ sagte Ivy und stand nun auf, um mich notfalls mit Gewalt aufzuhalten. Obwohl sie sich sicher war, dass sie mich mit Gewalt nicht aufhalten konnte. In ihren Augen wirkte ich manchmal wie ein gefährliches Tier, das nur den kleinsten Grund brauchte um loszuschlagen.
„Ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht mehr verletzen können.“
Unbeholfen schloss ich sie in meine Arme und versuchte nicht ihre Wunden zu treffen. Sie atmete ganz ruhig und ich konnte ihr Herz sehr schnell schlagen spüren. Sie hob ihren Kopf um mir in die Augen zu sehen. „Du könntest deine Arbeit verlieren.“ sagte sie als einziges Argument. Dabei war mir zu dem Zeitpunkt relativ egal, was aus meiner Arbeit werden würde, ich wollte sie nur beschützen. Erst jetzt wurde mir klar, dass sie die einzige Frau war, der ich etwas bedeutete und die mir etwas bedeutete. Ich wünschte dieser Moment in dem ich ihre Wärme spüren konnte, würde ewig dauern, aber das durfte er nicht. Ich hatte etwas zu tun, etwas sehr wichtiges. „In der obersten Schublade meines Schreibtischs ist das Geld, das ich gespart habe. Nimm es und fahr mit dem Fahrstuhl bis zum Erdgeschoss und warte dort auf mich. Wenn ich nicht komme, dann geh zu Jon Kolomnian und erzähl ihm davon.“ erklärte ich ihr schnell.
„Und was machen wir, wenn du kommst?“
„Dann habe ich wahrscheinlich einen Menschen getötet und wir brauchen das Geld um unterzutauchen. Wir beginnen dann ein neues Leben, nur wir beide.“
Das ging mir so einfach von den Lippen, dass es Ivy erschrak, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
„Ich werde dir überall hin folgen, sogar in den Tod.“
Das erschrak mich jetzt, ich wusste nicht, dass ihre Zuneigung so groß war. Ich schloss sie fester in meine Arme, als wolle ich sie nie wieder loslassen. Ich senkte mein Kopf und küsste sie, aber kurz darauf löste ich mich von ihren Lippen und sagte mit leiser Stimme: „Bist du bereit?“
„Ja.“ erwiderte sie noch leiser als ich und wir nickten beide. Dann entließ ich sie aus dieser unendlichen Umarmung und wir taten das was wir abgemacht hatten. Vielleicht hätte ich selber zu Jon gehen sollen, aber ich wollte die Lebensgeister aus diesen Schweinen entschwinden sehen, das wollte ich mir um keinen Preis entgehen lassen. Als ich heute aufwachte, hätte ich mir nie denken können, dass dieser Tag so mies endet. Aber was konnte das auch für ein Tag werden, wenn der Morgen ein guter Morgen war.
Das würde mal wieder einer dieser Tage werden, die sich so anfühlten als würden sie niemals enden. Das wusste ich schon als ich aufwachte. Die Durchsage der Obrigkeit kam durch den Lautsprecher neben mir und weckte mich unsanft aus meinem tiefen Schlaf. Jeden Tag kam diese Durchsage mit derselben Lautstärke aus dem Lautsprecher.
Wie an jedem anderen Morgen auch hörte ich diesen monotonen Satz, der fortlaufend wiederholt wurde, und das eine Viertelstunde lang. Es klang kaum noch wie die Worte eines Mensches, viel eher wie die metallenen Laute einer Maschine. „Jeder Morgen ist ein guter Morgen.“ rief sie mir durch den Lautsprecher zu. Ich fragte mich an jedem Morgen wieder, was an ihm so gut sein sollte. Ich kam zu dem Entschluss, dass sie mich anlogen. Ein Morgen konnte nicht gut sein, so viel war klar.
Das erste was ich tat als ich aufwachte, war natürlich die Augen öffnen, aber danach streckte ich meine Hand aus und taste müde nach einer Zigarette. Als ich sie dann endlich gefunden hatte zündete ich sie an und nahm einen tiefen Zug. Das erste was meine Lunge am Morgen bekam, war also nicht der Duft des noch jungen Tages, sondern die harte Realität einer Zigarette. Der Rauch füllt meine Lungen und mit einem müden Seufzer entließ ich den blauen Dunst. Danach stehe ich von meiner blauen Pritsche mit den aufgenähten weißen Punkten auf und strecke mich. An so einem guten Morgen wird jede Bewegung zur Qual. Am liebsten würde ich den ganzen Tag in dem ungemütlichen Bett liegen bleiben, eine Zigarette nach der anderen rauchen und dabei zusehen, wie ich langsam sterben würde. Aber leider musste ich zur Arbeit.
Ich senkte meine Arme wieder aus ihrer gestreckten Position und sehe mir die spärliche Bettwäsche an. Die Matratze die auf dem Boden liegt ist ungefähr so gemütlich wie ein Stein und die Decke ist nicht mal so lang, dass sie meine Füße bedeckt. Doch das war die Standardausrüstung für einen Arbeiter mit meinem niedrigen Dienstgrad, deswegen konnte ich mich nicht beschweren.
Langsam löse ich mich von dem jämmerlichen Anblick meiner Schlafstätte und mache mich daran meine Sachen überzuziehen. Ich muss sie an jedem Abend vor dem schlafen gehen waschen, damit ich sie am nächsten Tag wieder anziehen kann. Für mehr als die paar Sachen reichte das Geld leider nicht. Wenigstens ist es nachts nicht so warm, wenn ich ohne Kleidung schlafe. Ich ziehe meine dunkle Jeans an und schließe den Reißverschluss, dann streife ich mein weißes T-Shirt über und zum Schluss ziehe ich meine schwarze Jacke an. Diese Jacke mit dem kleinen Loch am Rücken und der großen Kapuze besitze ich nun schon seit 20 Jahren. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie mein Vater mir diese Jacke an meinem Geburtstag geschenkt hatte. Sie war sein Ein und Alles und dass er sie mir schenkte, war das größte Glück in meinem leidigen Leben. Einen Tag später wurde er von den Anderen getötet, einfach ausgelöscht. Deswegen bin ich auch hier gelandet, ich wollte als Kind eigentlich einen Job in der Obrigkeit und jetzt sitze ich auf diesem Posten fest, keinen Anreiz weiter zu machen. Ich habe mich damit abgefunden, dass man dem einfachen Mann nicht helfen kann, weil er keine Hilfe will. All diese kindlichen Vorsätze sind verschwunden und haben ganz langsam Platz gemacht für die Wahrheit. Es ist eine harte Wahrheit, aber ich muss mich damit abfinden. So lebe ich jeden Tag, ohne das Verlangen nach Gerechtigkeit, dass man bei meinem Job eigentlich haben sollte.
Nachdem ich einen letzten Blick auf die Unordnung in meinem Bett geworfen hatte, steckte ich mir die Zigarettenschachtel in die Brusttasche meiner Jacke und öffne die rostige Eisentür. In dem weißen Korridor scheinen die grellen Neonlampen und bringen meine Augen fast zum Tränen. Genau wie bei den Lautsprecher konnte man die Intensität der Lampen nicht ändern, sodass ich jeden Morgen in diese grelle und sterile Welt eintrat und mich jedes Mal wie ein Fremder fühlte. Der Korridor war das vollkommene Gegenteil zu meinem kleinen Raum. Aber ich dachte mir, dass es vielen so ging, denn die Zimmer links und rechts von meinem sahen alle identisch aus. Gleichheit um die Gerechtigkeit zu wahren, hieß es von der Obrigkeit immer.
Ich setzte einen Fuß aus der Tür und bleibe vor der kleinen weiß schimmernden Bank die meinem Raum gegenüber liegt stehen. Der Mann der auf der Bank sitzt muss leicht lachen und während er lacht sagt er: „Du siehst müde aus, Jack.“ Jetzt, da sich meine Augen an das grelle Licht gewöhnt haben, erkenne ich den Mann besser, es ist Vargo, er ist sozusagen mein Freund. Eigentlich habe ich keine Lust und keine Zeit für Freunde, aber Vargo ist jeden Tag wieder da und bedrängt mich mit seiner Anwesenheit, also sollte ich ihn meinen Freund nennen. „Bist du bereit für das morgendliche Treffen?“ fragt er mich und ich nicke nur leicht. Ich weiß ganz genau, dass ich ihn jeden Morgen anlüge, wenn ich notgedrungen nicke, aber ich belüge sogar mich selbst. Vargo richtete sich zu seiner vollen Größe auf - selbst dann war er noch einen Kopf kleiner als ich - und lächelt mir ins Gesicht. Ich frage mich, wie er jeden Morgen so gut gelaunt sein kann. Er richtete seine braune Krawatte und schreitet voran den Gang entlang und ich folge ihm schweren Schrittes. Wir gehen eine breite weiße Treppe herunter, direkt in die Menschenmenge der wartenden Leute. Sie warten darauf, dass sich das Tor vor ihnen öffnet und sie in das kleine Theater gehen können, in dem der morgendliche Bericht und die Arbeitsverteilung stattfinden, wer da zu spät kommt, bekommt nur noch die miesen Arbeiten. Ich bin einmal zu spät gekommen, danach nie wieder.
Vargo tippt mir ungeduldig auf die Schulter, bis ich mich endlich zu ihm umdrehe und frage was er hat. Er deutete auf ein Fenster vor dem einer der Obrigkeit mit einer neuen Angestellten stand, er wies sie gerade ein. Ich wunderte mich über sie, weil sie noch sehr jung war, höchstens 22. Normalerweise stellte die Obrigkeit nur Leute ein die Erfahrung hatte, aber dann fiel mir wieder ein, dass sie auch häufig welche einstellte die das nötige Kleingeld mitbrachten. Meistens verstanden diese Leute, die uns dann sponserten, unsere Arbeit als einen kleinen Urlaub oder als Abenteuer. Ich musste schon mal mit so einem reichen Mistkerl zusammenarbeiten, bis ich ihm bei einem Unfall den Arm brach. Das war dann das Ende seines munteren Ausflugs. Vargo, der nun neben mir stand, flüsterte mir ins Ohr: „Hoffentlich kann ich mit ihr zusammenarbeiten, ich könnte ich ein paar Handgriffe zeigen die sie sonst nicht lernen würde.“ Ich ignorierte seine Anspielung und sah den beiden weiter zu. So wie sie sich gab, wirkte sie keinesfalls wie ein so genannter ‚Arbeitstourist’, sie hatte denselben Ausdruck in ihren Augen wie ich, als ich hier anfing. Sie wollte wirklich hier arbeiten, mit Leib und Seele, auch wenn sie beides dafür verschenken musste. Vargo bemerkte nur eins, er sagte: „Sie ist wirklich attraktiv.“ Dabei nahm er seine dicke Brille ab und machte sie an seinem blauen Pullover sauber. Obwohl ich seine weiteren Anspielungen, die danach noch folgten, ziemlich abstoßend fand, konnte ich mich nicht dem Eindruck erwehren, dass sie äußerst gut aussah. Ihre schwarzen Haare, die ihre nicht ganz bis zu den Schultern gingen, schimmerten in dem aufkommenden Licht der Sonne leicht gräulich und ihr junges reines Gesicht zeugte davon, dass sie in ihrem Leben noch nicht viel Schmerz erlitten haben musste. Die Massen drängen mich nun allmählich in das nun geöffnete Theater, aber ich kann noch einen letzten Blick von ihrem Gesicht erhaschen. Sie dreht sich zusammen mit dem Mann der Obrigkeit zu dem Theater herum und blickt direkt mit ihren blauen Augen in meine braunen, von Verbitterung gepeinigten Augen, dann verschwinde ich gänzlich im Theater und verliere sie aus den Augen. Ich wusste nicht, wie sie reagiert hatte auf diese dunklen Augen, die sie aus einem grauen Brei von Menschen ansahen, dazu reichte der Augenblick nicht lang genug.
Langsam verbanne ich die Frau in die hinterste Ecke meines Kopfes und setzte mich auf einen der vielen braunen Sitze. Früher, als ich hier mit 16 Jahren anfing zu arbeiten, waren die Sitze gerade neu bespannt worden und damals schimmerten sie noch rötlich. Als mir das Wort ‚damals’ in den Sinn kam, fühlte ich mich auf einmal so alt, trotz meiner 30 Jahre. Aber da kam mir auch wieder der Gedanke an den Satz von Vargo: „Man fühlt sich morgens immer alt.“ Das war eine der Moment, in denen ich ihm zustimmen konnte, aber das kam nicht oft vor. Wir beide waren einfach viel zu verschieden um wirklich einmal dieselbe Meinung zu haben, deswegen arbeitete ich auch nie mit ihm zusammen. Mein Partner bei der Arbeit saß nun neben mir in dem Theater. Er wurde von allen immer nur J.O. genannt, seinen richtigen Namen wollte ich auch nie erfahren. J.O. war eine rundliche und glückliche Person, aus seiner Sicht waren die anderen Menschen mager und er war genau richtig. Aber nicht nur Fett hatte er viel, er besaß auch ein sehr großes Selbstbewusstsein. Er sagte immer, dass er an seinem ganzen Körper kein einziges Haar besaß und ich erinnere mich noch daran wie er einmal sagte, dass er seit seiner Geburt schon ohne ein einziges Haar lebt.
