Das glückliche Kätzchen

Hollow Point

Nero VI.
Otaku Veteran
1: Der letzte Held der Welt


Irgendwann ist für jeden Menschen die Zeit gekommen, wo er dem Tod in die Augen blicken muss. Der Tod starrt dich direkt an, mit seinen düsteren, kalten Augen und du weißt, es ist nicht zu verhindern. Dann gibst du dich dem hin, lässt dein Leben langsam zu Ende gehen und dann ist es abrupt vorbei. So hatte ich mir das Sterben immer vorgestellt. Doch das Schicksal zögerte den sicheren Tod vieler Menschen hinaus bis sie fast verrückt wurden und ihn sich allmählich herbeiwünschten, zuerst nur in flüchtigen Gedanken, bald schrieen sie nach dem Sterben. Selbst ich hatte es mir schon so oft gewünscht, den Tod zu finden, mich neben die Leichen auf die Straße zu legen und die Augen zu schließen. Diese Gedanken überfielen mich erst lange Zeit nach den schrecklichen Vorfällen, doch das minderte ihre Heftigkeit nicht, ich begann sogar, die Toten zu beneiden. Sie hatten es hinter sich gebracht, waren all dem ausgewichen, um ihren ewigen Frieden im ewigen Nichts zu finden.
Meine Hilflosigkeit und Nutzlosigkeit trieb mich in die Verzweiflung, nein, sie ließ mich innerlich sterben. Jedes Gefühl war vor vielen Stunden gestorben, nur mein Körper weigerte sich mit einer unbändigen und unvorstellbaren Kraft dagegen, die Tatsachen hinzunehmen. Er hatte mich stets vorangetrieben, obwohl ich nicht mehr gehen wollte. Er hat gekämpft, obwohl die Fäuste wund waren. Er lebt noch.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnte ich nicht mehr sagen, ob ich mein erbärmliches Leben verdient hatte und warum es all die anderen Menschen nicht hatten. War ich vielleicht besser als sie? Doch warum war ich besser? Oder hatte ich nur Glück gehabt? Aber warum hatten die anderen Menschen kein Glück? Und habe ich überhaupt irgendetwas unternommen, um die Menschen vor dem Tod zu bewahren oder habe ich mich nur versteckt? All diese Fragen waren in den Vordergrund gerückt, beschäftigten mich stets. Alles andere war in weite Ferne gerückt.

Die Füße in den abgenutzten Lederschuhen ruhten auf dem Dachvorsprung, eine Zigarette hing zwischen den zitternden Fingern, in der anderen Hand, die nicht minder zitterte, lag der Revolver. Die Waffe war nutzlos, alle Kugeln waren verschossen. Ich hatte keine Verwendung mehr dafür, also schleuderte ich ihn mit der letzten Kraft, die ich noch aufbringen konnte, herunter. Mit einem dumpfen Geräusch traf er einen der Köpfe und hinterließ eine tiefe Wunde in dem trockenen Fleisch. Der Körper darunter sank leblos zu Boden. Ich stieß mehrere laute Flüche aus und verstummte dann abrupt. Diese Gestalten waren der Grund, warum ich überhaupt dort stand, warum all die Menschen sterben mussten und warum ich mir überhaupt Gedanken um den Sinn meines Lebens machen musste.
Ich war unbewaffnet, vollends verloren und mutlos. Das einzige, was mich noch vom Tod trennte, war die mit Tischen und Stühlen verbarrikadierte Tür hinter mir, nicht mehr. Ich war mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Barrikade durchbrochen war. Diese widerlichen Ausgeburten der Hölle würden mich in Stücke reißen, nichts mehr von mir übrig lassen.
