Kapitel 1: Wer bist du?
Ein Blick auf die Nachrichten des Tages. Willkürlich schaltete ich durch die Kanäle, ließ mich von den neuesten Entwicklungen in China, der Hungersnot in Spanien und dem anhaltenden Bürgerkrieg in Russland unterrichten. Es gab kaum Veränderungen zum Vortag, das erfüllte mich mit Sorgen und dunklen Vorahnungen. Das konnte nicht ewig so weiter gehen ohne, dass es bald einen großen Knall gäbe, wenn nicht sogar den größten von allen. Mit dieser Vermutung im Kopf zwang ich mir ein paar Bissen von dem synthetischen Fraß herunter.
Mit einem leichten Geschmack von Pappe und den Gedanken an einen Weltkrieg setzte ich mich vor den Computer. Das veraltete Exemplar konnte kaum noch die Leistung liefern, die ich von ihm verlangte, aber dafür, dass er ein illegales Modell war, lief er recht gut. Er war einer von diesen viel gescholtenen und von jeder Regierung gefürchteten Modellen, die einen extern vom offiziellen Netz laufenden Netzzugang erreichen konnten. Allein für den Besitz konnte ich für zehn Jahre weggesperrt werden. Aber er bot mir etwas, weshalb ich dieses Risiko einging, er bot mir freien Zugang auf das längst zurückliegende und aus Angst verschlossene Wissen der Zeit vor 2045. Von ihm lernte ich wie ein wissbegieriger Schüler und sog alle Worte in mich auf. Agitator, Märtyrer und Revolutionär, waren Worte, die ich aus den Untiefen des verbotenen Netzes gezogen hatte. Ich wusste auch, wozu der Mensch schon in Frühzeiten fähig gewesen war. Sogar die alten und vergessenen Satelliten, die noch um die Erde schwebten, konnte ich nutzen, um mich auf der Welt umzusehen. Keine Lüge blieb unentdeckt von mir, keine Bewegung der Armeen entging meinen Blicken, nichts konnte sich vor meinen allwissenden Augen verbergen.
Wenige teilten mein Wissen, auch sie hatten sich in das verbotene Gebiet vorgewagt, und einige, wenn nicht sogar alle außer mir, waren entdeckt worden. Das Netz leerte sich von Jahr zu Jahr, die Fragen an andere blieben unbeantwortet. Sie waren alle gefasst worden und saßen nun in irgendeiner Besserungsanstalt, die Computer wurden alle zerstört. Das war der Preis, den sie gezahlt hatten. Und auch ich hatte bezahlt. Ich mied die Öffentlichkeit, verschanzte mich in meiner Kellerwohnung mit meinem illegalen Computer und den querdenkerischen Büchern. Und mein Leben wurde das eines Eremiten, der voller Argwohn auf die Welt hinabblickte. Ich war noch da und wollte bis zum Ende an dem Traum eines freien Netzes festhalten. Jeder durfte sich mir anschließen, jeder durfte mich verurteilen.
Der Computer hatte gerade das wüste Netz erreicht. Ich überprüfte sofort, ob irgendwo jemand unterwegs war. Vielleicht in den primitiven und unzensierten Chatrooms? Nein. Aber vielleicht war auch jemand in der Bibliothek, die ich eingerichtet hatte, um jegliches Wissen vor der Zeit von 2045 einzufangen? Wieder nichts. Ich irrte wieder mal ganz allein in den Weiten herum. Ein flüchtiger Schmerz erfüllte mich, als ich immer noch versuchte mit meinen Worten jemanden in den leeren Räumen des Chats zu erreichen. Es war ein verzweifeltes Schreiben von Hallo und Jemand da. Irgendwann machte ich mich wieder daran, Wissen aus dem wüsten Netz zu filtern und für meine Bibliothek aufzubereiten. Nebenbei ließ ich in einem kleinen Fenster noch den Hauptchatroom laufen. Wenn sich jemand meldete, wollte ich umgehend davon wissen. Stunden vergingen. Unermüdlich vergrößerte ich meine Bibliothek. Ich fand Informationen über den Dalai Lama, den deutschen Kaiser Wilhelm den Ersten und auch neueres Material über den englischen Revolutionsführer William Hogg. Nichts konnte mich in meinem Streben aufhalten, nicht einmal die aufkommende Müdigkeit, die mich allmählich befiel. Es ging gegen ein Uhr morgens und ich versuchte mich mit mehreren Riegeln synthetischen Kaffees und anderen verbotenen Wachmachern wach zu halten. Nachdem ich einige Links geöffnet hatte, fand ich in den hintersten Winkeln des Netzes Musik von Wolfgang A. Mozart. Ich lud sie sofort in die Bibliothek unter dem erst vor kurzem eingerichteten Verzeichnis Musik. Es hatte lange gedauert bis ich die ersten Musikstücke gefunden hatte, doch sie faszinierten mich sogleich, völlig anders als die heutige Musik aus der Konserve - wie sie von vielen genannt wurde. Die Musik aus dem verbotenen Netz erzählte Geschichten und weckte Gefühle, die ich vorher nur von den verbotenen Filmen kannte, die ich ebenfalls im Netz gefunden hatte.