Wie in einem Zeitraffer erleuchtet sich das Theater nur ganz langsam bis schließlich der ganze Raum erhellt ist und ich wieder mit den Lichtverhältnissen kämpfen muss. Das belustigt J.O. jeden Morgen und er lacht jedes Mal laut los, sodass sich die anderen Menschen zu ihm umdrehten, um zu sehen woher das belästigend laute Gelächter kam. Doch dann herrschte vollkommene Stille, kein Geraune von den vorderen Sitzen, kein lärmendes Lachen von J.O, einfach nur Stille. Die Lichter unterhalb der großen Bühne fingen an zu leuchten und ein älterer Mann mit einem schweren Umhang trat hervor. Er hob seine Hände als wolle er, dass es noch ruhiger im Theater wurde und begann zu sprechen. Seine Stimme war laut und durchdringend und sie erfüllte den gesamten Raum. „Wir beginnen nun mit der Arbeitsverteilung, aber vorher möchte unser Rechtsbeamter ein paar Worte sagen!“ Der ältere Mann trat wieder zurück und ein magerer Mann in den Vierzigern trat aus der dunklen Ecke der Bühne hervor um zur Menge zu sprechen. Er trug einen dunkelblauen Anzug und eine dicke Sonnenbrille auf der Nase. Ich kannte ihn eigentlich ganz gut, wir hatten oft miteinander zu tun, wenn der Obrigkeit nicht gefiel wie ich arbeitete. Sein Name war Harry Roots und soweit er es mir erzählt hatte, besaß er keine Familie. Er hob ebenfalls seine Arme um zu sprechen und sagte mit einer wesentlich ruhigeren Stimme: „Vor ein paar Tagen ist uns zu Ohren gekommen, dass wir Spione in unseren Reihen haben, darum muss jeder Vorgang genau beschrieben werden. Wir wollen ganz genau wissen wann ihr was tut.“
„Wollen Sie auch wissen, wann wir auf Klo gehen!“ platzte es aus mir heraus. Eigentlich wollte ich mich ruhig verhalten, aber diese übertriebene, fast schon ängstliche, Vorsichtig ging mir zu weit. Der Mann von der Obrigkeit und Harry Roots warfen mir einen bösen Blick zu, dann fuhr er unbeeindruckt fort. „Natürlich wollen wir nur die für die Arbeit relevanten Dinge wissen. Außerdem haben wir bereits eine Person entlassen und seine Stelle sofort neu besetzt, aber laut unseren Informationen gibt es noch wesentlich mehr Spione.“ Er schloss seinen Satz ab und blickte jeden im Theater mit vorwurfsvollen Augen an. „Das war dann auch alles, Sie werden jetzt Ihre Arbeiten zugeteilt bekommen.“ Nun trat Harry Roots zurück und verließ die Bühne. Ich dachte mir schon, dass er heute bestimmt wieder zu mir kommen würde. Wenn es Probleme gab, kam er immer als erstes zu mir. Der Mann der Obrigkeit machte sich nun daran die Arbeiten unter die wartende Menge zu bringen, indem er immer wieder die Nummer aufrief bis schließlich jemand den Auftrag annahm.
Mit meinem Kinn auf die Hand gestützt saß ich in dem großen Essraum des Hauses, außer mir waren schon alle gegangen um zu arbeiten. Ich saß da, vollkommen verlassen auf der weißen Bank und steckte mir müde irgendein synthetisches Essen in den Mund, ich glaube es sollte ein Brot sein. Meistens schmeckte das Essen eh nur wie Pappe, aber manchmal roch es wenigstens wie Essen. Langsam kaute ich das Stück und schluckte es herunter, da kam J.O. in den Essraum. J.O. setzte sich vor mir auf die Bank und blickte sich in dem leeren Raum um. „Die sind schon alle arbeiten, nehmen sich keine Zeit das Essen zu genießen.“ sagte ich ironisch.
„Wir sollten auch schon längst bei der Arbeit sein.“ entgegnet J.O. ernst.
„Ja, ich weiß, aber ich bin noch zu müde. Wir können in einer Stunde anfangen, dann bin ich mit dem pappigen Essen fertig.“
„Du hast wirklich eine miese Einstellung, deswegen habe ich auch beantragt einen neuen Posten zu bekommen.“
Er sah mir nicht mal in die Augen, als er mich so hinterging. Wahrscheinlich hatte er das schon seit Wochen geplant und mir kein Wort gesagt. Wäre ich nicht zu müde gewesen, hätte ich ihn gleich quer durch den Essraum geworfen. Wir arbeiteten schon seit mehr als zwei Monaten zusammen, so lange war noch niemand geblieben. Und jetzt wollte er wegen so einer Kleinigkeit aufhören.
„Und wo willst du jetzt arbeiten?“ fragte ich ihn noch ruhig.
„Bei Jerry Edison ist der Posten des Aufsehers frei geworden, nachdem sein vorheriger Aufseher gefeuert wurde. Du weiß schon, wegen der Sache mit den Spionen.“
„Ja, ich verstehe schon. Weil der Aufseher von Jerry Edison - dem größten Idioten in der Firma - ein Spion war, hast du endlich deine Chance bekommen abzuhauen.“ sagte ich und versuchte immer noch meine Wut zu unterdrücken.
Nun hob J.O. seinen Kopf und sah mir ins Gesicht, endlich stellte er sich mir.
„Das hat sich kurzfristig ergeben, er hat bei mir angefragt, da konnte ich doch nicht nein sagen. Er darf Fälle des Grades E bearbeiten, du hättest die Chance doch auch wahrgenommen, wenn du sie bekommen hättest.“
„Nein, das hätte ich nicht, weil ich meinen Partner nicht verrate.“
Wäre J.O. jetzt nicht aufgestanden, hätte ich mich vielleicht nicht mehr beherrschen können, aber er tat das einzig richtige und ging. Ich sah ihm noch hinterher bis sich die Flügeltür des Essraums schloss, dann widmete ich mich wieder meinem pappigen Essen. Das Essen widerte mich an, es triefte, es stank und mir war der Appetit vergangen. Mit einer schnellen Handbewegung schmiss ich das Tablett über den ganzen Tisch bis es am anderen Ende mit einem klatschenden Geräusch an der Wand landete. Jetzt konnte ich die Arbeit vergessen, ich würde den ganzen Tag damit verbringen bei der Obrigkeit einen neuen Aufseher zu beantragen. Bestimmt würde es Wochen dauern bis ich meine Arbeit wieder aufnehmen konnte, weil ich die ganze Zeit darauf warten müsste einen neuen Aufseher zu bekommen.
Ich warf meine Jacke über und verließ den Essraum. An der Wand gelehnt, mit einer Zigarette im Mund, stand Harry Roots. Er stieß sich von der Wand ab und folgte mir durch den Gang. „Hey, Jack! Ich möchte mich ein wenig mit dir unterhalten!“ rief er mir hinterher, weil ich ihn ignorierte. Ich blieb nur kurz stehen, damit er aufholen konnte, dann ging ich weiter durch den weißen Gang. „Normalerweise werde ich doch erst am Abend mit deiner Anwesenheit belästigt.“ sagte ich abfällig.
„Mann, Jack. Die Lage ist wirklich ernst. Du solltest dich wirklich nicht so auffällig verhalten, sonst werden die da oben auf dich aufmerksam. Die Aktion im Theater war völlig unnötig.“
Harry nannte die Männer von der Obrigkeit immer ‚die da oben’, als wären es Götter oder irgendwelche andere übernatürliche Wesen. Meistens fand ich das recht belustigend, nur heute nicht. Er hatte Recht, die Obrigkeit sah mir bei jedem Handgriff auf die Finger, ich konnte keinen Schritt machen ohne von ihren Kameras beobachtet zu werden. Die Obrigkeit sagte zwar immer, dass sie ihre Arbeiter nicht mit Kameras überwachen würde, aber ich konnte die kleinen Dinger sofort entdecken. Sie versteckten sie überall, aber meistens waren es bewegliche, nur wenige Millimeter große Kameras die einem bei jedem Schritt folgten. Vor einigen Jahren hat das einen in den Wahnsinn getrieben. Der Typ dachte immer und überall beobachtet zu werden, irgendwann hat er es nicht mehr ausgehalten und ist aus dem Fenster im 30. Stockwerk gesprungen. Ich kannte ihn nicht, aber Vargo, der immer über alles Bescheid wusste, hat mir die Geschichte erzählt. Seitdem überwacht die Obrigkeit uns nicht mehr so auffällig und nur noch Arbeiter die besonders ‚seltsam’ waren.
Vor der Treppe blieb ich stehen und sagte zu Harry: „Falls du mich heute noch suchst, ich bin bei der Obrigkeit.“ Ich dachte, dass ich ihn so loswerden würde, aber er erwiderte: „Das passt gut, dann kann ich dir alles erklären. Ich muss auch zu denen für den wöchentlichen Report.“ Also folgte er mir.
Nachdem wir auf der vierten Ebene waren, konnten wir endlich den Fahrstuhl betreten. Dort empfing uns eine kühle Luft und durch die Lautsprecher drang Musik die auf mich sehr ermüdend wirkte. Wäre Harry nicht neben mir, hätte ich die ganzen zehn Minuten, die der Fahrstuhl brauchte um die oberste Ebene zu erreichen, durchgeschlafen.
Das Gebäude war 70 Stockwerke hoch und immer zehn Stockwerke waren in eine Ebene geteilt. Die Eben der Obrigkeit war die 7., aber dort war der Zugang zum 69. und 70. Stockwerk allein für die Männer der Obrigkeit bestimmt. Außer bei der morgendlichen Arbeitsverteilung und an bestimmten Tagen, bekam man die Männer der Obrigkeit nicht zu sehen. Ich musste für meinen Antrag in den 62. Stock der 7. Ebene, wohin Harry wollte wusste ich nicht.
Als die Türen geschlossen waren und der Fahrstuhl sich langsam in Bewegung setzte, fing auch Harry wieder an zu reden. „Die Obrigkeit will dich demnächst prüfen, sie wollen dir einen Tag lang bei der Arbeit zusehen. Also kannst du nicht wie sonst eine Stunde später anfangen als du es normalerweise machen solltest. Wenn du dir da einen Fehler erlaubst, bist du gefeuert. Sie haben mich damit beauftragt, deine Arbeit zu filmen und dich zu beurteilen. Ich würde dir gern helfen, aber du musst dir helfen lassen. Wenn das so weiter geht wie jetzt, dann werde ich denen die gesamte Wahrheit zeigen. Aber wenn du dich ändern willst, dann kann ich bei dem Urteil ein wenig nachhelfen.“
„Ich brauche deine Hilfe nicht.“
„Das weiß ich auch, du willst die Hilfe von niemand, aber so kommst du nicht weit. Lass dir wenigstens einmal helfen. Ich habe dir auch gesagt, dass ich dir einen Aufseher besorgen kann, der besser zu dir passt und dich bei der Arbeit besser unterstützt, aber die Hilfe wolltest du auch nicht.“
„Na gut, wenn du mir schneller als die Obrigkeit einen Aufseher besorgen kannst.“
„Das kann ich nicht, es geht kein Weg an denen da oben vorbei.“
„Dann brauche ich deine Hilfe auch nicht.“
„Sei doch vernünftig. Ich kannte deinen Vater, er war einer unserer Besten. Du könntest auch einer unserer Besten sein, wenn du nicht so disziplinlos wärst.“
„Du musst mir nicht erzählen, dass du meinen Vater kanntest, das weiß ich noch. Ich weiß auch noch, dass du meine Mutter sehr gut kanntest, zu gut.“
Nachdem ich das gesagt hatte, machte Harry eine ablehnende Handbewegung und schüttelte den Kopf.
„Du weiß ganz genau, dass das nicht stimmt. Ich war ein Freund deines Vaters, und deiner Mutter. Nur ein Freund.“
„Das erzählt mir jeder.“
„Du willst es einfach nicht verstehen. Wenn du meine Hilfe nicht willst, dann nützt es mir auch nicht dich weiter retten zu wollen.“
Harry drückte auf den Knopf und der Fahrstuhl kam langsam zum stehen, dann öffneten sich seine Türen. Harry trat aus dem Fahrstuhl und drehte sich zu mir um. „Ich dachte, du wolltest auch nach oben.“ sagte ich.
„Nein, ich wollte dich retten.“ erwiderte Harry bedrückt und die Türen schoben sich wieder zu. Nun war ich allein in dem Fahrstuhl, ich lehnte mich an die Wand und schloss meine Augen.
Der Fahrstuhl wurde langsamer bis er schließlich ganz anhielt, dann öffneten sich seine Türen und ich schlug meine Augen auf. Der 62. Stock, genau wohin ich wollte. Die Dame hinter dem breiten und hohen Tisch sah mich an und grinste breit, mir fiel natürlich gleich auf, dass es ein falsches Grinsen war. Am liebsten hätte mich die Frau den Fahrstuhlschacht hinuntergeworfen und hätte sich der Pflege ihres makellosen Gesichts gewidmet. Aber der Eindruck der Makellosigkeit täuschte, als ich näher herantrat konnte ich sehen, dass nur versucht künstlich jung zu bleiben. Wahrscheinlich hatte sie schon mehrere Schönheitsoperationen hinter sich und das bei ihrem miesen Gehalt. Bestimmt erschreckt sie sich jeden Morgen, wenn sie sich im Spiegel ansieht und fragt sich warum sie altern muss, dann wird sie versuchen das Alter unter einer Schicht von Make-up zu verstecken. Den Satz ‚in Ehren altern’ hatte man ihr wohl nie so richtig erklärt. Obwohl mich ihr künstliches Gesicht anwidert, bleibe ich freundlich und frage: „Wo sind die Anträge Nr. 12a zu finden?“ Ich war schon so oft hier, dass ich ganz genau wusste, wie der Antrag hieß.
„Sie sind da wo sie immer sind, Jack, die erste Tür rechts.“ sagte die Empfangsdame mit einer piepsigen Stimme. Ich war wohl doch schon öfter hier als ich vermutete, die Dame kannte schon meinen Namen. Ich ließ mich nicht weiter von dem Plastikgesicht beirren und führte meine Schritte zu der Tür.
Ich war der Einzige in dem Raum, wie so oft wenn ich hier war. Eigentlich kam es nur selten vor, dass sie ein Team aus Springer und Aufseher trennte. Ich setzte mich an eines der Terminal und blickte auf den Monitor. Mit dem Ziegefinger tippte ich auf das große grüne Wort ‚ja’, das auf dem Monitor blinkte. Ich kannte die Frage die darüber stand schon auswendig: Wünschen sie einen neuen Aufseher? Danach musste ich meinen Zugangscode eingeben, den wusste ich natürlich auch auswendig. Aber den Zugangscode auswendig zu kennen, war für jeden Arbeiter Pflicht, wie das bei der Obrigkeit ablief, wusste ich nicht. Ich glaube nicht mal, dass die Obrigkeit auch nur ein bisschen machte um die Firma am laufen zu halten.