Auch nach mehreren Tagen wusste ich nicht, wie diese Gestalten entstehen konnten oder wie man den Ansturm aufhalten konnte. Sie waren weder tot noch lebendig, wandelnde Ungeheuer, Untote, die ihren Platz auf dieser Welt nicht verdient hatten. Alleine waren sie leicht zu töten und generell dumm, doch wenn sie sich zusammenrotteten und durch die Straßen streiften, zerrissen sie in Windeseile jeden, der nicht wie sie war. Und ihre Zahl stieg stetig an. Ein derartiges Szenario kannte ich vorher nur aus Filmen und in diesen Filmen gab es selten ein Happy End, ganz im Gegenteil sogar.
Nach nun fünf Stunden, die ich auf dem Dach verbrachte, hatte sich mittlerweile eine ganze Schar von ihnen unter mir versammelt, vielleicht zweihundert oder dreihundert. Sie standen nur da, starrten zu mir hinauf. Manche von ihnen sprangen wild gegen die Fassade, als glaubten sie zu mir hinaufklettern zu können. Doch die meisten von ihnen reckten still ihre Nasen in die Höhe, sie rochen mein lebendiges Fleisch, den Geruch ihres Futters. Ihr Hunger schien groß zu sein, sonst hätten sie sich nicht alle unter mir versammelt, wahrscheinlich waren ihnen alle anderen schon zum Opfer gefallen. In diesem Augenblick glaubte ich sogar, dass ich der letzte lebende Mensch auf diesem Planeten war. Aber ich schüttelte den Gedanken ab, das konnte nicht stimmen, es durfte nicht stimmen. Aber wenn es doch so war, dann war ich bereit mich zu opfern, dem grausigen Schauspiel endlich ein Ende zu bereiten, ihnen die Welt zu überlassen.
Die letzte Zigarette, die ich besaß, war am Ende - ich warf sie dem Revolver hinterher. Wenn ich jetzt springen würde, könnte ich einige mit in den Tod reißen, dachte ich. Das würde meine letzte Aufgabe sein: möglichst viele von ihnen zu töten. Doch jetzt, als es darauf ankam, konnte ich mich noch nicht von meinem Leben verabschieden. War wirklich schon alles verloren? Ich klammerte mich an diese Frage, versuchte eine Antwort zu finden. Alle, die ich kannte, waren tot, alle, die ich nicht kannte, ebenfalls. Was machte es dann noch für einen Unterschied, ob ich lebte oder nicht. Ich würde wissen, dass ich als Held aus dem Leben scheide - der letzte Held der Welt.
Ich ließ die Zehen über den Vorsprung rutschen, näherte mich ihm langsam. Die Hände wurden unerwartet ruhig, als ich in die Masse von Haaren, aufgerissenen Mäulern, Nasen und Armen blickte. Sie lechzten nach meinem Fleisch. Die unerwartete Ruhe ließ diesen Moment zu einem glücklichen werden, der mich alles vergessen ließ, was ich erlebt hatte. Doch plötzlich ertönte eine Stimme, sie kam nicht aus der Meute, sondern erklang hinter mir. Die Stimme war unglaublich vertraut und schallte wunderbar hell und zart durch meinen Gehörgang. Dann mischte sich ein metallenes, zuerst leises und dann ohrenbetäubendes Geräusch dazwischen, bis es die Stimme übertönte. Ich wand mich hastig herum. Ein dunkler Schatten legte sich über mich. Nun war das Ende gekommen, dachte ich. Als ich in das fragende Gesicht vor mir blickte, musste ich an den Anfang denken, der Tag ab dem das grausige Schicksal seinen Lauf nahm: ein warmer Montagmorgen im Sommer…
 
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Biker No.1

Gläubiger
WOW!!!das is doma n buchstat!!schreibste dat noch wiga oder wars dat?ik warte.machste da n janzes buch drus dat de veröffntlichst oda just 4 fun?bin net so schnell mim lesen aba die zik nem ik mia.9 von 10 möglichn.
 

Hollow Point

Nero VI.