Ich schloss die Kopfhörer an den Computer an und hörte mir die Musik aus der Bibliothek an. Mit einem wohligen Gefühl, das fast an Zufriedenheit grenzte und die Schwelle zur Glücklichkeit schon bei weitem überschritten hatte, lehnte ich mich zurück. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Arm, als ich der Musik von Mozart und Armstrong lauschte. Ich schluckte noch eine Pille und fühlte mich hellwach, wie neu geboren. Dann schloss ich meine Augen. Doch plötzlich erregte ein Piepen, das sich unter die harmonische Musik mischte, meine Aufmerksamkeit. Ich öffnete meine Augen und sah voller Erregung, dass jemand eine Nachricht abgeschickt hatte. Sofort vergrößerte ich das Fenster des Chatrooms und las die Botschaft. „Ich sehe dich, mein Famulus.“ Es klang so prophetisch und doch so sanft, befreiend und doch mit einer lähmenden Angst verbunden. Ich ließ meine Finger über die Tastatur gleiten.
„Wer bist du?“ schrieb ich.
Die Erwiderung kam nach wenigen Sekunden.
„Du hast nach mir gesucht und es doch nicht wissentlich getan, du kennst mich und weißt dennoch nicht wer ich bin. Nenne mich den Anfang vom Ende oder das Ende vom Anfang, das überlasse ich dir und deinen Vorstellungen von der Welt.“
Ich wollte noch mal fragen, zuckte aber von der Tastatur zurück. Was hatte das zu bedeuten? Mit wem war ich in Verbindung getreten? Ich wollte es unbedingt herausfinden, doch die Frage Wer bist du? klang so plump im Gegensatz zu seinen Antworten. Aber wenn ich nichts schrieb, bestand die Möglichkeit, dass ich ihn Verlor.
„Ich habe eine Bibliothek eingerichtet in der du dich über alles informieren kannst. Du kannst mir auch Beiträge schicken, die ich dann dort unterbringe.“
Der Hinweis auf die Bibliothek war besser als eine weitere simple Frage. Immerhin konnte ich ihn so davon überzeugen, dass ich mich nicht nur zum Spaß hierhin verirrt hatte.
Wieder kam die Antwort schon nach wenigen Sekunden.
„Das weiß ich. Ich weiß auch, dass du der Einzige bist, der die Chance Wissen zu empfangen wirklich wahrnimmt. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, zu dir zu sprechen und dir den Anfang oder das Ende zu prophezeien. Die Wahl liegt nun bei dir, Connor Banks.“
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Entscheide dich für den Anfang oder das Ende.“
Ich nahm den Kopfhörer ab. Mein Gesprächspartner schien mehr zu wissen, als ich zu Anfang gedacht hatte, vielleicht wusste er sogar alles, was mir verwehrt geblieben war. Ein Hellseher des neuen Zeitalters und Herrscher über das verschlossene Netz. Und ich Narr hatte behauptet, ich würde viel über diesen seltsamen Ort wissen. Doch ich hatte meinen Meister gefunden und war bereit seinen Ratschlägen zu horchen und von ihm zu lernen. Er war Jesus, auch wenn das nur noch metaphorisch gemeint war.