Ich gebe meinen Zugangscode ein und der Monitor färbt sich vollkommen rot, dann ertönt eine Stimme. „ES GIBT PROBLEME MIT IHREM ZUGANGSCODE! MELDEN SIE SICH BITTE SOFORT IM STOCKWERK 4, DER EBENE 7!“
Ganz egal was das Problem war, es konnte nichts gutes sein, das war vorher noch nie passiert. Vielleicht habe ich meinen Millionsten Aufseher beantragt und jetzt bekomme ich einen Preis, dachte ich unbeeindruckt und musste leicht lachen.
Ich ging an der Empfangsdame vorbei, sie wusste schon was vorgefallen war und sah mich als wäre ich ein Schwerverbrecher. Dennoch verabschiedete sie mich freundlich.
Ich ging über die Treppe bis in das 64. Stockwerk, es sah fast genauso aus wie das 62., auf jeden Fall stand dort der gleiche schwere Tisch im vorderen Teil. Ich war vorher noch nie gewesen, aber auf der Ebene 7 sah sowieso alles gleich aus. Neben dem Tisch stand ein kleiner Mann, er winkte mich zu sich und richtete seine große Brille. Ich ging auf ihn zu und fragte sogleich: „Was für ein Problem gibt es?“
„Guten Tag, ich bin Herr Kitsune, kommen Sie bitte mit in mein Büro.“ Mehr sagte er mir nicht, dann ging er schon schnellen Schrittes voran. Wir gingen durch einen langen Korridor, an den Wänden waren Türen mit Fenster durch die ich aber nicht hindurch sehen konnte. Sie waren so sehr verdunkelt, dass ich nur einzelne Schatten erkennen konnte die an den Fenstern vorbeihuschten. Nun erreichten wir endlich die Tür zu seinem Büro, sie war am hintersten Ende des Stockwerks. Mit einem großen Schlüssel schloss er die Tür auf und wir betraten sein Büro. Die Wände waren voll mit Regalen auf denen große Bücher standen und in der Mitte stand ein kleiner dunkler Schreibtisch. Der kleine Mann setzte sich an seinen kleinen Schreibtisch und sagte mir, dass ich davor platz nehmen sollte. Nachdem ich mich gesetzt hatte, klatschte der Mann in die Hände und faltete sie zusammen. Er hob seinen Kopf von einem Buch und sagte: „Sie wollten heute ihren achten Aufseher in diesem Jahr beantragen. Was haben Sie dazu zu sagen?“ Ich sah dem kleinen Mann mit der dicken Brille in die Augen und erwiderte eintönig: „Scheint wohl ein neuer Rekord zu sein, sonst wärt ihr nicht so aufgeregt. Bin ich in Schwierigkeiten?“
„Wenn es nach mir gehen würde, wären Sie schon lange entlassen worden, aber jemand von der Obrigkeit scheint Sie zu mögen. Sie bekommen einen neuen Aufseher, aber da wir zurzeit nicht viele freie Aufseher haben, bekommen Sie einen Neuling. Sie sind dafür zuständig ihn einzuweisen und ihm alles beizubringen. Wenn Sie das nicht hinkriegen, werden Sie endgültig gefeuert und verlieren jegliche Ansprüche.“
„Dann muss ich nur mit einem Frischling zusammenarbeiten, ich dachte schon die Bestrafung wäre härter.“ sagte ich und lehnte mich zurück.
„Seien Sie sich nur nicht zu sicher, die Ausbildung von Neuankömmlingen ist sehr schwierig und nachdem was ich über Sie gehört habe, werden Sie es nicht schaffen dem Neuling auch nur einen Handgriff beizubringen. Ihre Disziplinlosigkeit wird dann endlich ein Ende haben.“
„Wann wird der Frischling anfangen?“ fragte ich und versuchte mich von seinen Anfeindungen nicht beeindrucken zu lassen.
„Gleich Morgen. Außerdem müssen Sie ihre Kammer räumen und in ihre Arbeitskammer umziehen, der Raum wird für den Neuling gebraucht.“
Das traf mich dann schon eher, ich besaß diesen Raum seit ich hier angefangen habe, aber nun musste ich mir alles neu anschaffen. ‚Die Kammer räumen’ bedeutete, dass man alles, bis auf die persönlichen Gegenstände, nehmen musste und in die Arbeitskammer, also den Arbeitsplatz, bringen musste. Und das nur, weil ein Neuling deine alte Kammer bekam. Ich bezeichnet es immer zynisch als ‚Kreislauf des Leben’ wenn ich sah, dass wieder mal jemand die Kammer räumen musste und jetzt traf es mich selbst.
Ich erhob mich von dem Stuhl und Herr Kitsune reichte mir die Hand, aber ich erwiderte es nicht und ging. Doch ich sah noch, dass der kleine Mann über meine Reaktion lächelte, das war wohl genau das was wollte. ich schlug die Tür hinter mir zu und hörte wie ein Regal nach dem anderen umfiel, wie Dominosteine. Von Herrn Kitsune hörte ich nur ein: „Oh nein!“ Die Türen in dem Korridor waren nun geöffnet und die Menschen, die vorher noch Schatten waren, wurden zu beweglichen Gesichtern, die mich unverwandt anstarrten. Ohne den Gesichtern einen weiteren Blick zu schenken gehe ich durch den Korridor bis zum Empfang, dort lehne ich mich an den Tisch und fasse mir an den Kopf. Jetzt haben sie mir einen Neuling an das Bein gebunden, dabei bin ich mit meiner Arbeit sowieso schon im Rückstand. Und wenn sie mich rauswerfen, würde ich nirgendwo in dieser Stadt eine Arbeit bekommen. Wer würde schon einen einstellen, der vorher bei der Kolomnian Inc. gearbeitet hatte? Die Dame, die wesentlich jünger ist als die Frau zwei Stockwerke unter ihr, fragt: „Geht es Ihnen nicht gut? Wünschen Sie, dass ich einen Arzt hole?“ Ich schenke ihr nur einen kurzen Blick, dann erwidere ich darauf nur: „Mir ging es noch nie gut.“ Ich gehe weiter auf den Fahrstuhl zu und drücke auf den Knopf, er öffnet sofort seine Türen und ich trete ein.
Kapitel 2:
Vorsichtig greife ich nach der Zigarette und zünde sie an, dann nehme ich einen Zug. In der letzten Nacht durfte ich herausfinden, dass man sehr schlecht auf dem Boden der Arbeitskammer schlafen konnte, ich musste mir für die nächste Nacht unbedingt etwas einfallen lassen. Doch das war jetzt eher unwichtig, ich setzte mich müde auf und lehnte mich an das Kontrollterminal. Heute war ich schon eine halbe Stunde vor den anderen aufgewacht, das musste an dem Druck von der Obrigkeit liegen. So schlecht wie in der Nacht, hatte ich noch nie geschlafen.
Ich zog meine Klamotten über und stand nun auf, zwar wackelig aber ich stand. Leicht gähnend zog ich ein letztes Mal von der Zigarette, dann warf ich sie auf den Boden. Die Tür öffnete sich und Vargo trat ein, er sagte: „Da fragt jemand nach dir, ich glaube du solltest ihn abholen.“
„Ja, ich geh ihn gleich holen.“
„Scheinbar haben sie dir einen Neuling gegeben, das sieht nicht gut aus für dich.“ erkannte Vargo und schüttelte den Kopf leicht.
„Ich werde das schon schaffen.“
„Du ganz sicher, aber ich weiß nicht ob der Typ das übersteht.“
Vargo wollte lachen, aber als ich ihn böse anblickte, merkte er wie ernst es mir war und verschwand so schnell es ging. Ich ging durch die geöffnete Tür und sah Vargo nur noch um die Ecke gehen. Kurz nachdem Vargo weg war, kam der Anfänger um die Ecke, ein kleiner Jüngling, der in, wenn es an die richtigen Fälle ging, ganz schnell einknicken würde. Ein kurzer Haarschnitt, die Krawatte glatt gebügelt und das Hemd akkurat in die Hose gesteckt. Ich hatte mir schon lange abgewöhnt mich nach der gängigen Mode hier im Gebäude zu kleiden, das viele Anzugtragen wurde irgendwann einfach zu anstrengend, da habe ich wieder meine alten Sachen angezogen. Der Typ kam auf mich zu und reichte mir energisch die Hand, scheinbar kannten mich mehr Leute als ich dachte. „Sie müssen Jack sein, ich habe schon viel von Ihnen gehört.“ Da konnte ich mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, sie erzählten einem Auszubildenden von mir, das müsste bedeuten, dass auch mal etwas richtig gemacht hatte. Aber bestimmt nutzten sie mich als Negativbeispiel und wiesen darauf hin, dass möglichst niemand so werden sollte wie ich. Das war mir auch recht, nicht mal ich wollte so sein wie ich bin.
„Beginnen wir gleich mit der Arbeit?“ fragte mich der Neuling.
„Als erstes sagst du mir deinen Namen und deinen Zugangscode, dann können wir mit der Arbeit beginnen.“
„Ich dachte, am Morgen geht jeder Arbeiter in das Theater.“
Das hatte mir gerade noch gefehlt, die hatten mir einen Klugscheißer gebracht. Zweifellos würden das die längsten drei Wochen meiner gesamten Laufzeit werden.
„Ich habe noch so viele unerledigte Arbeiten, da brauchen wir nicht noch ins Theater zu gehen. Also sag mir endlich deinen Namen und gib mir deinen Zugangscode.“
Dann hatte ich auch schon meinen kleinen S-Coder in der Hand um seinen Zugangscode einzugeben und drängte ihn ein weiteres Mal.
„Mein Name ist Jon Kolomnian, Zugangscode 1ad3Ds1.“
Ich sah dem jungen Mann in die Augen und er erwiderte meinen Blick gelassen, er war es wohl gewohnt, dass die Menschen ihn beim ersten Mal so anstarrten. Und ich hätte nie gedacht, dass es in meiner miesen Lage noch schlechter kommen konnte. Ich hatte nicht nur einen Klugscheißer bekommen, sondern den größten Klugscheißer von allen. Sein Vater, Edick G. Kolomnian, war der Inhaber der Firma und der höchste Mann in der Obrigkeit, nichts kann beantragt werden ohne ihn zu fragen. Außerdem besitzt er mehrere andere Firmen und ist der reichste Mann der Welt. Aber er war nicht mein Problem, es war sein Sohn der immer wieder in die Schlagzeilen kam. Vor kurzer wurde er vor Gericht freigesprochen. Es sollte vor ein paar Monaten eine junge Frau vergewaltigt haben und alle Beweise standen gegen ihn. Wie er schließlich aus der Sache herausgekommen ist, kann eigentlich nur sein Vater wissen. Als ich in seine Augen sah, sah ich in die kalten Augen eines Mannes der zu allem fähig war.
„Stimmt etwas nicht mit dem Zugangscode?“ fragte er unschuldig.
„Nein, es ist alles in Ordnung.“
Eines war mir gleich klar, ich würde diesem Typen nie den Rücken zudrehen. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass er mir nichts tun kann, er vergriff sich nur an schwachen Frauen und dafür verachtete ich ihn aus tiefstem Herzen.
Wir traten in die Arbeitskammer ein und ich zeigte ihm seinen Platz am Kontrollpult, ich stellte mich davor um ihn alles zu erklären. „Wie du weißt ist unsere Firma…“ Der junge Mann lachte und ich fragte warum er mich unterbrach.
„Sie müssen wissen, dass diese Firma meinem Vater und mir gehört, also sprechen Sie bitte von meiner Firma.“
Zähneknirschend akzeptierte ich seinen Einwand und fuhr fort: „Wie Sie wissen ist ‚Ihre’ Firma dafür zuständig Zeitsprünge zu unternehmen um die Vergangenheit zu ändern. Unsere Aktivität zwischen den Zeiten wird von der Polizei und dem Staat gebilligt und unterstützt. Zurzeit befinden sich in Ihrer Firma mehr als 30 frühere Polizisten. Ein Zeitsprungteam arbeitet immer zu zweit in einer so genannten Arbeitskammer und besteht aus einem Springer und einem Aufseher. Der Aufseher ist dafür zuständig, dass der Springer wieder heil von den Zeitsprüngen zurückkommt und dafür sorgt, dass während der Arbeit des Springers nichts Unerwartetes geschieht. Soweit müsstest du dich auch auskennen.“
Der junge Kolomnian nickte nur gelangweilt.
„Auf deinem Kontrollpult werden dir alle wichtigen Anzeigen über den Springer aufgezeigt, wie zum Beispiel möglicher Blutverlust, Krankheit oder psychische Anomalien. Der Aufseher muss dann geeignete Maßnahmen ergreifen und den Springer entweder zurückholen oder ein Serum zur Heilung zu verabreichen. Die Serums findest du unterhalb des Kontrollpults…was willst du denn jetzt?“
Der Junge Mann fuchtelte mit seinen Händen in der Luft herum und brachte mich aus dem Konzept, darum konnte ich ihn nicht weiter ignorieren.
„Erstens: Sie dürfen mich nicht duzen und zweitens: kenne ich das alles schon auswendig, ich habe das hier nicht ohne Grund fünf Jahre studiert. Ich bin allein wegen der praktischen Anwendung hier und um ein paar spannende Zeitsprünge von dir zu sehen. Du musst wissen, das ist besser als fernsehen.“
„Du wirst hier keine spannenden Zeitsprünge erleben, ich bearbeite Fälle des Grads A und B. Falls du Spannung willst, dann musst du zum Grad K, dort kannst du dann Hitler in seiner Wiege erwürgen oder wie du ihn gern töten würdest.“
„Für die Eliminierung von Personen verwenden wir stets unsere Cans, das müsstest sogar du wissen.“
„Ich wusste ja nicht, wie du gerne tötest, aber ich weiß dass du es tust.“
Der junge Kolomnian stand auf und schenkte mir einen bösen Blick. Das war genau die Stelle, an der ich ihn verletzen konnte. Sein linkes Augenlid zuckte und er fing sich langsam, aber er war immer noch geladen. Mit einer ruckartigen und unnatürlichen Handbewegung griff er nach seiner Jacke und sagte mir: „Ich werde mich beim Grad K bewerben, hier kommt man sowieso nicht weiter.“ Ich fühlte wie ich mich langsam entspannte, als der junge Mann durch die Tür ging. Aber bevor er aus der Tür war sagte er noch: „Ich werde ein gutes Wort für dich einlegen, du gefällst mir. Vielleicht können wir mal abends um die Häuser ziehen, du weißt schon.“ Er schenkte mir einen letzten Blick, der so kalt war wie Eis. Es war der Blick eines Wahnsinnigen, der imstande war alles zu machen, was er will und womit er will.