Otaku Veteran
2: Ich gehe nicht ohne mein Gehirn!


Montagmorgen, dreiundzwanzig Grad Celsius, wolkenloser Himmel. Die Menschen erfreuten sich an dem warmen Sommertag, gingen ihrer Arbeit nach, machten ihre Einkäufe in den Geschäften oder saßen nur in ihren Gärten. Es erschien alles so ruhig, nichts war von dem Grauen zu sehen, das schon wenige Stunden später über sie fiel.
An diesem Tag war ich schon früh wach gewesen. Die Hitze hatte mich aufgeweckt und mit ihrer ganzen Unerbittlichkeit nicht wieder einschlafen lassen. Also nutzte ich die Zeit, um ein ausgedehntes und gemütliches Frühstück zu mir zu nehmen. Ich genoss die Ruhe. Nebenbei trank ich meinen Kaffee und las die Zeitung vom Vortag. Nach dem Frühstück stellte ich mich unter die Dusche, ein wunderbar kühler Schwall ergoss sich über meinen Körper und ließ die schweißdurchtränkte Nacht in Vergessenheit geraten. Danach zog ich meine Kleidung an und packte meine kleine Tasche.
Ich setzte mich in den kleinen, schwarzen Wagen und startete den Motor. Bis zu diesem Zeitpunkt war es ein Morgen wie jeder andere auch. Die Straßen waren ruhig, der Himmel erstrahlte in einem schönen blau und die Menschen schienen glücklich zu sein. Nichts hätte mich davon abgehalten, zu meiner Arbeit zu fahren.
Wie an jedem anderen Morgen fuhr ich auch an diesem zu dem kleinen Laden von Herr Salzmann. Ein netter kleiner Laden, der noch viel altertümlichen Charme versprühte. Als ich noch ein Kind war, ging ich immer den ganzen Weg von dem Haus meiner Eltern zu dem Laden, um dort Süßigkeiten zu kaufen. An meinen Besuchen in dem Laden hatte sich außer der Einkaufsliste nichts verändert. Ich ging immer noch gerne dorthin und manchmal frühstückte ich dort auch.
Als ich das Geschäft betrat, begrüßte mich Herr Salzmann gleich mit einem freundlichen Lächeln und legte die Hände auf den alten Tresen. „Der junge Felix Radke.“ sagte er.
„Guten Tag, Herr Salzmann.“ erwiderte ich und ging zum Tresen. Dann ließ ich meinen Blick durch den Laden streifen. „Noch keine Kunden da?“
„In der letzten Zeit kommen immer weniger Leute hierher. Ich habe nur noch meine Stammkunden, manchmal glaube ich sogar, dass du der einzige Kunde bist.“ erwiderte er mit einem gequälten Gesichtsausdruck. In seinem alten Gesicht zeichneten sich tiefe Falten der Sorge ab.
Ich nahm den Plastikbeutel vom Tresen und legte das Geld hin. „Das wird sich auch wieder ändern.“ sagte ich mit einem zuversichtlichen Lächeln. Aber es schien nicht viel zu helfen, sein Blick blieb voller Sorgen, auch wenn er versuchte zu lächeln. Es stand nicht gut um seinen kleinen Laden. Die Kunden, die sonst täglich zu ihm kamen, waren mittlerweile verstorben oder nicht mehr in der Lage alleine einzukaufen. Die Regale mussten manchmal leer bleiben, weil das Geld knapp wurde und er keine neuen Waren beschaffen konnte. Er würde das Geschäft nicht mehr lange halten können und sich mit seiner kleinen Rente zufrieden geben. Mich machte sein Schicksal traurig, denn sein kleiner Laden war das einzige, was noch aus meiner Kindheit übrig geblieben war. Nach meinem Studium hatte sich die Stadt so stark verändert, dass ich sie kaum wieder erkannt habe. Sie hatte sich so schnell verändert, aber dieser Laden war immer noch so wie früher gewesen, die letzte Zuflucht für Erinnerungen aus einer besseren Zeit.