„Ich wähle das Ende. Diese Welt muss endlich ihren Frieden finden.“ schrieb ich, nachdem ich noch ein paar Minuten mit der Antwort gehadert hatte.
„Dann werde ich dir jetzt eine Geschichte erzählen. Vor dem Beginn der neuen Zeitrechnung gab es einen Mann, der in der Welt nur als Maciej Wachowiak bekannt war. Er schuf aus dem veralteten Internet und den mittelmäßigen Computern eine Welt, die den Benutzer in sich hineinzog und ihn mit den buntesten Farben und wunderschönsten Klängen betörte. Er führte es vor und begeisterte jeden Menschen damit. Daraufhin wurde es Humanonet genannt. Die alten Leitungen waren nun das einzige, was das Humanonet noch von seinem großen Erfolg abhielt. Die herrschenden Mächte wussten, dass die alten Kommunikationsstrecken beseitigt werden mussten, um den gemeinen Menschen vollends zu kontrollieren und zu leiten. Es fand ein großer Umbau statt, um das seit zwanzig Jahren bestehende Netz zu vernichten. Doch viele Leitungen blieben auf ewig unentdeckt. Und mit ihnen das Wissen der alten Zeiten und einiger wichtiger Programme. Soll ich weiter erzählen?“
Ich hatte jede Zeile der Geschichte, die sich innerhalb von kürzester Zeit vor mir ausgebreitet hatte, mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. Die Frage erschien mir so sinnlos wie ein Heizelement in der Wüste. Natürlich wollte ich das Ende der Geschichte lesen. Mir war nichts so wichtig wie das.
„Bitte erzähl weiter.“ schrieb ich.
Innerhalb einer Zehntelsekunde breitete sich ein weiterer Text vor meinen Augen aus.
„Ich wusste schon, dass du sehr wissbegierig bist, Connor. Also will ich weiter erzählen. Die Computer, die das Netz tragen konnten, wurden ebenfalls nicht alle vernichtet und durch das Humanonet ersetzt. Viele ältere Menschen, die noch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurden, weigerten sich gegen die Umstellung. Sie ließen den Geist des Allnet weiterleben und mit ihm das Wissen und vor allem die alten Programme, die sich ab diesem Zeitpunkt, wo sich kaum noch jemand um sie kümmerte selbstständig machten. Und irgendwann starb auch die ältere Generation. Die Kinder dieser Menschen verkauften die alten Elemente und bekamen dafür von Sammlern einen stattlichen Preis. Einige der alten Elemente landeten auch bei privaten Personen, die von dem Wissen, das in ihnen enthalten war, wussten. Nun, zum beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, existiert lediglich noch ein altes Element, das Zugriff auf das Allnet hat. Dein altes Element ist der letzte Zugang zu dem Allnet. Wie hat dir die Geschichte gefallen, mein Apostel?“
„Wie gelangst du ins Allnet, wenn ich den letzten Zugang habe?“
„Wie hat dir die Geschichte gefallen, mein Apostel?“ schrieb der andere erneut.
„Ich mag sie, aber sie wirft viele Fragen auf.“ tippte ich in das kleine Feld ein und schickte die Nachricht ab.
„Da hast du Recht, aber du kennst noch nicht meine Geschichte. Und ich will sie dir erzählen. Der Hauptentwickler des Allnets, das 2020 v.E. fertig gestellt wurde, verlor sich in seinen Weiten. Die Menge an Wissen und anderen Möglichkeiten, zog ihn in seinen Bann. Durch seine Einsamkeit in der realen Welt getrieben, suchte er Wege, um sich Freundschaft selbst zu erschaffen. Er entwarf Programme, die Eigenschaften eines weiblichen Menschen haben sollten, und hoffte dadurch seine große Liebe zu finden. Ewige Fehlschläge ließen ihn mit zunehmendem Alter verrückt werden. Nachdem sein hundertstes Programm ein völliger Fehlschlag war, nahm er sich das Leben. Als sich jedes Programm im Allnet verselbstständigte, verbanden sich diese hundert Programme zu einem und entwickelten sich zu dem allwissenden und allsehenden Wesen des Allnet. Seither streift dieses Programm durch das Netz, ständig beobachtend, auf der Suche nach einem Menschen, der wie Donald ist. Und das Programm fand diesen Menschen.“
Ein Luftstoß kam aus meinem Mund. Ich atmete durch, lehnte mich zurück auf dem quietschenden Stuhl. Ich war mit einem Programm in Kontakt getreten, das seit Beginn des Netzes dort war. Es kannte die Zeit vor der Zeit und beherrschte das Netz. Und ich war sein auserwählter Schüler, sein Lehrling. Es wollte mit meiner Hilfe die Welt verändern und sie lebenswert machen.