Ich war froh ihn losgeworden zu sein, aber bestimmt würde ich keinen weiteren Aufseher genehmigt bekommen. Herr Kitsune freute sich ganz sicher schon darauf mich mit einem Tritt aus dem Gebäude zu schmeißen. Mich dessen bewusst, setzte ich mich auf den Boden und zog eine Zigarette aus der Jackentasche. Doch bevor ich sie anzünden konnte, hörte ich einen lauten Aufprall. Ich rappelte mich auf um durch die offene Tür zu sehen. Ich sah Herrn Kitsune, aber er wollte nicht zu mir, denn er stand mit dem Rücken zu meiner Arbeitskammer, einige Meter entfernt im Korridor. Vier Wachen zogen einen Mann aus der einen Arbeitskammer, doch sie bekamen ihn auch zu viert kaum unter Kontrolle. Schließlich kamen zwei weitere Wachen hinzu und so konnten sie ihn fixieren. Herr Kitsune stand nun vor dem fixierten Springer und sagte zu ihm: „Sie werden beschuldigt illegale Geschäfte mit den Schwarzen Geiern zu tätigen. Die Anklage wird in wenigen Tagen erfolgen, solange bleiben Sie in Haft.“ Er sprach so laut, dass jeder der durch die Tür spähte, mitbekam was dort vor sich ging. Ich hätte vielleicht Mitleid mit dem armen Mann haben sollen, denn ich kannte ihn. Er besaß eine große Familie die er versorgen musste, aber ich sah nur seinen nun freien Aufseher. Gleich heute müsste ich wieder hochgehen und einen beantragen. Dann musste ich hoffen, entweder würde man mir kündigen wegen der der verpatzten Ausbildung oder ich würde den Aufseher bekommen. Trotz meiner letzten Chance bei dem Jungen, konnte ich darauf hoffen dass die Firma zurzeit unterbesetzt war und dringend noch ein paar Teams brauchte.
Als die Wachen den Springer abführten warf mir Herr Kitsune einen kurzen Blick zu, aber ich erkannte, dass er auch schon wusste was passieren würde.
Am Nachmittag saß ich vor dem Büro von Herrn Kitsune, er hatte noch einen kleine Sitzung, also musste ich warten und das nun ganze zwei Stunden. Aber ich hatte es nicht eilig, heute nicht und auch die nächsten Tage nicht. Ich hatte Vargo darum gebeten mir ein paar meiner Arbeiten abzunehmen und er nahm sie gleich alle. Dafür musste ich ihm versprechen mich bei Herrn Kitsune zu benehmen und meine Arbeiten demnächst pünktlich zu erledigen. Ich könnte mich sicherlich benehmen, aber ich wusste nicht ob ich in der nächsten Zeit pünktlich fertig werden würde. Ich bekam vielleicht einen neuen Aufseher und wir müssten uns erstmal aufeinander einstellen, das würde bestimmt einige Tage dauern.
Die Tür öffnete sich und Jon Kolomnian ging hindurch, er sah mich nicht, denn sein Blick war starr geradeaus gerichtet. Nun rief Herr Kitsune mich herein und ich betrat sein kleines Büro. Die Bücher und die Regale waren wieder an ihrem Platz und Herr Kitsune staubte gerade ein paar Bücher ab. Aber als er mich sah, legte er sie zur Seite und setzte sich an den Schreibtisch.
„Ich bin hier um einen neuen Aufseher zu beantragen, der Neuling ist freiwillig gegangen.“
„Ich weiß schon bescheid, da gab es wohl ein Missverständnis, denn er wollte ursprünglich in den Grad K. Er war auch dafür qualifiziert, aber Sie wissen ja wie das mit dem Papierkram ist, da verliert man schnell den Überblick. Aber er sagt, dass Sie dort unten einen guten Job machen und ich muss Ihnen wohl oder übel einen neuen Aufseher zuteilen.“
„Wann fängt er an?“
„Heute. Sie bekommen den Aufseher zugeteilt, der gerade frei geworden ist.“
„Vielen Dank.“
Ich sah wie die Wut in ihm anstieg und ihm fast der Kragen platzte, doch ich war zufrieden und schloss beim gehen vorsichtig die Tür hinter mir. Doch mir wurde klar, dass mir der Mann geholfen hatte, den ich für seine Taten verabscheute. Da wurde meine Freude zu einem kleinen Häufchen Elend zusammen gefaltet und ich gab sie schließlich auf. Niedergeschlagen trottete ich zu dem Fahrstuhl und betrat ihn.
Der neue Aufseher war überaus eifrig, er tat alles was ich ihm auftrug und stellte meine Entscheidungen nicht in Frage, genau die Art von Aufseher die ich brauchte. Er war ein kleiner Mann Ende Fünfzig mit dicken und buschigen Augenbrauen. Am nächsten Tag schafften wir unsere Arbeit noch bevor es dunkel wurde. Ich erinnere mich noch daran wie ich mit J.O. manchmal bis in die Nacht arbeiten musste, damit wir unsere Mindestzahl erreichten.
Doch nachdem ich von meinem letzten Zeitsprung zurückkam senkte sich die Sonne bereits und färbte die Außenwand des Gebäudes orange. Der Zeitsprung war eine reine Routinearbeit, schnell einen Mann betäuben und an eine andere Stelle setzten, mehr nicht. Meistens hatte die Arbeit des Grads A damit zu tun, Menschen von einem Ort zum anderen zu bringen, die Auswirkungen waren meist so winzig, dass man sie nicht mitbekam. Bei Arbeiten des Grads B - für die ich auch eine Zulassung hatte - musste man dann schon manchmal die Menschen eliminieren. Beim ersten Mal war es noch schwer ein Kind in seiner Wiege einfach zu löschen, aber mit der Zeit bekam man kaum noch mit was man auslöschte. Da wurde dann alles gleich behandelt, ob es nun ein Hund ist oder ein Kind, das macht keinen Unterschied.
Die Sonne bahnte sich in kleinen Strahlen ihren Weg durch die Jalousie unserer Arbeitskammer und zeigte mir an, dass es Zeit für die ‚abendliche Essenszufuhr’, wie sie von allen Arbeitern genannt wurde. Mein Aufseher ging schon voraus, während ich die letzten Protokolle abschloss. Als ich das dann geschafft hatte, griff ich nach meiner Jacke und wanderte ziellos durch den Korridor. Ich hatte Hunger, aber ich wollte warten bis die anderen Arbeiter fertig waren, damit ich meine Ruhe hatte. Schnell erreichte ich einen Ort an dem ich mich hinsetzten konnte, es war mitten im Korridor vor einem der vielen gläsernen Wänden die auf den kleinen Park hinter dem Gebäude gerichtet waren. Ich nahm mir eine Zigarette und wollte mich ein wenig entspannen, aber ich vernahm Schritte hinter mir. Eine weibliche Stimme sagte: „Das rauchen in den Gängen ist nicht gestattet.“ Ich drehte mich um und erblickte die Frau die Vargo und ich gesehen hatten bevor wir in das Theater gingen. Sie tippte mit ihren schlanken Fingern auf ein rotes Schild und mit ihrem Fuß auf den Boden. Ich musste mir das Schild nicht ansehen, ich wusste schon was es bedeutete und zerdrückte die Zigarette auf dem Boden. Ich richtete mich auf um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein, aber sie reichte mir nur bis zu den Schultern. „Sind Sie neu hier?“ fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte.
„Stock 4 der Ebene 2, Empfang für die Gäste von Jerry Edison und du musst Jack sein. Herr Edison scheint kein Freund von dir zu sein.“
So erniedrigend es auch klang, aber Jerry Edison besaß wirklich seine eigene Etage mit seiner eigenen Empfangsdame. Ich hatte schon oft davon gehört, dass Jerry den Grad E besaß und zudem noch diese Zugaben hatte, aber ich wollte es nie glauben.
„Der Essraum für die Ebene 2 befindet sich aber eine Etage tiefer.“ sagte ich, da ich bemerkt hatte, dass sie nicht freiwillig in diesen Gängen umherirrte.
„Ich wollte mir nur die Zeit vertreiben, bis der Rest der Arbeiter fertig ist, erst dann wollte ich essen gehen. Du scheinst schon gegessen zu haben. Ist es noch voll in dem Essraum?“
„Die sind schon alle fertig.“
„Vielen Dank für die Auskunft und nächstes Mal gehst du zum rauchen in deine Kammer.“
Sie winkte leicht mit der Hand um sich zu verabschieden und ging dann den langen Korridor entlang, aber ich Schritte waren nicht mehr ziellos, sie führten sie direkt zur Treppe. Bevor sie ging blieb sie stehen und sah noch mal zurück, ich winkte nur leicht und wand mich dann von ihr ab um in die andere Richtung zu gehen.
Ich dachte, dass die Frau nun - eine Stunde später - fertig mit ihrem Essen war, denn ich hatte keine Lust auf Gesellschaft wenn ich esse. Das hatte bis jetzt immer so gemacht und ich wollte auch, dass es so bleibt. Aber die Tür zum Essraum war verschlossen und daran hing ein Zettel. Ab heute schließen wir die Essräume jede Nacht ab. Mein Magen knurrte, eigentlich bekam ich hier immer am Abend noch was zu Essen. Wütend schlug ich gegen die Tür und rief: „Saftladen!“ Hinter mir vernahm ich wieder die Schritte der Empfangsdame und ich versuchte unauffällig an ihr vorbei zu gehen. „Ich wusste, dass du noch nichts gegessen hattest, das war das Erste was Herr Edison über die erzählt hat.“ Ich blieb neben ihr stehen und sie blickte mich an. In ihrer Hand hielt sie eine kleine Tüte. „Dann kennt mich Jerry wohl schon besser als ich mich selbst.“ erwiderte ich gereizt. Wenn ich Jerry jemals wieder treffen würde, könnte ich seine Unversehrtheit nicht mehr garantieren. Aber Jerry hatte Glück, dass er zu viele wichtige Termine hatte und so kaum noch aus seinem Büro kam. Die Frau wedelte mit der Tüte in der Luft herum und sagte: „Ich habe etwas für dich eingepackt, wenn du willst kannst du es essen.“
„Danke.“ erwiderte ich und nahm ihr die Tüte aus der Hand. Ich setzte mich auf den Boden und lehnte mich an die Wand. Die Frau blieb vor mir stehen und sah mir zu wie ich das pappige Essen in meine Mund steckte. Nachdem ich die Portion aufgegessen hatte, stand ich wieder auf. „Jetzt weißt du schon so viel über mich, aber ich kenne nicht mal deinen Namen.“ sagte ich.
„Ich bin Ivy Mendelew. Du solltest morgen pünktlich kommen, sonst stehst du wieder vor verschlossenen Türen.“ Sie wartete auf eine Reaktion, aber mir fiel nicht ein was ich dazu noch sagen sollte. „Wir sehen uns bestimmt mal wieder.“ sagte sie nun und schritt davon durch die weißen Korridore und ich konnte ihr nur wieder hinterher sehen.
Kapitel 3:
Nun sind bereits drei Wochen vergangen seit ich meinen neuen Aufseher bekommen hatte und ich war immer noch willig zu arbeiten. Ich wunderte mich darüber, dass ich noch denselben Aufseher hatte, obwohl es zwischendurch ein paar Meinungsverschiedenheiten gab. Normalerweise hätte ich mich stundenlang mit ihm streiten können, wenn er mich darauf hinwies, dass ich eine kleine Regelwidrigkeit begangen hatte, aber ich ignorierte es einfach. Das hing wahrscheinlich auch damit zusammen, dass ich mein Glück kein weiteres Mal herausfordern wollte. Also lebte ich die drei Wochen lang in vollkommener Ausgeglichenheit und Ruhe, aber langsam langweilte mich das.
Am Abend verließen wir die Arbeitskammer und Vargo stand im Korridor. Ich fragte ihn: „Was machst du denn hier, musst du nicht arbeiten?“
„Ich habe meine Arbeit schon längst beendet, aber ich wollte dich ein wenig begleiten. Lass uns doch zusammen zum Essraum gehen.“ erwiderte Vargo und ein leichtes Lächeln huschte über sein Gesicht.
„Was hast du vor?“ fragte ich wegen meinem angeborenen misstrauen anderen Leuten gegenüber.
„Du musst sicher hungrig sein und es wird Zeit sich zu den Essräumen zu begeben. Lass uns jetzt gehen.“
Er wollte mir nicht verraten was er vorhatte, also ließ ich mich überraschen. Wir gingen zu den Essräumen, die ersten Menschen drängten sich schon hinein und wir schlossen uns der Menge an. Von einer der vielen kleinen Durchreichen holten wir uns ein Tablett und setzten uns in einer Ecke an den Tisch. „Willst du mir jetzt sagen, was du vorhast?“ fragte ich, immer noch skeptisch.
„Isst du nicht immer mit dieser Tippse von Jerry? Ist sie heute nicht hier?“ fragte er und sah sich in der ganzen Halle um.
Das war es worauf Vargo aus war, er wollte, dass ich ihm Ivy vorstelle. Es stimmte zwar, dass wir in den letzten drei Wochen öfter nebeneinander saßen und uns unterhielten, aber es das kam höchstens zweimal in der Woche vor. Aber Vargo war voller Vorfreude, dass sie heute hier auftauchen würde.
„Sie wird bestimmt nicht kommen.“ sagte ich mit vollem Mund.
„Weißt du etwa was, was ich nicht weiß?“
„Sie kömmt nur ein paar Mal die Wochen runter. An den anderen Tagen ist Jerry so großzügig und bringt seinen Arbeitern das Essen an den Arbeitsplatz.“ erklärte ich ihm und konnte die Enttäuschung in seinem Gesicht erkennen.