Mit einem letzten Wink in die Richtung von Herrn Salzmann verließ ich das altertümliche Geschäft und setzte mich wieder in meinen Wagen. Vorsichtig legte ich die Tüte auf den Beifahrersitz und drehte den Schlüssel im Zündschloss herum. Der Motor startete, aber ich stellte ihn gleich wieder ab. Etwas im Rückspiegel hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Ich drehte mich auf dem Sitz herum und blickte nach allen Richtungen. Dann sah ich eine bekannte Person. Sie stand regungslos neben dem Wagen und starrte zu Boden. Ich winkte ihr zu, aber sie erwiderte es nicht, also stieg ich aus.
„Was tust du hier, Sophie Hoffmann?“ fragte ich.
Das Mädchen hob erschrocken ihren Kopf, warf die langen blonden Haare zurück und sah mich dann vorwurfsvoll an. „Das könnte ich Sie auch fragen.“
Überrascht von ihrer forschen Antwort warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr und realisierte, dass ich mein gemütliches Frühstück zu weit ausgedehnt hatte. Ich war bereits zehn Minuten über der Zeit. Doch ich blieb entspannt, wollte vor ihr nicht meine Souveränität verlieren. „Ich habe dich zuerst gefragt.“
„Aus den Reifen meines Fahrrads war die Luft raus, also gehe ich zu Fuß. Und was ist ihre Entschuldigung.“
Sie war wortgewandt und forsch wie immer, doch etwas störte mich an ihr. Ich wusste nicht, was es war, aber sie schien aufgebracht und unsicher zu sein. Sonst hatte sich mich jeden Tag freundlich gegrüßt, wenn ich sie in der Schule sah, doch heute kamen die Worte nur langsam aus ihrem Mund.
„Soll ich dich mitnehmen?“ fragte ich hilfsbereit.
„Das ist wirklich nett. Vielen Dank.“
Sie nahm ihren braunen Rucksack vom Rücken und stieg neben mir in das Auto ein. Ich startete erneut den Motor.
Nachdem wir ein paar Minuten gefahren waren, war ich immer noch wegen ihrem Verhalten verwirrt. Sophie Hoffmann war keine von den Schülern, die zu spät kamen und oft fehlten. Sie war eine von den Schülern, die sich ein Lehrer wünschte: Ihre Noten waren gut, sie verhielt sich ruhig und schien nie Probleme zu haben.
Wir fuhren an dem Park vorbei, dessen Bäume zu dem Zeitpunkt in voller Pracht standen und in einem hellen grün erleuchteten.
„Sie kamen noch nie zu spät, Herr Radke. Gab es Probleme?“ sagte Sophie plötzlich. Ihre Forschheit machte mir manchmal Angst.
„Das könnte ich dich auf fragen.“ Das war das einzige, was mir einfiel zu erwidern.
„Dieses Mal habe ich aber gefragt.“
„Ich habe die Zeit vergessen.“
Diese Antwort stellte sie zufrieden und sie richtete ihre Augen wieder auf das Geschehen außerhalb des Wagens. Jeder von uns schwieg bis wir die Schule erreichten. Ich sagte Sophie, dass sie schnell in die Klasse gehen solle. Sie winkte mir hastig zu, wand sich dann um und sprang mit vorsichtigen Schritten die Treppe hinauf. Ich blieb mit erhobener Hand in der Tür stehen und starrte irgendwann nur noch auf die Treppenstufen.
Ich hatte Sophie schon immer gemocht, aber sie schien so weit von mir entfernt zu sein, wobei der Altersunterschied von zwölf Jahren nicht mal das ausschlaggebende war. Die einzige Arbeit, die ich in dieser Stadt gefunden hatte, war die als Hausmeister des Gymnasiums und sie war nun in der dreizehnten Klasse und steuerte auf eine rosige Zukunft zu. Ich war ein unrühmlicher Aussteiger aus der Arbeitswelt, sie hatte noch alles vor sich. Es gab so viele Unterschiede.
