Taleweaver
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Wenn es eins an Neujahr gab, das Tsukune auf den Tod nicht ausstehen konnte, dann waren es die Yukatas.
Alle Feierlichkeiten zum Jahreswechsel â die Volksfeste, das gemeinsame Ausgehen mit der Familie, die Orakelbefragungen, das Tempelopfer, das Feuerwerk â gefielen der Schülerin an sich sehr gut. Sie war zwar ein modernes Mädchen, aber nicht so modern, daß ihr die Traditionen ihres Landes nicht gefallen hätten. Allerdings: Warum um alles in der Welt mußte man zu Neujahr alle Frauen in Yukatas stecken? Yukatas waren nicht viel mehr als etwas edlere Bademäntel, und wenn sie auch für ein durchschnittliche japanische Sechzehnjährige schön sittsame Kleidung darstellen mochten â mit einem D-Körbchen als Oberweite sah man in einem normalen Yukata nun mal wie das Titelmädchen in der Asien-Sonderausgabe des âPlayboyâ aus. Tsukune hatte in so einem Ding immer das Gefühl, nur noch aus Ausschnitt zu bestehen.
Immerhin: dieses Neujahr war sie ausnahmsweise einmal nicht mit ihrer Familie, sondern mit ihren Freunden unterwegs. Ihr Vater hatte sich pünktlich zum ersten Weihnachtsfeiertag eine Grippe eingefangen und lag daheim im Bett, und ihre Mutter hatte sich dazu entschieden, ihn gut zu versorgen. âDu gehst ja sicher aufs Matsuriâ, hatte sie zu Tsukune gesagt, âda kannst du auch für uns alle Segenswünsche in den Tempelbaum binden und für uns die Orakel abholen.â Von der Pflicht, einen Yukata zu tragen, war sie allerdings trotzdem nicht befreit.
Es war allerdings in der Gruppe zusammen mit Yakamo, Kaoru, Kumori, Sakura, Miko und den Eltern Koufun sehr viel erträglicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Schon die Tatsache, daß sie einen hochgewachsenen, kräftigen Freund an ihrer Seite hatte, verscheuchte eine Menge der lästigen Blicke von ihrer Oberweite. Und zusammen mit den eigenen Freunden war es auch gleich sehr viel unterhaltsamer, an den zahlreichen Ständen des Volksfestes anzustehen.
Das Feuerwerk hatte noch nicht angefangen, und die Freunde standen gerade am Fadenorakel an, als Tsukune plötzlich direkt gegenüber an der Süßigkeitenbude jemanden bemerkte, noch mal genauer hinsah und dann sachte Sakura anstupste. âPst!â
âHm?â Das blonde Mädchen blickte sich um.
âDa drübenâ, wisperte Tsukume. âDa bei den kandierten Früchten. Ist das nicht...â
Sakura blickte hinüber und verengte die Augen ein wenig. âSchwer zu sagenâ, murmelte sie, âzumindest von hinten. Aber das Haar kommt hin; das ist sehr unüblich für eine Japanerin. Und gefärbt scheint es mir nicht zu sein. Pst, Kumori!â
Der Junge sah zu ihr. âWas gibt's denn zu tuscheln?â Dann sah er in die Richtung, in die Sakura und Tsukune deuteten und erstarrte.
âHikari...â
Ohne lange nachzudenken, traf Sakura eine Entscheidung. âMama?â sprach sie ihre Mutter an und zupfte an ihrem Ärmel. âWir gehen noch mal eine halbe Stunde rum und suchen uns eine schöne Stelle fürs Feuerwerk nachher. Können wir uns nachher vorne am Tempelbaum treffen?â
Frau Koufun nickte. âGeht in Ordnung, Sakuraâ, stimmte sie zu. âAber bleibt zusammen. Nicht, daß ihr hinterher eine zu wenig seid, ja?â
âHöchstens eine zu vielâ, rief das Mädchen zurück, während sie sich schon entfernte. Aber bis ihre Mutter angefangen hatte, sich zu wundern, war sie schon zusammen mit ihren Freunden unter den Festbesuchern verschwunden.
âWie machen wir das?â murmelte Kumori Tsukune zu, während die jungen Leute sich langsam ihrem Ziel näherten. âWenn wir so einfach auf sie zulaufen und sie uns sieht, verdrückt sie sich. Und bei den vielen Leuten hier ist sie ruckzuck untergetaucht.â
âWir umzingeln den Standâ, entschied Tsukune. âDann warten wir, bis sie dort fertig ist, und wenn sie rauskommt, nehmen wir sie in die Mitte. Und dann schauen wir, daß wir mit ihr zum Brunnen rüberkommen, raus aus der Menschenmenge. Dann sehen wir weiter.â
Eilig nahmen die Freunde ihre Positionen um den Süßigkeitenstand ein, und tatsächlich dauerte es dann keine Minute mehr, bis Hikari an der Reihe war. Sie bekam eine Papiertüte in die Hände gedrückt â doch anstelle sich umzuwenden und wieder in Richtung Mitte des Festes zu gehen, zwängte sie sich hinten am Stand heraus und zwischen zwei der Buden hindurch in Richtung des kleinen Parks in der Nähe.