„Von wegen großzügig, das macht er nur damit sie an ihrem Arbeitsplatz bleiben. Der weiß wie man seine Arbeiter an sich bindet.“
Im selben Moment trat Ivy aus der Schlange die an der Durchreiche stand und bewegte sich auf uns zu. „Du hast Glück.“ sagte ich zu Vargo und deutete leicht in ihre Richtung.
Sie setzte sich neben uns und fragte: „Ich störe eure Unterhaltung doch nicht?“ Vargo schüttelte nur den Kopf und ich erwiderte: „Nein, wir hatten nichts wichtiges zu besprechen. Übrigens, das ist mein Freund Vargo.“ Warum hatte ich ihn meinen Freund genannt, ich war wohl wirklich ein wenig an dieser nervigen Ausgeglichenheit aus der ich nicht mehr herauskam. Ivy warf einen schnellen Blick auf Vargo und sagte dann: „Ich kenne ihn, er ist oft bei Jerry im Büro.“
Eigentlich teilte Vargo meinen Hass gegen Jerry Edison, weil er immer schon ein Freund des Minimalismus war, aber ich wusste nicht was er von Jerry wollen könnte.
„Was machst du denn bei Jerry?“ fragte ich ihn und blickte ihn mit prüfenden Augen an.
„Du weißt doch, dass J.O. und ich seit unserer Kindheit gute Freunde sind, da kann ich ihn doch auch bei Jerry besuchen.“
Diese Antwort konnte mich einfach nicht zufrieden stellen, er wäre sonst in seiner Freizeit zu J.O. gegangen. Ich spürte schon so langsam wie ich aus meiner ausgeglichenen Spur trat und die Wut in mir brodelte. Doch erstmal ließ ich mir nichts anmerken und wechselte das Thema. „Wie läuft die Arbeit, Ivy?“ fragte ich ganz profan.
„Es läuft sehr gut, ein Springer aus der dritten Ebene ist auf mich aufmerksam geworden und dann kann ich vielleicht blad wechseln.“ erwidert sie mit einem Lächeln. Ich entgegnete ihr Lächeln nur leicht, aber wenigstens tat ich es, dachte ich.
„Ich habe einen korrupten Politiker eliminiert.“ sagte Vargo um sich in das Gespräch einzubringen. Mittlerweile hatte ich mein Tablett geleert, genau der richtige Zeitpunkt, denn wenn Vargo erstmal in dem Gespräch war, konnte er auf meine Hilfe verzichten. Er brauchte mich immer nur um das Gespräch in Gang zu bringen, ab dem Zeitpunkt war ich dann überflüssig. Das kam mir heute auch ganz recht, ich war müde von der Arbeit und wollte so schnell wie möglich schlafen gehen.
Schnell griff ich nach meinem Tablett und schob es in den Schacht, dann machte ich mich auf den Weg aus dem Essraum. Doch eine weitere Gruppe von Arbeitern drängte sich in den Essraum, sodass ich gezwungen war zu warten bis sie alle in dem Raum waren. Ich sah ein letztes Mal zurück zu dem Tisch, aber scheinbar lief das Gespräch nicht so gut. Vargo und Ivy saßen nur noch nebeneinander und aßen von ihren Tabletten. Aber als sie merkte, dass ich immer noch im Raum stand, sah Ivy auf und winkte mich unauffällig zum Tisch. Ich setzte mich wieder hin und Vargo fragte überrascht: „Warst du nicht fertig mit deinem Essen?“
„Ja, aber ich wollte noch ein wenig hier sitzen und die Ruhe genießen.“ entgegnete ich.
„Überall um uns herum essen Menschen und unterhalten sich, in der Ecke hört man den Schacht: Wie kannst du hier Ruhe finden?“ fragte Vargo und deutete auf den Schacht der die benutzten Tablette an ihren Bestimmungsort zurückbrachte, wo das war wusste ich nicht. Aber der Schacht gab gelegentlich knackende Geräusche von sich. Und Vargo hatte Recht, die Stimmen der durcheinander sprechenden Menschen ließen jeden ruhigen Moment hektisch werden, aber ich war auch nicht wirklich wegen der Ruhe hier.
„Woher kommst du eigentlich Ivy, dein Nachname war doch Mendelew?“ fragte ich sie und ließ mich von Vargos lauten, schmatzenden Geräuschen nicht irritieren.
„Meine Großeltern kamen ursprünglich aus Polen. Und was ist mit dir, besitzt du einen Nachnamen?“ erwiderte sie meine Frage.
Das war Vargos Moment wieder in das Gespräch einzutreten. „Darüber redet er nicht, aber viele sagen auch, dass er gar keinen Nachnamen hat.“
„Wir sollten wirklich nicht darüber reden.“ bestätigte ich ihn.
„Aber woher kommst du?“ fragte Ivy.
Ich wollte nicht über meine Herkunft reden, damit hatte ich nicht gerechnet, dass sie danach fragte. Dann hätte ich mir etwas überlegt, was ich sagen könnte, aber nun kam es völlig überraschend und mir fiel nichts ein. Sie sah mich mit ihren schmalen Augen an und wartete auf eine Antwort während ich überlegte.
„Das geht dich nichts an.“
„Nun komm schon, ich habe dir auch erzählt woher ich komme.“ drängte sie mich weiter.
Ich hätte ihr vielleicht verständlicher klar machen sollen, dass es keine gute Idee war darüber zu reden, aber ich nahm einen anderen Weg. Ich nahm den Weg, der steinig und voller Schlaglöcher war. Flink brachte ich meine Finger unter das Tablett von Vargo und schleuderte es gegen den Rücken eines vor uns sitzenden Arbeiters. Sogleich drehte der sich um und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, die immerhin ganze zwei Meter waren. Verwundert blickten die anderen Arbeiter sich zu mir und dem Riesen um. „Was sollte das.“ fragte der Riese mit einer dunklen und bedrohlichen Stimme. Jetzt wäre die letzte Chance gewesen wieder auf den anderen Weg zu wechseln, aber ich blieb auf meiner Strecke und lief immer weiter in den dunklen Wald hinein. „Dein riesiger Schädel hat mich gestört.“ erwiderte ich kühl. Nun hatten wir die Aufmerksamkeit von wirklich jedem in diesem Essraum. Der große Mann schlug seine Fäuste auf den Tisch und beugte sich zu mir herunter, ich konnte sein schlecht riechenden Atem in meinem Gesicht spüren. „Du willst wohl unbedingt Ärger machen.“ schnaubte der Riese.
„Tu es nicht, Jack, das gibt nur wieder Probleme mit der Obrigkeit.“
„Lass mich nur machen. Das Riesenbaby will Ärger, also bekommt es das auch.“ sagte ich zu Vargo und drängte den Mann zurück, damit ich aufstehen konnte. Ich ging um den Tisch herum und stellte mich vor dem Riesen auf, damit ich im direkt in sein hässliches Gesicht sehen konnte. Der Mann der noch auf der Bank saß und scheinbar mit dem Riesen befreundet war, war schon bereit seinem Freund zur Hilfe zu eilen. Mir war klar, dass ich keine Chance gegen den großen Typen hatte, und schon gar nicht wenn ihm sein fast genauso großer Freund half. Aber ich hoffte auf die Alarmbereitschaft der Wachen, sie kommen bei dem kleinsten Anzeichen eines Krawalls sofort in Bewegung, aber das sofort dauerte bei den Wachen mindestens zehn Minuten. Also musste ich noch ein wenig Zeit schinden und wenn die Wachen in den Raum kamen, würde ich dem Riesen einen Schlag versetzten damit eine Panik ausgelöst wird.
„Hast du es jetzt mit der Angst bekommen?“ fragte der Riese hämisch.
„Du solltest nicht so viel reden, du riesiger Boxsack.“ erwiderte ich sogleich, aber das war ein Fehler. Das spornte ihn an den ersten Schlag zu landen. Sein Faust schlug hart auf meinem Gesicht auf und sendete mich direkt zu Boden. Ich wollte aufstehen, aber er packte mich am Kragen und zog mich nach oben. Mit einem Ruck ließ er mich zu Boden fallen und trat mir gegen den Arm. Es fühlte sich an als würde jeder Knochen in meinem Arm brechen und zu Staub zerfallen, so stark war sein Tritt. Er wollte mich ein weiteres Mal hoch nehmen, aber da traten die Wachen ein und ein Tumult brach aus. Als jeder die Wachen sah wollte sie nicht in die Schlägerei verwickelt werden und machten sich auf zu den Ausgängen zu laufen. Dann kam endlich meine Chance, der Riese war von der Masse die an ihm vorbeidrängten abgelenkt, da stand ich auch wieder und landete einen Treffer auf seine Nase. Der Typ sank in die Knie, um seinen Freund brauchte ich mir keine Sorgen zu machen, der war schon längst weg. Ich schlug wieder auf das Gesicht des Mannes und er sank nun vollends zu Boden. Mit einer blutenden Nase setzte ich mich auf die Brust von ihm und ein paar Tropfen landeten auf seinem Gesicht. Ich hob meine rechte Faust damit sie wieder auf ihn herabfallen konnte, aber eine Wache schlug mir mit ihrem Stock gegen den Arm. Mühsam senkte ich meine Faust und stand von dem Mann auf, aber bevor die Wache mich fixieren konnte, war ich auf den Tisch gesprungen und lief zum rettenden Ausgang. In der Tür sah ich Ivy und eine Meter weiter lief Vargo davon. Nur noch über den einen Tisch, dann hätte ich es geschafft, doch ich stolperte über ein Tablett und riss mit mir den gesamten Tisch um.
Schnell hatte ich mit meinen Händen die an den Handgelenken zusammengebunden waren eine Zigarette aus meiner Jackentasche geholt und sie mir angezündet. „Willst du auch eine?“ fragte ich Ivy. Sie hatte mir unter dem Tisch hervor helfen wollen und war dann selbst geschnappt worden. Nun saßen wir zusammen in einem schmalen und schlecht ausgeleuchteten Raum auf dem Boden. Sie hatte sich gegenüber von mir an die Wand gelehnt und sprach kein Wort seit wir in die Zelle kamen.
„Ich rauche nicht.“ erwiderte ich und ich konnte seit zwei Stunden endlich wieder ihre beruhigende Stimme hören. Aber sie klang nicht mehr so ruhig, sondern sie bebte, ich weiß nicht ob vor Wut oder aus einem anderen Grund. „Das könnte mich den Job kosten, nur weil ich dir helfen wollte. Ich hätte einfach weiter laufen sollen.“
„Du bist noch neu hier, das könnte dich höchstens die Beförderung kosten. Du konntest nicht wissen, dass bei solchen Tumulten die eigene Unversehrtheit an erster Stelle steht.“
„Du bist wirklich eigensinniger als ich mir vorgestellt hatte, und das obwohl Jerry immer nur deine schlechten Aktionen hervorhebt.“
„Dann sollte ich mich geschmeichelt fühlen.“ sagte ich und hustete sogleich.
Sie kroch aus der dunklen Ecke und setzte sich wieder neben mich.
„Was wird jetzt passieren?“ fragte sie und starrte an die Decke. Sie hatte einen hellen Fleck entdeckt den sie jetzt mit den Augen fixierte.
„Sie werden uns einzeln verhören und uns die Kameraaufnahmen zeigen, dann konfrontieren sie uns mit ein paar erfundenen Zeugenaussagen. Wenn du das dann endlich hinter dir hast, werden sie dir sagen wie hoch deine Strafe ist.“
„Du hast das schon öfter mitgemacht, oder? Und alles nur, weil du mir nicht sagen konntest, dass du keinen Nachnamen hast.“
Sie lachte leicht, aber es war ein angespanntes Lachen. Dann flog die Tür auf und Herr Kitsune trat mit zwei Wachen ein. „Nehmen sie zuerst die Frau.“ befahl er und die Wachen packten Ivy bei den Armen.
Nach einer Stunde kam Herr Kitsune wieder vorbei und ließ mich von den Wachen in einen Verhörraum bringen. „Können wir das schnell hinter uns bringen?“ fragte ich, da ich auf das lange Gerede verzichten wollte.
„Natürlich werde ich Ihren Wunsch befolgen. Wir haben die Kamerabilder schon ausgewertet und bereits herausgefunden, dass sie der Auslöser des Tumults waren. Ihnen wird die Zulassung für den Grad B entzogen und Sie werden für fünf Wochen vom Dienst abgezogen, danach können Sie einen neuen Aufseher beantragen. Und nun verschwinden Sie endlich, ich kann Sie nicht mehr sehen.“
Eine Wache löste die Fixierung und ich konnte meine Hände wieder frei bewegen. „Endlich mal Urlaub.“ sagte ich und verließ den Verhörraum. Vargo wartete schon hinter der Tür um die Neuigkeiten als erster zu hören.
„Wie ist es gelaufen?“ fragte er neugierig, als wir den Gang entlang gingen.
„Eigentlich ganz gut. Mir wurde die Zulassung für den Grad B entzogen, ich bin für fünf Wochen vom Dienst abgezogen und ich habe meinen Aufseher verloren.“
„Ich habe dich gewarnt.“ sagte Vargo besserwisserisch, als er in einen anderen Gang einbog als ich. Jetzt würde es nur wenige Minuten dauern und jeder wüsste die Neuigkeit, da konnte man sich bei Vargo sicher sein.
Ich war mit der Entscheidung zufrieden, es hätte viel schlimmer sein können. Doch ich war wieder ohne Aufseher, dabei konnte ich mit Edward Stead gut zusammenarbeiten. Aber ich konnte meine Probleme entspannt angehen, da ich erstmal Ruhe von dem Arbeitsstress hatte.
Ich setzte mich auf den Boden der Arbeitskammer, nachdem ich Edward verabschiedet hatte. Er hatte schnell seine Sachen zusammengepackt und war nach einem kurzen ‚Auf Wiedersehen’, so schnell ihn seine krummen Beine tragen konnten, gegangen. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss langsam meine Augen, aber ich schlug sie wieder auf erhob mich von meinem Platz. Obwohl ich müde war und sofort einschlafen könnte, musste ich noch zu Ivy, ich hatte es ihr versprochen. Und ich hielt meine Versprechen immer, auch wenn dafür in das Büro von Jerry Edison müsste. Als ich an sein Gesicht dachte, kam die Wut wieder in mir auf und ich unterdrückte sie.