Die Situation war nicht so, dass ich sie noch schön reden musste. Ich hatte das Studium abgebrochen, hatte mich danach einige Zeit lang mit kleinen Jobs über Wasser gehalten. Aber irgendwann kam ich zu dem sinnlosen Entschluss wieder in meine Geburtsstadt zurückzukehren. Und hier war ich nun, Hausmeister an der Schule, die ich damals mit besten Noten und Vorstellungen vom Leben verlassen hatte. Diese Häufchen Elend war das einzige, was davon übrig geblieben war.
Eine bekannte und überhaupt nicht angenehme Stimme ließ mich herumschnellen. Ich blickte auf das schiefe Auge von Erich Carstens, dann zu Boden. Er mochte es nicht, wenn man auf sein Auge starrte. „Felix, was tust du da? Weißt du überhaupt, wie spät es ist? Wo hast du gesteckt? Und warum stehst du da so blöd herum?“
Das waren zu viele Fragen auf einmal. Ich schwieg und ging an ihm vorbei. „Ich fange jetzt an.“ murmelte ich nur.


Müde ließ ich mich in den Stuhl fallen und nahm mir eine Zigarette aus der Schachtel. Kurzerhand hatte ich sie angezündet. Erich, der gegenüber von mir saß, schaute mich an. Er betrachtete mich einige Zeit lang. Dann sagte er: „Du siehst blass aus.“
„Ich habe nicht viel geschlafen.“
Erich nickte stumm.
„Und hast du…“ Seine Stimme riss ab, als ein durchdringender Schrei durch die Korridore hallte. Es klang wie der erstickende Schrei eines Menschen, der kurz vor dem Tod stand. Erich war sogleich aufgesprungen und hatte seinen Kopf zur Tür heraus gesteckt. Er sah nach links und nach rechts, dann drehte er sich zu mir um. Er wollte gerade etwas zu mir sagen, als seine Stimme erneut von einem lauten Geräusch übertönt wurde, es war eine Explosion, vielleicht nur zwei Straßen von uns entfernt.
Ich drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf.
„Was war das?“ fragte ich unsicher.
„Das hast du doch gehört. Lass uns nachsehen gehen.“
Er hatte sogleich die Tür geöffnet und stand im Flur. Er wand seinen Blick nach rechts und blieb wie erstarrt stehen. Ich ging nun ebenfalls heraus und sah mich um. Von rechts kam ein Strom von Menschen in unsere Richtung gerannt, Schüler und Lehrer gleichermaßen. Manche weinten, manche schrieen, manchen stand nur die blanke Angst im Gesicht. Sie rannte vor etwas davon, nur vor was?
Erich hob die Hände und versuchte die aufgebrachte Menge zu beruhigen, aber sie rannten weiter. Und kurz darauf standen wir auch schon in einer Masse aus Menschen, die versuchte brüllend und stampfend durch den engen Gang zu kommen. Ich verlor Erich aus den Augen und dann ging alles sehr schnell. Ich erinnere mich kaum noch daran, was passierte. Jemand riss mich zu Boden, ich sah die Menschen fallen. Und plötzlich saß jemand auf mir, Blut tropfte von seinen Mundwinkeln auf mich herunter, ein übler Geruch drang aus seinem Mund. Ich sah nur die Umrisse der Person und seine Augen, Augen von unbeschreiblichem Wahnsinn und Stumpfsinn, die mir danach noch so oft begegneten. Er riss seinen Mund auf und schnappte mit seinen gelben Zähnen nach mir. Letztendlich weiß ich nicht, wie es mir gelang mich von dem massigen Mann befreien und zurück in den kleinen Raum stürzen konnte, aber es gelang mir.