„Erzähl mir mehr von deiner Zeit.“ schrieb ich voller Spannung.
„Das werde ich tun.“ kam sogleich die Antwort. „Aber vorher musst du noch etwas für mich tun. Ich bitte dich darum, das Programm aus seinem Gefängnis zu befreien. Danach werden du und das Programm eine Revolution beginnen, die die Welt aus ihrer Passivität hinausführen wird. Wenn das geschafft ist, werde ich dir von meiner Zeit berichten und dir helfen.“
„Wie soll ich dich befreien?“
„Dieses Rätsel wirst du leider alleine lösen müssen. Aber das Programm wird in der Nähe bleiben und darauf warten, dass du eine Lösung findest.“
Der Gast war plötzlich aus dem Chatroom verschwunden. Ich nickte, als wäre mir bewusst, was ich tat. Doch ich wusste nichts, weder wusste ich genau, mit wem oder was ich es zu tun hatte, noch wusste ich, wie ich es befreien sollte. Natürlich gab es Möglichkeiten, um Wesensprogramme aus dem Netz in künstliche Körper zu übertragen, aber ich wusste nicht, ob dieses Programm dafür geeignet war und es nicht Schaden nehmen würde, wenn ich es in einen Körper laden würde. Das alles stellte mich vor viele entscheidende Fragen. Doch mir war bewusst, dass das nur die erste Stufe sein würde.
Ich nahm die Kopfhörer und geriet mitten in ein Stück von Beethoven. Das entspannte mich für einen Moment. Ich schluckte mit geschlossenen Augen eine Pille und versuchte weiterhin wach zu bleiben.
Mit einem leichten Geschmack von Pappe und den Gedanken an einen Weltkrieg setzte ich mich vor den Computer. Das veraltete Exemplar konnte kaum noch die Leistung liefern, die ich von ihm verlangte, aber dafür, dass er ein illegales Modell war, lief er recht gut. Er war einer von diesen viel gescholtenen und von jeder Regierung gefürchteten Modellen, die einen extern vom offiziellen Netz laufenden Netzzugang erreichen konnten. Allein für den Besitz konnte ich für zehn Jahre weggesperrt werden. Aber er bot mir etwas, weshalb ich dieses Risiko einging, er bot mir freien Zugang auf das längst zurückliegende und aus Angst verschlossene Wissen der Zeit vor 2045. Von ihm lernte ich wie ein wissbegieriger Schüler und sog alle Worte in mich auf. Agitator, Märtyrer und Revolutionär, waren Worte, die ich aus den Untiefen des verbotenen Netzes gezogen hatte. Ich wusste auch, wozu der Mensch schon in Frühzeiten fähig gewesen war. Sogar die alten und vergessenen Satelliten, die noch um die Erde schwebten, konnte ich nutzen, um mich auf der Welt umzusehen. Keine Lüge blieb unentdeckt von mir, keine Bewegung der Armeen entging meinen Blicken, nichts konnte sich vor meinen allwissenden Augen verbergen.