Ivy saß hinter dem großen Schreibtisch in ihrer Arbeitskleidung und tippte gerade etwas in einen Computer ein als ich eintrat. Sie sah von dem Monitor auf und lächelte mich an. „Ich bin gleich fertig.“ sagte sie und beendete die letzten Zeilen. Ich legte meine Arme auf den hohen Schreibtisch und blickte hinüber. „Wie lief es?“ fragte sie während sie die Tastatur zur Seite legte.
„Mir wird eine Zulassung entzogen, mein Aufseher ist weg und ich habe fünf Wochen Urlaub. Und was hatten sie gegen dich in der Hand?“
„Ich wollte dir helfen, also haben sie mich wie deine Komplizin behandelt. Ich muss noch mindestens drei Jahre bei Herrn Edison arbeiten und in diesen drei Jahren muss ich jährlich die Hälfte meines Lohns abgeben.“
Sie versuchte durch ihr Lächeln Zuversicht zu vermitteln, aber ich wusste dass sie die Lohnkürzung hart traf, ich wüsste nicht wie ich dann noch über die Runden kommen würde.
„Geht es dir denn gut?“ fragte ich vorsichtig, weil mir nichts anderes einfiel.
„Die Lohnkürzung werde ich schon irgendwie mit zusätzlicher Arbeit ausgleichen, in diesem Gebäude gibt es immer was zu tun. Aber ich wollte dich was anderes fragen.“
„Was denn?“
„Ich habe über das Wochenende frei, da dachte ich wir könnten uns morgen in einem Café treffen. Hättest du vielleicht Lust?“
„Morgen habe ich keine Zeit, aber wenn du nichts anderes zu tun hast, dann könnten wir das um einen Tag verschieben.“
„Na gut, dann treffen wir uns übermorgen bei dem Café.“
Ihr lächeln wurde wieder sicherer und ihre Finger tippten ungeduldig auf den Tisch. Sie musste wieder arbeiten, also wollte ich sie nicht weiter stören und verschwand so schnell wie ich gekommen war.
Kapitel 4:
Ich hob meinen Kopf von dem Kontrollpult und starrte an die Decke. Mit einem tiefen Seufzer lehnte ich mich weit auf dem Stuhl zurück und richtete meinen Kopf vollends nach oben. Nur noch eine Woche, dann würde der Stress der Arbeit wieder losgehen, dachte ich. In der Tür entdeckte ich das bekannte Gesicht von Vargo. „Bist du endlich wach?“ fragte er ungeduldig. Ich erwiderte nichts, ich sah ihn nicht einmal an. Langsam steckte ich meine Hand in die Brusttasche und zog eine Zigarette heraus. „Wir müssen uns beeilen, sonst bekommen wir kein Essen mehr.“ drängte mich Vargo nun weiter. Gemächlich zündete ich die Zigarette an und hob sie zum Mund. „Du kannst schon gehen, ich esse heute Morgen nichts.“ erwiderte ich nun endlich.
„Ich wollte euch nicht belauschen, aber willst du dich nicht beim Essen mit Ivy treffen?“ fragte Vargo neugierig.
„Das geht dich nichts an!“ entgegnete ich schnell und unfreundlich. Jetzt zog Vargo sich zurück und schloss die Tür hinter sich. Ich widmete mich nur meiner Zigarette und als ich sie schließlich ausdrückte, erhob ich mich von dem Sitz. Langsam zog ich meine Jacke über und verließ den Raum. Doch ich ging nicht zum Essraum, sondern in die andere Richtung. Ich stieg in den Fahrstuhl am Ende des Korridors und drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss.
Leise hielt der Fahrstuhl im Erdgeschoss und öffnete seine Türen. Ich trat aus und ging an der kleinen Dame am Empfang vorbei nach draußen, dort empfing mich die helle Morgensonne. Sie schien so sanft von oben herab, dass ich einen Moment in ihrem Licht verharrte, doch ein Mann in einem dunklen Anzug stieß unachtsam gegen mich, sodass dieser ruhige Moment wie nichts verschwand. Ein weiterer Mann rempelte mich an, bis ich mich schließlich den Massen auf dem Fußweg einordnete. Zwischen diesen fein gekleideten Anzugträgern kam ich mir vor als käme ich aus einer vollkommen anderen Welt. Aber ich versuchte mich so gut es ging anzupassen, bis der Ansturm sich schließlich um eine Ecke wand. Ich ging weiter geradeaus, hier waren keine Menschen mehr auf den Fußwegen oder auf der Straße. Ein letztes Mal blickte ich auf die belebte Straße zurück, dann betrat ich abermals eine andere Welt, eine schmutzige Welt. Ganz im Gegenteil zu der weißen und sterilen Welt des Firmengebäudes, waren hier die kleinen Bauten grau und manchmal von schwarzen Flecken durchsetzt. Sie Menschen die hier wohnten, lebten in ihrer eigenen Welt. Jeder kannte jeden, alle wussten über einen bescheid und wusste sofort wenn wieder ein Nachbar wegen den giftigen Schimmeldämpfen ohnmächtig geworden war. Sie hatten kein Geld um ihre Häuser zu renovieren und das bei den undichten Wänden. Zudem kam noch die Tatsache, dass viele die hier lebten und keinen Weg sahen weiterzukommen, einfach kriminell wurden. Das bedeutete, dass in der Woche mindestens zwei Menschen bei einem Überfall starben. Aber der Großteil der Verbrecher hielt sich in anderen Gebieten auf, in denen es sich mehr lohnte die Leute auszurauben.
Ich ging an einem kleinen Jungen vorbei der mit einem rostigen Rohr auf einen Zaun einschlug. Ich hörte das Bersten des Holzzauns hinter mir bis es schließlich verstummte. Vorsichtig drehte ich mich um und sah den Jungen weglaufen - das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich ging in eine kleine Gasse und verharrte dort, aber nichts passierte. Langsam kam ich wieder aus meinem Versteck und folgte weiter der Straße. Dann erreichte ich endlich mein Ziel, ein kleines und verrottetes Haus am Ende der Straße. Es besaß einen kleinen Vorgarten mit einem zerschlagenen Holzzaun rundherum und vor dem Eingang stand eine klein gelbe Blume aufrecht. Sie war der einzige Farbtupfer in dieser grauen Welt der Gewalt, aber das irritierte sie keineswegs, sie stand dort ganz gerade als würde irgendwer jemals ihre Schönheit bewundern. Doch niemals würde irgendwer vorbeikommen und nur wegen dieser Blume stehen bleiben, niemals. Ein Fenster klappte im Wind auf und zu und erzeugte einen gruselig dumpfen Ton in der leeren Straße. Schnellen Schrittes ging ich auf die Tür des Hauses zu und klopfte zweimal kräftig.
Vargo saß an dem Esstisch und schob sich ein großes Stück seines grauen Brots in den Mund, als sich Ivy mit ihrem Tablett neben ihn setzte. „Wo ist Jack?“ fragte sie, aber musste lange auf eine Antwort warten da Vargo erst das Brot herunterschlucken musste um irgendetwas sagen zu können. „Nicht hier.“ erwiderte Vargo geheimnisvoll und schwer atmend, weil ihm das Brot fast im Hals stecken geblieben wäre.
„Was soll das heißen?“
„Er wollte nicht zum essen kommen, ich glaube er ist wieder draußen.“
Vargo sprach von der Welt außerhalb des Gebäudes so ehrfürchtig als wäre es ein anderer Planet auf dem Menschen leben die allesamt schrecklich anders waren. Vielleicht hatte er recht, wer hier erstmal gearbeitet hat, kam nachher schwer in auf dem ‚anderen Planeten’ zu Recht, die unterschiede waren einfach zu groß.
„Aber wir wollten uns hier treffen.“
„Ich weiß, aber er hatte heute eben keine Lust. Du musst verstehen, dass das bei ihm sehr schnell schwanken kann - an einem Tag ist er noch zufrieden und an einem anderen Tag will er die Welt verändern. Du kannst ihn nicht ändern, aber du kannst dich ihm anpassen.“
„Du weißt doch sicher wo er sich aufhält. Verrat es mir.“ drängte sie ihn. Sie wusste, dass er ein Geheimnis nicht lange für sich behalten konnte, wenn man ihn ein wenig drängte es zu sagen.
„Ich kann es dir nicht sagen, ich habe es ihm versprochen.“
„Wir sind doch Freunde, er wird nicht erfahren woher ich es habe.“
Sie wollte unbedingt mehr über mich in Erfahrung bringen und bei Vargo war sie da an der richtigen Stelle.
„Ich kann dir nur eine Sache verraten, er ist bei seiner Mutter. Er wird mir den Hals umdrehen, wenn du auch nur ein Wort darüber verlierst.“
Er hatte wirklich große Angst, wenn er sich ausmalte was ich mit ihm machen würde, wenn ich erfahren, dass er Dinge aus meinem Privatleben erzählt. Vorher war er zwar noch nie in die Situation gekommen, dass ich die Hand gegen ihn erhob, aber er hatte schon oft gesehen was ich mit anderen gemacht hatte. Zuletzt war da diese unkontrollierte Sache mit dem Typ im Essraum, das hatte Vargo noch mehr zur Vorsicht angeregt.
„Wo wohnt seine Mutter?“ fragte Ivy weiter und riss Vargo aus seinen Gedanken.
„Das kann ich wirklich nicht sagen, da bleibt mein Mund verschlossen. Ich habe dir sowieso schon viel zu viel erzählt.“
Er brach sein Essen ab, da ihm der Appetit vergangen war, und warf sein halbvolles Tablett in den Schacht. „Vielen Dank!“ rief ihm Ivy hinterher, als er langsam den Essraum verließ. Sie entschloss kurzerhand, dass sie mich am Abend nach ihrer Schicht besuchen wollte um mehr über meine Mutter in Erfahrung zu bringen.
Meine Mutter saß zusammengefallen wie sie war in ihrem kleinen Schaukelstuhl und keuchte leise. Als ich eintrat hob sie leicht die Augen vom Boden um zu sehen wer gekommen war. „Hallo, Mutter.“ sagte ich leise um sie nicht zu erschrecken, jedoch erwiderte sie kein Wort.
„Ich habe mich lange nicht mehr bei dir blicken lassen, aber ich hatte zu viel bei der Arbeit zu tun. Es tut mir Leid.“ sagte ich nun und trat näher an den Stuhl.
„Du bist wie dein Vater. Kommst ab und zu vorbei wenn du nichts Besseres zu tun hast um ein wenig Mitleid zu heucheln.“ sagte meine Mutter mit einer leisen und krächzenden Stimme. Sie litt schon lange unter dem Einfluss des Schimmels und ich hatte nicht das Geld und die Mittel um sie hier rauszuholen, doch sie verstand das nicht.
„Hast du ihn wenigstens mitgebracht.“ sagte sie und hob den Kopf. Ein leichter Anflug von Freude in ihr wurde unterdrückt als sie mich mit ihren kühlen Augen ansah.
„Was meinst du?“ fragte ich und sah mich in der Hütte um. Neben dem Schaukelstuhl lief der Fernseher und in der Küche lagen die Teller auf einem unordentlichen Haufen. Eine Ratte huschte durch das Wohnzimmer und verschwand in einem Loch im Boden. Dann sah ich wieder in die Augen meiner Mutter, der Anflug von Freude war hinüber als ich keine Antwort auf ihre Frage fand.
„Dein Vater scheint schon wieder Besseres zu tun haben, als seiner Frau einen kleine Besuch abzustatten. Wenigstens bist du hier Jacky.“
Das traf mich schwer, mittlerweile war ihr Geist so benebelt, dass sie glaubte ihr Mann würde gleich durch die Tür treten und sie in die Arme nehmen, wie er es früher getan hatte - aber das würde nie geschehen.
Der Himmel verdunkelte sich und kleine Regentropfen fielen auf die Schaukel im Garten. Ich hielt dem Blick meiner Mutter nur schwerlich stand, aber ich musste sonst hätte sie gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie senkte ihren Kopf und gleichsam ihre Augen um auf den staubigen Boden zu starren. Nun konnte ich meinen Blick von ihrem frühzeitig gealterten Körper abwenden und aus dem Fenster sehen. Der Himmel war nun nur noch ein schwarzer Fleck der manchmal von grellen Blitzen durchzogen wurde. „Geh jetzt in den Garten und schaukle ein wenig, ich mache solang das Essen.“ sagte sie, obwohl sie nicht mal aufstehen konnte. Alle zwei Tage kam jemand vorbei den ich bezahlte, damit er sie versorgte.
Ich drehte mich von ihr weg um das Haus zu verlassen, da sagte sie noch: „Und vergiss nicht immer auf deinen Vater zu hören, wenn du bei seiner Arbeit spielst.“
„Natürlich, Mama.“ erwiderte ich und entfernte mich aus der baufälligen Hütte. Ich zertrat die gelbe Blume die sich mühsam ihren Weg Platz in diesem unfruchtbaren Gebiet erkämpft hatte und zündete mir eine Zigarette an. Dieser Tag konnte nicht schlimmer werden, dachte ich nur.
Rastlos schlenderte ich auf das Firmengebäude zu, meine Gedanken kreisten nur um eine Sache; War ich ein schlechter Sohn? Meine Mutter war schon lange krank, aber ich fühlte, dass etwas hätte tun können. Vielleicht hätte ich härter arbeiten müssen um meine Muter mit genug Geld aus diesem Loch holen zu können. Aber zurzeit sah ich keine Möglichkeit ihr mehr helfen zu können.
Ich öffnete die Tür und trat ein. „Sind Sie hier um jemanden zu besuchen?“ fragte die Empfangsdame. Sie hatte mich vor kurzer Zeit hinausgehen sehen, aber jetzt erinnerte sie sich nicht mehr an mich. Ich war zu unauffällig - wie ein Schatten streifte ich durch das Gebäude, niemand kannte mich, niemand kümmerte sich um mich. So war es mir recht und ich wollte nicht, dass sich das änderte. Die Anonymität half mir mich in der Arbeit zu Recht zu finden und mich aus dem größten Ärger herauszuhalten.