Schwer atmend stand ich in dem Raum, drückte den Rücken gegen die Tür. Ich spürte, dass jemand gegen die Tür stieß, aber wagte es nicht, nachzusehen, ob es Erich war. Ich hatte kaum die Kraft die Tür geschlossen zu halten. Durch Zufall fand ich den Schlüssel, der im Schlüsselloch steckte und drehte ihn schnell herum.
Minutenlang blieb ich mit dem Rücken gegen die Tür gedrückt stehen. Wilde Gedanken rasten durch meinen Kopf, aber keine, die für den Moment brauchbar gewesen wären. Und plötzlich dachte ich nur noch an Sophie. Ich musste nachsehen, ob es ihr gut ging. Es war verrückt, aber ich wollte zu ihr gehen.
Noch immer ertönten markerschütternde Schreie aus dem Korridor und seit einiger Zeit auch vom Hof. Es war eine Katastrophe, die mich in einen panischen Zustand geraten ließ.
Ich löste mich von der Tür und trottete zum Fenster. Nebenbei nahm ich die Zigarettenschachtel und schob sie in meine Hosentasche. Ich blickte aus dem Fenster auf das kleine Waldstück, das hinter der Schule lag. Er war scheinbar ruhig. Ich wusste wo Sophies Klassenraum war: im ersten Stockwerk Raum 120. Ich machte mir Gedanken über den Weg, den ich nehmen müsste. An der Seite des Gebäudes gab es eine Nottreppe, aber von dort aus hätte mich jeder gesehen, der auf dem Hof war, diese Möglichkeit fiel also weg. Ansonsten kam man nur über die Treppen im Hausinneren nach oben, ebenfalls keine gute Idee, weil ich dann durch den Korridor müsste, den ich vorhin so fluchtartig verlassen hatte. Welche Möglichkeit blieb mir also noch? Ich drehte mich im Kreis, ging die Wege im Kopf durch, aber keiner schien sicher zu sein. Dann kam mir der rettende Einfall. Direkt neben dem Klassenraum von Sophie stand ein Baum, den man problemlos vom Fenster aus erreichen konnte. Ich müsste nur aus dem Fenster steigen, an dem Gebäude entlang gehen und dann irgendwie versuchen, den Baum hinauf zu klettern. Aber vielleicht war Sophie auch schon nicht mehr da, vielleicht war sie zusammen mit den anderen durch den Korridor geflohen. Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Sie war intelligent genug, um nicht in Panik zu verfallen. Dennoch könnte sie schon weg sein.
Ich beschloss, das Risiko einzugehen. Mit dem letzten Rest an Mut, den ich noch aufbringen konnte, nahm ich das Stemmeisen und brach das Fenster auf. Als ich auf dem schmalen Rasenstück stand, dass noch zwischen der Hauswand und dem Wald angelegt war, gab es kein zurück mehr. Ich sah in jede Richtung, dann setzte ich mich in Bewegung. Mit gesenktem Kopf schlich ich an der Mauer entlang und erreichte den Baum. Der erste Ast, den ich erreichen konnte, war oberhalb meines Kopfes. Und nach einigem probieren und mithilfe der Mauer konnte ich einen Fuß auf den Ast setzen. Danach war es ein Leichtes hinauf zu klettern.
Vorsichtig und auf alles vorbereitet lugte ich durch das Fenster, den Kopf gesenkt. Als ich Sophie und ihre Mitschüler sah, beruhigte sich mein Pulsschlag abrupt. Nun hob ich den Kopf und klopfte an die Scheibe. Die Schüler, die sich ängstlich neben die Tür gekauert hatten, fuhren herum und starrten mich an. Wäre es nicht so bitter gewesen, wäre das eine furchtbar lustige Situation gewesen. Ich winkte ihnen nur zu, mehr nicht. Sophie erkannte mich und erhob sich, um das Fenster zu öffnen. Aber ein junger Mann hielt sie zurück. Sie wechselten ein paar Worte miteinander, bis Sophie sich durchsetzte. Sie öffnete das Fenster und ich sprang herein. Jeder der Schüler beäugte mich misstrauisch.