Wenige teilten mein Wissen, auch sie hatten sich in das verbotene Gebiet vorgewagt, und einige, wenn nicht sogar alle außer mir, waren entdeckt worden. Das Netz leerte sich von Jahr zu Jahr, die Fragen an andere blieben unbeantwortet. Sie waren alle gefasst worden und saßen nun in irgendeiner Besserungsanstalt, die Computer wurden alle zerstört. Das war der Preis, den sie gezahlt hatten. Und auch ich hatte bezahlt. Ich mied die Öffentlichkeit, verschanzte mich in meiner Kellerwohnung mit meinem illegalen Computer und den querdenkerischen Büchern. Und mein Leben wurde das eines Eremiten, der voller Argwohn auf die Welt hinabblickte. Ich war noch da und wollte bis zum Ende an dem Traum eines freien Netzes festhalten. Jeder durfte sich mir anschließen, jeder durfte mich verurteilen.
Der Computer hatte gerade das wüste Netz erreicht. Ich überprüfte sofort, ob irgendwo jemand unterwegs war. Vielleicht in den primitiven und unzensierten Chatrooms? Nein. Aber vielleicht war auch jemand in der Bibliothek, die ich eingerichtet hatte, um jegliches Wissen vor der Zeit von 2045 einzufangen? Wieder nichts. Ich irrte wieder mal ganz allein in den Weiten herum. Ein flüchtiger Schmerz erfüllte mich, als ich immer noch versuchte mit meinen Worten jemanden in den leeren Räumen des Chats zu erreichen. Es war ein verzweifeltes Schreiben von Hallo und Jemand da. Irgendwann machte ich mich wieder daran, Wissen aus dem wüsten Netz zu filtern und für meine Bibliothek aufzubereiten. Nebenbei ließ ich in einem kleinen Fenster noch den Hauptchatroom laufen. Wenn sich jemand meldete, wollte ich umgehend davon wissen. Stunden vergingen. Unermüdlich vergrößerte ich meine Bibliothek. Ich fand Informationen über den Dalai Lama, den deutschen Kaiser Wilhelm den Ersten und auch neueres Material über den englischen Revolutionsführer William Hogg. Nichts konnte mich in meinem Streben aufhalten, nicht einmal die aufkommende Müdigkeit, die mich allmählich befiel. Es ging gegen ein Uhr morgens und ich versuchte mich mit mehreren Riegeln synthetischen Kaffees und anderen verbotenen Wachmachern wach zu halten. Nachdem ich einige Links geöffnet hatte, fand ich in den hintersten Winkeln des Netzes Musik von Wolfgang A. Mozart. Ich lud sie sofort in die Bibliothek unter dem erst vor kurzem eingerichteten Verzeichnis Musik. Es hatte lange gedauert bis ich die ersten Musikstücke gefunden hatte, doch sie faszinierten mich sogleich, völlig anders als die heutige Musik aus der Konserve - wie sie von vielen genannt wurde. Die Musik aus dem verbotenen Netz erzählte Geschichten und weckte Gefühle, die ich vorher nur von den verbotenen Filmen kannte, die ich ebenfalls im Netz gefunden hatte.
Ich schloss die Kopfhörer an den Computer an und hörte mir die Musik aus der Bibliothek an. Mit einem wohligen Gefühl, das fast an Zufriedenheit grenzte und die Schwelle zur Glücklichkeit schon bei weitem überschritten hatte, lehnte ich mich zurück. Eine Gänsehaut bildete sich auf meinem Arm, als ich der Musik von Mozart und Armstrong lauschte. Ich schluckte noch eine Pille und fühlte mich hellwach, wie neu geboren. Dann schloss ich meine Augen. Doch plötzlich erregte ein Piepen, das sich unter die harmonische Musik mischte, meine Aufmerksamkeit. Ich öffnete meine Augen und sah voller Erregung, dass jemand eine Nachricht abgeschickt hatte. Sofort vergrößerte ich das Fenster des Chatrooms und las die Botschaft. „Ich sehe dich, mein Famulus.“ Es klang so prophetisch und doch so sanft, befreiend und doch mit einer lähmenden Angst verbunden. Ich ließ meine Finger über die Tastatur gleiten.
„Wer bist du?“ schrieb ich.
Die Erwiderung kam nach wenigen Sekunden.