Im vorbeigehen zeigte ich der Dame meinen Ausweis und stieg die Treppen hinauf. ich hätte mit dem Fahrstuhl fahren können, dann wäre ich wesentlich schneller oben gewesen, aber ich wollte einfach nur gehen, immer weiter gehen.
Ich erreichte die Arbeitskammer, die seit meiner Beurlaubung nicht mehr genutzt wurde, und machte es mir auf dem Stuhl hinter dem Kontrollpult gemütlich. Mein Magen knurrte - ich hätte mir etwas zu Essen holen können, aber ich wollte jetzt einfach nur schlafen.
Der Schlaf hielt nicht lang. Ich hörte, dass jemand an die Tür klopfte und erhob mich mühselig. Ivy stand sogleich im Raum und bot mir etwas zu Essen an. Es war nun schon abends und ich hatte seit gestern nichts mehr gegessen, aber ich sagte: „Ich will nichts essen.“
„Aber du hast heute noch nichts gehabt.“ erwiderte sie ein wenig besorgt.
Warum sorgte sie sich um mich, ich kannte sie doch erst seit zwei Monaten? Für meine Verhältnisse kam sie mir ein wenig zu nah, das gefiel mir überhaupt nicht.
„Hast du nichts Wichtigeres zu tun?“ fragte ich kühl.
„Nein. Aber iss doch erstmal, ich weiß, dass du Hunger hast.“
Sie wedelte mit der Tüte vor meinem Gesicht herum und wollte mich dazu drängen sie endlich in die Hand zu nehmen und zu öffnen. Ich schlug ihr gegen die Hand, sodass sie die Tüte auf den Boden fallen ließ.
„Ich will nichts essen.“ sagte ich ein weiteres Mal, aber mit noch mehr Nachdruck.
„Warum bist du wütend, ist es wegen deiner Mutter?“
Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund und starrte mir in die Augen. Sie versuchte sich da herauszureden, aber ich merkte schon, dass Vargo wieder geredet hatte.
„Wie viel hat er dir erzählt?“ fragte ich und erwiderte ihren starren Blick.
„Was meinst du damit? Niemand hat mir etwas erzählt?“
Das war nur ein lächerlicher Versuch Vargo zu schützen, aber wusste wie ich etwas aus ihr herausbekommen würde. Ich griff nach ihrer Hand und hielt sie fest im Griff. „Was hat er dir gesagt?“
„Er hat mir nur gesagt, dass du deine Mutter besucht hast!“ rief sie verzweifelt und versuchte sich aus meinem Griff zu winden.
„Mehr nicht?“ fragte ich streng und prüfend.
„Nein, das war alles!“
Sie versuchte sich immer noch herauszuwinden, körperlich und in dem was sie sagte, dachte ich. „Du lügst doch!“ setzte ich nach.
„Bitte, hör auf! Ich halt das nicht mehr aus!“ schrie sie mit verzerrten Gesicht und ich bemerkte erst jetzt, dass ihre Hand schon ganz rot angelaufen war, fast so wie ihr Gesicht. „Hör auf.“ fügte sie mit einem leise flehenden Ton hinzu. Mit einem Ruck ließ ich von ihr ab und schnappte mir meine Jacke. „Wo ist Vargo?“ fragte ich sie, während sie vorsichtig ihre Hand hielt. „Ich hatte es auch ohne ihn herausgefunden, er hat mich nur bestätigt.“ log sie und versuchte sich nicht zu verraten.
„Du hast also in meiner Akte gestöbert.“
Ich wusste, dass jeder der am Empfang arbeitete auch Zugang zu den Akten der Arbeiter hatte. Es wäre ein leichtes für sie gewesen, alles über mich herauszufinden.
„Du hast so wenig über dich erzählt, aber ich wollte dich besser verstehen, da habe ich die Akte benutzt.“ sagte sie kleinlaut.
Drohend und mit geballten Fäusten stand ich vor ihr und sah sie mit wutentbrannten Augen an.
„Verschwinde von hier und lass dich nie wieder in meiner Nähe blicken, sonst mach ich dich fertig.“ knurrte ich und deutete auf die Tür.
„Aber…“ Sie ließ ihre Hand los und machte einen Schritt nach vorne um mich zu greifen. Sie wollte nur irgendwie halt an mir bekommen, damit sie nicht meine Nähe verlieren würde. Ihr blieben alle Worte im Hals stecken als sie nach meinen geballten Fäusten griff und sie umschloss. „Schick mich nicht weg, ich liebe dich.“ flüsterte sie und hoffte auf eine positive Reaktion. Das überraschte mich zuerst, aber ich war so wütend, dass ich sie bei den Armen packte und vor die Tür setzte. Sie stolperte und setzte sich auf den Boden. „Bitte nicht, Jack.“ Ich hob eine Faust und brüllte: „Verschwinde endlich!“ Dann schlug ich die Tür so stark zu, dass der Knall im ganzen Flur nachhallte.
Einen Tag später saß ich wieder müde im Essraum und zwang mich zu essen. Vargo saß neben mir und erzählte irgendwelche Geschichten von seiner Arbeit, doch ich hörte ihm nicht zu. Plötzlich standen zwei Männer in hellen Anzügen vor mir und sahen auf mich hinunter. „Wir überbringen Ihnen diese Papiere von der Obrigkeit, bitte leisten Sie dem Aufruf folge.“ sagte der rechte und zog einen Briefumschlag aus seiner Tasche. Behutsam legte er den Brief auf den Tisch und zog sich zusammen mit dem anderen Anzugträger aus dem Essraum zurück. Die anderen Arbeiter starrten mich und den Brief an, als wäre gerade etwas Schockierendes geschehen. Das war es natürlich auch, ich hatte eine personelle Ladung der Obrigkeit bekommen, das konnte nur Ärger bedeuten. Ich nahm den Brief und öffnete ihn, mein Essen war jetzt unwichtig geworden. Es steckte ein handschriftlich beschriebener Zettel in dem Umschlag. Die Obrigkeit lädt Sie heute gegen Abend zu einem förmlichen Essen ein, wir wären sehr erfreut wenn Sie unserer Nachfrage Folge leisten. Jedoch möchten wir nicht zu viele Einzelheiten in diesem Brief beschreiben, seien Sie sich einfach nur bewusst, dass wir keinesfalls daran interessiert sind Sie zu entlassen. Wir bitten Sie nur zu den Essen zu kommen, es könnte sich auch für Sie lohnen. Unterschrieben war der Zettel von Edick G. Kolomnian höchstpersönlich. Vargo sah mich neugierig an, aber ich verriet ihm kein bisschen. Ich beendete mein Mittagessen und machte mich bereit für die zweite Schicht. „Warum sagst du mir nicht, was in dem Brief steht?“ fragte Vargo besonders interessiert, als er mir hinterher lief.
„Dir verrate ich gar nichts mehr, es reicht mir schon, dass du ihr das mit meiner Familie verraten hast.“
„Ich habe ihr nur verraten, dass du deine Mutter besuchst. Wie geht es Ivy eigentlich, sie hat sich lange nicht mehr hier unten blicken lassen?“
„Sie ist mir scheißegal, soll sie doch an ihrer Neugier verrecken!“ erwiderte ich grob und sah wir sich seine Mundwinkel nach unten senkten.
„Du willst doch heute zur Obrigkeit, da kannst du doch vorher mal bei ihr vorbeischauen. Nur ganz kurz, sie wird sich sicher freuen.“ schlug Vargo vor.
Ich blieb stehen und drängte ihn gegen die Wand, dann ergriff ich seinen dicken Hals. „Ich will nichts mehr mir ihr zu tun haben, ich will auch nichts mit dir zu tun haben. Lasst Mich einfach in Ruhe.“ schnauzte ich ihn an.
„Ist ja…gut…ich zieh mich zurück. Vielleicht…denkst du in ein paar…Tagen anders.“ keuchte er, als ich ihn losließ.
„Glaub mir, das werde ich ganz sicher nicht.“ entgegnete ich und ließ Vargo erschöpft auf dem Boden sitzen. Wegen seiner blöden Aktion musste ich mich wieder aufregen, das passte mir überhaupt nicht. Ich wusste nicht mal ob ich heute zur Obrigkeit zu diesem langweiligen Essen gehen wollte.
Schließlich stieg ich am Abend doch in den Fahrstuhl und fuhr bis in die oberste Etage der siebten Ebene. Die Fenster waren verdunkelt und eine kleine Glühbirne leuchtete über der Empfangsdame. Sie sah mich verwundert an, es kam sicherlich nicht oft vor, dass jemand in diese Etage kam. „Was wünschen Sie?“ fragte sie mit einer übertrieben fröhlichen und lauten Stimme durch den ganzen Raum. Ich ging langsam auf sie zu, das schüchterte sie - glaube ich - ein wenig ein. „Ich bin Jack, die Obrigkeit hat mich zum Essen eingeladen.“ Ich zeigte meinen Ausweis vor. „Guten Abend, Jack. Ich rufe nur schnell an, dann wird Sie jemand zur Obrigkeit führen. Nehmen Sie doch solang platz.“ Mit einer schnellen Bewegung deutete sie auf das kleine Sofa in der Ecke, auf dem ich sogleich platz nahm.
Wenige Minuten später kam durch eine weiter hinten im Korridor gelegene Tür ein großer dunkelhäutiger Mann. Er tapste unbeholfen auf mich zu und hielt schnaufend vor mir an. „Jack?“ fragte er mit einer so dunklen Stimme wie ich es noch nie gehört hatte. Ich nickte nur. „Folge mir bitte.“ Ich erhob mich von dem kleinen Sofa und folgte dem breiten Mann durch den Korridor.
So aufrecht wie ich noch nie war, saß ich auf dem Handgeschnitzten Stuhl vor einem großen dunklen Tisch. Rechts von mir saß Joe Edwardson, ein kleiner gedrungener Mann mit einem kahlen Haupt über das sich eine kleine Narbe zog. Zu meiner linken aß Ardin Healin ihre Suppe, sie war eine ältere Frau mit grauem Haar und deinem Gesicht das von vielen Falten durchzogen war. Gegenüber von uns saß Edick G. Kolomnian, ein kräftig gebauter Mann, der ansonsten wie ein durchschnittlicher Arbeiter aussah und neben ihm sein Sohn, Jon. Alle aßen ruhig ihre Suppe, nur manchmal hörte man das leise Geräusch des Schlürfens. Schließlich durchbrach Joe Edwardson die bedingte Stille. „Sie sind also ein Grad A, wie läuft die Arbeit dort?“ Seine Frage richtete sich an mich, darum legte ich den Löffel in den Teller und erwiderte: „Es beinhaltet die grundlegenden Arbeiten, die für mich keinerlei Sinn haben.“
„Dann sollten wir den Grad A abschaffen.“ lachte Joe Edwardson.
„Aber das geht nicht, sonst wäre das Alphabet der Grade in Unordnung. Wir sollten den Grad A mit wichtigerer Arbeit betrauen.“ entgegnete Ardin Healin.
„Das ist doch jetzt nicht wichtig, wir sind aus einem anderen Grund zusammengetreten.“ erhob Edick G. Kolomnian seine Stimme. Sogleich verstummten die beiden Streitenden und ließen ihn gewähren. Es sah so aus, als würden sie alles für ihn machen.
„Wir sind hier damit wir uns um die Zukunft dieses Arbeiters kümmern. Mein Sohn sagt, dass er sehr viele Talente hat die leider nicht zum Ausdruck kommen können, wenn er so einen niedrigen Stand hat. Hat jemand eine Idee, was zu tun ist?“ Er fragte ganz offen, sogar der dunkelhäutige Mann, der neben der Tür stand, hätte jetzt wahrscheinlich einen Vorschlag machen können. „Wir könnten ihm die Zulassung für den Grad D erteilen.“ schlug Joe Edwardson vor. Er war der Mann der für die morgendliche Zuteilung der Arbeit zuständig war und er war keinesfalls ein Freund von meiner Arbeitsweise. Aber wir alle wussten, dass Jon Kolomnian alles tun konnte, sogar einen Grad A Mitarbeiter wie mir alles zu geben. „Nein, das reicht nicht. Er ist der beste Arbeiter der mir in meiner ganzen Laufbahn vorgekommen ist.“ sagte nun der junge Kolomnian, er hing an dem Arm seines Vater wie ein kleines Kind und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Ein weiteres Mal erhob Edick G. Kolomnian seine Stimme und sagte: „Er bekommt die Zulassung des Grads K und eine bedingte Mitgliedschaft in der Obrigkeit.“
Den beiden anderen der Obrigkeit blieb der Mund weit offen stehen und Edick G. Kolomnian sah in ratlose Gesichter.
„Und was bedeutet eine bedingte Mitgliedschaft.“
Joe Edwardson schloss seinen Mund und erklärte: „Eine bedingte Mitgliedschaft bedeutet, dass du bei wichtigen Entscheidungen, wie dem Etat, mitentscheiden darfst, aber kein Anrecht auf die Vergünstigungen der Obrigkeit hast.“
„Melden Sie sich bei Tammy am Empfang, sie wird Sie zu ihrem neuen Büro bringen.“ fügte Edick G. Kolomnian hinzu.
„Ich bekommen mein eigenes Büro? Ich verdanke Ihnen sehr viel und möchte Sie nicht enttäuschen.“ biederte ich mich an. In dem Moment kam ich mir dreckig vor, aber ich bekam dafür eine gute Position.
„Gehen Sie nun, das Essen ist beendet. Ihr Büro in der Ebene 6 erwartet Sie.“ sagte Edick G. Kolomnian.
„Vielen Dank.“ sagte ich wieder und ließ mich von dem breiten Mann zur Empfangsdame bringen. Die Empfangsdame stand auf und sagte: „Bitte folgen Sie mir.“
Kapitel 5:
Das wirkte immer noch alles so unecht auf mich, aber ich musste mich wohl langsam daran gewöhnen. Ich saß in meinem eigenen Büro auf der Ebene 6 und konnte meine zwei Teams befehligen. Ich musste nicht mal ins Theater, um mir Arbeit zu sicher, jeden Morgen kam Ardin Healin vorbei und übergab mir die Arbeit. Ich musste sie dann nur noch auf meine Arbeiter verteilen und am Ende des Tags die Protokolle schreiben. Aber nach zwei Wochen dieser monotonen Arbeit fing ich an mich zu langweilen. Mittlerweile glaubte ich, dass mir die Obrigkeit den Grad K nur gegeben hatte, um mich aus dem Verkehr zu ziehen, aber das ließ ich nicht mit mir machen.