„Sind Sie es, Herr Radke?“ fragte eine leise Stimme hinter dem Lehrerpult.
Ich kannte die Stimme, es war die von Herrn Decker, Lehrer für Mathematik und noch nicht sehr lange bei der Schule angestellt. Er war ein ruhiger, wenngleich ambitionierter Lehrer, der nicht viel von alten Konventionen hielt. Eigentlich dachte ich immer, dass er ein äußerst mutiger Mensch war.
„Ja.“
„Wo ist Herr Carstens?“
„Ich weiß es nicht.“
Nun kroch der blasse Mann hinter dem dunklen Pult hervor.
„Was passiert hier?“ fragte Herr Decker leise. „Der blanke Wahnsinn ist ausgebrochen. Menschen fallen übereinander her, verletzen sich gegenseitig. Was ist nur geschehen.“
„Beruhigen Sie sich, Herr Decker.“ sagte Sophie mit einem leicht düsteren, abfälligen Ton in ihrer Stimme.
Herr Decker begann nun seine dünne Stimme gegen Sophie zu schmettern, sie zur Ordnung zu rufen und irgendwie gelang es im in dem Gewirr von Worten noch einige Beleidigungen hervorzustoßen.
Wortlos sank Sophie auf einen Stuhl, erschüttert von den derben Worten ihres Lehrers, einer Respektsperson.
Ich befand mich in einer misslichen Lage. Voller Vorfreude hatte ich gehofft, dass Sophie glücklich wäre mich zu sehen, aber ich befand mich in einem kopflosen durcheinander. Sophies Mitschüler hockten ängstlich in den Ecken und auf den Stühlen, Herr Decker war kaum noch ansprechbar und Sophie sah betreten zu Boden. Ich musste etwas unternehmen, denn ich glaubte nicht, dass wir es lange in dem Raum aushalten würden.
Langsam schob ich die Hände in die Hosentaschen und sagte: „Wir sollten…“ Etwas klatschte gegen die Tür und ein lauter Schrei dröhnte mir entgegen. Ich verlor den Satz und hockte mich stumm auf den Boden. Es war keine Zeit für Helden, nur eine Zeit für Tote. Erneut heulten Schreie durch den Korridor, nur wenige Meter von uns entfernt starben Menschen und wir konnten nichts dagegen tun.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Sophie leise.
„Wir sollten hier bleiben.“ erwiderte ich. „In diesem Raum sind wir sicher und bestimmt können wir es ein paar Stunden lang hier aushalten.“
Ich blickte die Schüler an, einen nach dem anderen. Sie waren verängstigt, keinesfalls auf eine derartige oder ähnliche Situation vorbereitet. Direkt neben mir, auf einem Stuhl saß ein junger Mann mit einer dicken Brille auf der Nase. Er klammerte sich an den Tisch und drückte die Knie aneinander. Sein Name war Alexander Schäfer, er war ein Freund von Sophie. Plötzlich erwiderte er meinen Blick, aber nur für einen kurzen Moment, dann sah er mit halb geschlossenen Augen auf die Tischplatte. Erst jetzt realisierte ich, dass er vor Angst seine Hose nass gemacht hatte. Ich wand meinen Blick nun ebenfalls ab und starrte auf den Boden. Es schien nicht so auszusehen, als würden diese achtzehnjährigen Schüler, die die besten Ambitionen hatten, um es in der Welt weit zu bringen, so etwas verkraften könnten. Ich verkraftete es ja selbst kaum und dabei hatte ich schon einiges erlebt. Aber mir wurde bewusst, dass irgendwann handeln müsste, um für unser Überleben zu sorgen.
 
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