„Du hast nach mir gesucht und es doch nicht wissentlich getan, du kennst mich und weißt dennoch nicht wer ich bin. Nenne mich den Anfang vom Ende oder das Ende vom Anfang, das überlasse ich dir und deinen Vorstellungen von der Welt.“
Ich wollte noch mal fragen, zuckte aber von der Tastatur zurück. Was hatte das zu bedeuten? Mit wem war ich in Verbindung getreten? Ich wollte es unbedingt herausfinden, doch die Frage Wer bist du? klang so plump im Gegensatz zu seinen Antworten. Aber wenn ich nichts schrieb, bestand die Möglichkeit, dass ich ihn Verlor.
„Ich habe eine Bibliothek eingerichtet in der du dich über alles informieren kannst. Du kannst mir auch Beiträge schicken, die ich dann dort unterbringe.“
Der Hinweis auf die Bibliothek war besser als eine weitere simple Frage. Immerhin konnte ich ihn so davon überzeugen, dass ich mich nicht nur zum Spaß hierhin verirrt hatte.
Wieder kam die Antwort schon nach wenigen Sekunden.
„Das weiß ich. Ich weiß auch, dass du der Einzige bist, der die Chance Wissen zu empfangen wirklich wahrnimmt. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, zu dir zu sprechen und dir den Anfang oder das Ende zu prophezeien. Die Wahl liegt nun bei dir, Connor Banks.“
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Entscheide dich für den Anfang oder das Ende.“
Ich nahm den Kopfhörer ab. Mein Gesprächspartner schien mehr zu wissen, als ich zu Anfang gedacht hatte, vielleicht wusste er sogar alles, was mir verwehrt geblieben war. Ein Hellseher des neuen Zeitalters und Herrscher über das verschlossene Netz. Und ich Narr hatte behauptet, ich würde viel über diesen seltsamen Ort wissen. Doch ich hatte meinen Meister gefunden und war bereit seinen Ratschlägen zu horchen und von ihm zu lernen. Er war Jesus, auch wenn das nur noch metaphorisch gemeint war.
„Ich wähle das Ende. Diese Welt muss endlich ihren Frieden finden.“ schrieb ich, nachdem ich noch ein paar Minuten mit der Antwort gehadert hatte.
„Dann werde ich dir jetzt eine Geschichte erzählen. Vor dem Beginn der neuen Zeitrechnung gab es einen Mann, der in der Welt nur als Maciej Wachowiak bekannt war. Er schuf aus dem veralteten Internet und den mittelmäßigen Computern eine Welt, die den Benutzer in sich hineinzog und ihn mit den buntesten Farben und wunderschönsten Klängen betörte. Er führte es vor und begeisterte jeden Menschen damit. Daraufhin wurde es Humanonet genannt. Die alten Leitungen waren nun das einzige, was das Humanonet noch von seinem großen Erfolg abhielt. Die herrschenden Mächte wussten, dass die alten Kommunikationsstrecken beseitigt werden mussten, um den gemeinen Menschen vollends zu kontrollieren und zu leiten. Es fand ein großer Umbau statt, um das seit zwanzig Jahren bestehende Netz zu vernichten. Doch viele Leitungen blieben auf ewig unentdeckt. Und mit ihnen das Wissen der alten Zeiten und einiger wichtiger Programme. Soll ich weiter erzählen?“
Ich hatte jede Zeile der Geschichte, die sich innerhalb von kürzester Zeit vor mir ausgebreitet hatte, mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt. Die Frage erschien mir so sinnlos wie ein Heizelement in der Wüste. Natürlich wollte ich das Ende der Geschichte lesen. Mir war nichts so wichtig wie das.
„Bitte erzähl weiter.“ schrieb ich.
Innerhalb einer Zehntelsekunde breitete sich ein weiterer Text vor meinen Augen aus.