Am Abend, nach getaner Arbeit, zog ich meine Jacke über und stieg in den Fahrstuhl. Obwohl ich mir bei meinem Gehalt schon längst neue Kleidung hätte kaufen können, hielt ich mich immer noch bei meiner alten Jacke. Mir war irgendwie danach Jerry Edison einen Besuch abzustatten. Er war es doch gewesen, der immer gesagt hatte, dass ich nichts Wert sei und es nie zu etwas bringen würde. Ich wollte sein wütendes Gesicht sehen, wenn ich ihm von der Neuigkeit erzählte.
Der Fahrstuhl hielt und seine Türen öffneten sich. Ivy saß in ihren besten Sachen hinter dem Schreibtisch und konnte es nicht glauben, als ich aus dem Fahrstuhl trat. Mir war entfallen, dass sie ja auch hier ist.
Langsam näherte ich mich dem Tisch und legte meine Hände auf die Ecken. „Ich möchte gern zu Jerry Edison.“ sagte ich.
„Jack“, sagte sie nun fast sprachlos, „Können wir nicht noch mal darüber sprechen, ich weiß jetzt, dass du dein Privatleben für dich behalten willst. Bitte, sprich wieder mit mir.“
„Ich möchte einen Termin bei Jerry Edison. Beeil dich, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ sagte ich und ignorierte ihre Bitte.
Nun merkte sie, dass sie nicht mehr mit mir sprechen konnte und gab es auf. Mit einer leisen und vorsichtigen Stimme, um nicht gleich in Tränen auszubrechen, sagte sie: „Er hat zurzeit nichts zu tun, du kannst gleich zu ihm gehen.“
„Vielen Dank.“
Ich trat ohne zu klopfen in das Büro von Jerry Edison ein und setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Entspannt legte ich die Füße auf den Tisch und sagte: „Hallo, Jerry. Wie geht es dir?“
„Mir geht es gut und dir?“ entgegnete er kühl.
„Es könnte mir nicht besser gehen, ich habe ein Büro auf der sechsten Ebene, mehrere Arbeiter stehen mir zur Verfügung und ich habe eine bedingte Mitgliedschaft bei der Obrigkeit. Ich wie läuft es bei dir?“
„So wie immer. Vielleicht interessiert es dich ja, dass ich nach einer neuen Empfangsdame suche, meine alte ist ein wenig faul in der letzten Zeit.“
„Du willst sie doch nur feuern, weil du mich damit verletzten willst. Aber ich muss dich enttäuschen, ich habe nichts mehr mit ihr zu tun.“
Seine Mundwinkel zogen sich ein wenig nach oben und zeigten mir seine gelben Zähne. Was hatte er vor, warum sah er mich so an? Es musste irgendetwas geben, weshalb er sich überlegen fühlte. „Warum grinst du?“ fragte ich.
„Ich finde es nur belustigend, dass du etwas mit meiner Tippse hattest, obwohl du in der Ausbildung doch immer gesagt hast, dass dir Freunde lästig sind.“
„Wir waren nicht zusammen. Ich hatte nie vor mit ihr befreundet, sie kam einfach immer wieder an.“
„Na gut, es war schön mal mit dir gesprochen zu haben, aber jetzt muss ich wichtigerem zuwenden. Und ich werde sie trotzdem entlassen.“
Er reichte mir die Hand und ich erwiderte seinen Handschlag nur widerwillig. „Ich hasse dich.“ sagte ich und verließ schnellen Schrittes sein Büro.
Ich hielt abrupt vor dem großen Schreibtisch von Ivy und fasste mir an den Kopf, dann drehte ich mich zu ihr um. „Willst du bei mir arbeiten?“
„Du willst, dass ich bei dir arbeite?“ fragte sie verwundert.
„Jerry hat gesagt, dass er dich feuern will und ich denke, dass du gut arbeitest und meine Empfangsdame ist nicht so gut.“
Die Worte kamen mir nur schwerlich über die Lippe und sie merkte, dass ich mich dazu zwingen musste.
„Wann kann ich anfangen?“
„Morgen.“
„Ich werde auf jeden Fall da sein.“
„Aber ich mache das nur, weil du gut und schnell arbeitest, aus keinem anderen Grund.“
„Okay.“ sagte sie ein wenig enttäuscht, aber immer noch froh genug um sich nichts anmerken zu lassen.
„Dann gehe ich jetzt wieder.“
Ich entfernte mich von dem Schreibtisch und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Der Fahrstuhl erreichte die Etage und ich trat ein. Mit dem Gesicht von ihr abgewandt, sagte ich: „Du warst eben nur neugierig, da kann ich nichts bei machen.“
„Es wird nie wieder vorkommen.“ erwiderte sie.
Ich nickte und die Fahrstuhltüren schlossen sich hinter mir.
Mit einem leichten Niesen begrüßte ich die ankommende Morgensonne in meinem Büro. Ich war an meinem Schreibtisch eingeschlafen und hatte die ganze Nacht hier verbracht, anstatt in meinem kleinen Schlafzimmer mit dem sauberen Bett. Die Arbeit war zu langweilig gewesen, aber ich hatte sie noch rechtzeitig fertig bekommen bevor mir die Augen zufielen. Im selben Moment in dem ich das gedacht hatte, klopfte es an meiner Tür und Ardin Healin trat ein.
„Hier sind die Protokolle.“ sagte ich schlaftrunken.
„Und hier ist ihre Arbeit.“ erwiderte sie und nahm sich die Protokolle vom Tisch und legte im Gegenzug die neue Arbeit ab.
„Sie scheinen schlecht geschlafen zu haben.“ bemerkte sie.
„Nicht so schlecht wie sonst.“ entgegnete ich und gähnte. Ich nahm die Arbeit zur Hand und bedankte mich bei Ardin Healin, dann schloss sich die Tür auch schon wieder und ich war allein in dem großen Büro. Schnell überflog ich die Arbeit und verteilte sie auf die Arbeitskästen der beiden Team, damit war die Arbeit für die erste Stunde getan.
Ich ging aus meinem Büro zu meiner Empfangsdame und stellte mich neben den Schreibtisch.
„Gibt es ein Problem?“ fragte sie freundlich.
„Ja, ich muss Ihnen leider sagen, dass ich Sie entlassen muss. Bitte, räumen Sie den Schreibtisch und verlassen Sie Ihren alten Arbeitsplatz.“
Sie nickte nur und machte sich daran die wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken. Das lief einfacher als ich zuerst gedacht hatte, sie sagte kein Wort als sie die Etage über den Fahrstuhl verließ. Ehrlich gesagt, hatte ich kein Mitlied mit ihr, sie würde von der Obrigkeit sicher einen neuen Arbeitsplatz bekommen. Und wenn sie keinen bekam, dann war mir das auch relativ egal.
Als die entlassene und geknickte Empfangsdame den Fahrstuhl betrat, kam Ivy die Treppen hoch und stellte sich wie beim Militär vor mir auf.
„Ich bin bereit für meine Arbeit.“ sagte sie entschlossen.
„Hast du gar keine Sachen dabei?“ fragte ich, da sie nur ihre Tasche mit den Arbeitssachen drin dabei hatte.
„Was meinst du?“
„Die Empfangsdamen für den Grad K bekommen einen Raum neben dem Büro, damit sie nicht so weit laufen müssen. Diese Dame hatte ihren nicht genutzt, weil sie abends zu ihrer Familie fuhr.“ klärte ich sie auf.
„Das wusste ich nicht. Ich frage nur ungern, aber hilfst du mir beim tragen?“
„Dafür gibt es den Aufzug.“ entgegnete ich und schritt auf den Flur zu meinem Büro zu. „In einer halben Stunde will ich dich an deinem Arbeitsplatz sehen, sonst bist du gleich wieder gefeuert!“ rief ich noch bevor ich die Tür meines Büros schloss.
„Okay!“ rief sie und lief die Treppen wieder hinunter. Sie lief so schnell sie konnte, obwohl sie dafür auch den Fahrstuhl nehmen konnte. Aber aus irgendeinem Grund - den sie selber wahrscheinlich nicht mal kannte - lief sie jedes Mal die Treppe rauf und runter.
Eine halbe Stunde später verließ ich mein Büro wieder um zu sehen ob sie auch an ihrem Platz war. Langsam schritt ich durch den Korridor um ihr, wenn sie noch nicht da war, ein wenig Zeit zu geben. Aber das war nicht nötig, sie saß auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch und änderte den Zugangscode für den Computer.
„Du bist ja doch schon hier.“ sagte ich und sah von oben auf sie herab.
„Ja.“ erwiderte sie einsilbig und ließ sich nicht davon abbringen die Tastatur des Computers zu bearbeiten. Ivy hatte ihr Gesicht von mir abgewandt und tippte immer schneller auf den Tasten herum.
„Was hast du?“ fragte ich.
Sie schlug mit der Faust auf die Tastatur und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Auf einmal fing sie jämmerlich an zu weinen und überraschte mich auf dem falschen Fuß.
„Es tut mir ja Leid, dass ich so abweisend bin, aber deswegen brauchst du doch nicht heulen.“ gab ich zu, um sie ein wenig zu beruhigen.
„Das ist doch nicht deswegen!“ entgegnete sie laut und hob ihren Kopf um in meine Augen zu sehen. Unterhalb ihres rechten Auges hatte sie einen dicken und dunklen Fleck. Aus ihrer Nase tropfte Blut auf die Tastatur und ihre Hände waren mit Schürfwunden übersät. „Wer war das?“ fragte ich sofort.
„Diese Typen haben mir auf der vierten Ebene aufgelauert, gerade als alle gegessen haben und niemand in der Nähe war. Dann haben sie auf mich eingeschlagen, mein ganzer Körper schmerzt.“ erwiderte sie schluchzend.
„Hast du es gemeldet?“
„Wenn ich es melde, werden sie mich bestimmt töten. Ich habe Angst, Jack.“
Mit ihren großen Tränenunterlaufenen Augen starrte sie mich an und ich hatte keine Idee was ich machen sollte. Doch dann fiel mir etwas ein.
„Welche Typen waren das?“
„Das war der Typ den du im Essraum verprügelt hast, zusammen mit seinem Freund. Sie haben gesehen, dass ich dir geholfen habe und jetzt wollen sie wahrscheinlich uns beide töten.“
„Dazu wird es nicht kommen.“
Sie senkte ihren Kopf ein wenig und kratzte sich mit ihren Fingern am Kopf, doch sie ließ schnell davon ab weil sie zu sehr schmerzten.
„Sind sie immer noch in der vierten Ebene?“
„Ja, sie wollten sich dort ein wenig entspannen nachdem sie mich verprügelt haben. Aber was hast du vor?“
In ihrer Frage steckte furcht vor einer unüberlegten Handlung von mir. Sie wusste, dass ich schnell die Kontrolle verlor und wollte das verhindern.
„Wenn ich Glück habe, kann ich sie überraschen.“ sagte ich und war mir jetzt schon sicher, dass ich gewinnen kann. Sie waren zwar zu zweit, aber wenn ich die richtigen Mittel hatte um sie mir von Leib zu halten, dann könnte ich es schaffen. Ich war mir so sicher, dass ich es schaffen würde, dass ich alle Gefahren übersah.
„Hör bitte auf damit.“ sagte Ivy und stand nun auf, um mich notfalls mit Gewalt aufzuhalten. Obwohl sie sich sicher war, dass sie mich mit Gewalt nicht aufhalten konnte. In ihren Augen wirkte ich manchmal wie ein gefährliches Tier, das nur den kleinsten Grund brauchte um loszuschlagen.
„Ich werde dafür sorgen, dass sie dich nicht mehr verletzen können.“
Unbeholfen schloss ich sie in meine Arme und versuchte nicht ihre Wunden zu treffen. Sie atmete ganz ruhig und ich konnte ihr Herz sehr schnell schlagen spüren. Sie hob ihren Kopf um mir in die Augen zu sehen. „Du könntest deine Arbeit verlieren.“ sagte sie als einziges Argument. Dabei war mir zu dem Zeitpunkt relativ egal, was aus meiner Arbeit werden würde, ich wollte sie nur beschützen. Erst jetzt wurde mir klar, dass sie die einzige Frau war, der ich etwas bedeutete und die mir etwas bedeutete. Ich wünschte dieser Moment in dem ich ihre Wärme spüren konnte, würde ewig dauern, aber das durfte er nicht. Ich hatte etwas zu tun, etwas sehr wichtiges. „In der obersten Schublade meines Schreibtischs ist das Geld, das ich gespart habe. Nimm es und fahr mit dem Fahrstuhl bis zum Erdgeschoss und warte dort auf mich. Wenn ich nicht komme, dann geh zu Jon Kolomnian und erzähl ihm davon.“ erklärte ich ihr schnell.
„Und was machen wir, wenn du kommst?“
„Dann habe ich wahrscheinlich einen Menschen getötet und wir brauchen das Geld um unterzutauchen. Wir beginnen dann ein neues Leben, nur wir beide.“
Das ging mir so einfach von den Lippen, dass es Ivy erschrak, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
„Ich werde dir überall hin folgen, sogar in den Tod.“
Das erschrak mich jetzt, ich wusste nicht, dass ihre Zuneigung so groß war. Ich schloss sie fester in meine Arme, als wolle ich sie nie wieder loslassen. Ich senkte mein Kopf und küsste sie, aber kurz darauf löste ich mich von ihren Lippen und sagte mit leiser Stimme: „Bist du bereit?“
„Ja.“ erwiderte sie noch leiser als ich und wir nickten beide. Dann entließ ich sie aus dieser unendlichen Umarmung und wir taten das was wir abgemacht hatten. Vielleicht hätte ich selber zu Jon gehen sollen, aber ich wollte die Lebensgeister aus diesen Schweinen entschwinden sehen, das wollte ich mir um keinen Preis entgehen lassen. Als ich heute aufwachte, hätte ich mir nie denken können, dass dieser Tag so mies endet. Aber was konnte das auch für ein Tag werden, wenn der Morgen ein guter Morgen war.