„Ich wusste schon, dass du sehr wissbegierig bist, Connor. Also will ich weiter erzählen. Die Computer, die das Netz tragen konnten, wurden ebenfalls nicht alle vernichtet und durch das Humanonet ersetzt. Viele ältere Menschen, die noch Ende des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurden, weigerten sich gegen die Umstellung. Sie ließen den Geist des Allnet weiterleben und mit ihm das Wissen und vor allem die alten Programme, die sich ab diesem Zeitpunkt, wo sich kaum noch jemand um sie kümmerte selbstständig machten. Und irgendwann starb auch die ältere Generation. Die Kinder dieser Menschen verkauften die alten Elemente und bekamen dafür von Sammlern einen stattlichen Preis. Einige der alten Elemente landeten auch bei privaten Personen, die von dem Wissen, das in ihnen enthalten war, wussten. Nun, zum beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, existiert lediglich noch ein altes Element, das Zugriff auf das Allnet hat. Dein altes Element ist der letzte Zugang zu dem Allnet. Wie hat dir die Geschichte gefallen, mein Apostel?“
„Wie gelangst du ins Allnet, wenn ich den letzten Zugang habe?“
„Wie hat dir die Geschichte gefallen, mein Apostel?“ schrieb der andere erneut.
„Ich mag sie, aber sie wirft viele Fragen auf.“ tippte ich in das kleine Feld ein und schickte die Nachricht ab.
„Da hast du Recht, aber du kennst noch nicht meine Geschichte. Und ich will sie dir erzählen. Der Hauptentwickler des Allnets, das 2020 v.E. fertig gestellt wurde, verlor sich in seinen Weiten. Die Menge an Wissen und anderen Möglichkeiten, zog ihn in seinen Bann. Durch seine Einsamkeit in der realen Welt getrieben, suchte er Wege, um sich Freundschaft selbst zu erschaffen. Er entwarf Programme, die Eigenschaften eines weiblichen Menschen haben sollten, und hoffte dadurch seine große Liebe zu finden. Ewige Fehlschläge ließen ihn mit zunehmendem Alter verrückt werden. Nachdem sein hundertstes Programm ein völliger Fehlschlag war, nahm er sich das Leben. Als sich jedes Programm im Allnet verselbstständigte, verbanden sich diese hundert Programme zu einem und entwickelten sich zu dem allwissenden und allsehenden Wesen des Allnet. Seither streift dieses Programm durch das Netz, ständig beobachtend, auf der Suche nach einem Menschen, der wie Donald ist. Und das Programm fand diesen Menschen.“
Ein Luftstoß kam aus meinem Mund. Ich atmete durch, lehnte mich zurück auf dem quietschenden Stuhl. Ich war mit einem Programm in Kontakt getreten, das seit Beginn des Netzes dort war. Es kannte die Zeit vor der Zeit und beherrschte das Netz. Und ich war sein auserwählter Schüler, sein Lehrling. Es wollte mit meiner Hilfe die Welt verändern und sie lebenswert machen.
„Erzähl mir mehr von deiner Zeit.“ schrieb ich voller Spannung.
„Das werde ich tun.“ kam sogleich die Antwort. „Aber vorher musst du noch etwas für mich tun. Ich bitte dich darum, das Programm aus seinem Gefängnis zu befreien. Danach werden du und das Programm eine Revolution beginnen, die die Welt aus ihrer Passivität hinausführen wird. Wenn das geschafft ist, werde ich dir von meiner Zeit berichten und dir helfen.“
„Wie soll ich dich befreien?“
„Dieses Rätsel wirst du leider alleine lösen müssen. Aber das Programm wird in der Nähe bleiben und darauf warten, dass du eine Lösung findest.“
Der Gast war plötzlich aus dem Chatroom verschwunden. Ich nickte, als wäre mir bewusst, was ich tat. Doch ich wusste nichts, weder wusste ich genau, mit wem oder was ich es zu tun hatte, noch wusste ich, wie ich es befreien sollte. Natürlich gab es Möglichkeiten, um Wesensprogramme aus dem Netz in künstliche Körper zu übertragen, aber ich wusste nicht, ob dieses Programm dafür geeignet war und es nicht Schaden nehmen würde, wenn ich es in einen Körper laden würde. Das alles stellte mich vor viele entscheidende Fragen. Doch mir war bewusst, dass das nur die erste Stufe sein würde.
Ich nahm die Kopfhörer und geriet mitten in ein Stück von Beethoven. Das entspannte mich für einen Moment. Ich schluckte mit geschlossenen Augen eine Pille und versuchte weiterhin wach zu bleiben.