Yakamos unterdrückter Fluch war das Startzeichen für die jungen Leute, nun doch Hikari direkt zu folgen. Kaoru machte es am besten, duckte sich rasch zwischen ein paar vorbeigehenden Passanten hindurch und schlupfte dann geschickt zwischen zwei Festständen hindurch. Tsukune hielt sich dicht hinter Yakamo, der sich wie ein Eisbrecher durch die Menschenmassen schon, während Sakura, Miko und Kumori sich am schwersten taten und etwas zurückfielen.
Als die Freunde endlich aus dem Trubel heraus waren, sahen sie zu ihrer Erleichterung, daß Kaoru Hikari bereits erreicht hatte â er mußte sie etwas abseits des Pfades überholt haben, denn er stand vor ihr und blockierte ihr so den Weg. Das blonde Mädchen blickte sich kurz um und sah von hinten den Rest der âGeneration XXXâ heranlaufen. Doch zur allseitigen Überraschung lächelte sie nur mitleidig.
âGib aufâ, sagte Kumori leise. âWir tun dir nichts. Wir wollen nur wissen, wo Hitomi steckt, und dann bringe ich dich nach Hause zurück.â
âAbgelehntâ, entgegnete seine Schwester. âWeder komme ich mit dir mit, noch werde ich auch nur ein Wort über Azakusas Pläne verraten. Und ihr habt keine Möglichkeit, mich zu etwas anderem zu zwingen.â
Yakamos Blick verfinsterte sich. âGlaubst du nichtâ, grollte er, âdaß ich in der Lage bin, dich zum Reden zu bringen?â
Mit dem selben mitleidigen Blick sah Hikari zurück. âGlaubst du nichtâ, antwortete sie, âdaß das hier ein sehr schlechter Ort ist, um mir zu drohen? Ein einziger Schrei von mir, und die Polizisten da vorne kommen mir zu Hilfe. Die sind doch sicher immer noch auf der Suche nach den bösen Leuten, die zu Otsukimi schon ein anderes Schulmädchen entführt haben?â
âDann haben wir ein Pattâ, stellte Tsukune fest. âWir können dir hier nichts tun, und du kommst hier nicht weg.â
âIrrtum.â Das blonde Mädchen verschränkte siegessicher die Arme. âIch kann auch einfach mal so losschreien und behaupten, ihr hättet mich belästigt. Jugendbanden werden denen bestimmt nicht gefallen.
Von hinten räusperte sich sachte Kaoru, der dicht hinter sie getreten war. âEs gibt da noch eine Möglichkeitâ, sagte er, âan die du nicht gedacht hast.â
Hikari wandte sich um. âUnd die wäre?â
âDu läufst mir friedlich hinterher, bis wir an einem ruhigeren Platz sind, und dann reden wir noch mal über alles.
âUnd warum sollte ich...â begann das Mädchen den Satz.
Dann stiegen ihr die Pheromone in die Nase, die Kaoru produziert hatte.
Mit einem kleinen Ächzen wurden Hikaris Augen glasig und sie streckte eine Hand nach dem Jungen vor ihr aus. Der wich etwas zurück. Das Mädchen trat einen Schritt vor, und wieder ging das Objekt ihrer Begierde etwas aus dem Weg, um sich diesmal richtig in Bewegung zu setzen und in langsamem, aber stetigem Schritt ins Innere des nahen Parks zu marschieren. Hikari folgte ihm wie eine Traumtänzerin, gebannt von dem unbändigen Verlangen in ihr, sich mit diesem Adonis da vorne zu paaren, nach Möglichkeit sofort.
Die anderen folgten den beiden, Miko, Sakura und Tsukune dabei in sicherem Abstand, um nicht versehentlich selbst in den âSogâ von Kaorus Körpergeruch zu kommen, und gemeinsam ging es tiefer in den Park hinein. Zentrum der kleinen Grünanlage war ein Pavillon, der in den Sommermonaten von zahlreichen Blumen umrankt war, aber jetzt im Winter kalt und dunkel wirkte. Kaum jemand kam zu dieser Jahreszeit hierher, und schon gar nicht, wenn nur ein paar Minuten nebenan ein großes Volksfest war.
Yakamo ergriff die Gelegenheit, als Hikari dem verlockenden Duft in den Pavillon gefolgt war und legte ihr eine seiner großen Hände auf den Mund. Mit dem anderen Arm umfaßte er fest ihren Oberkörper und hielt sie so fest. Kaoru trat eilig einige Meter von ihr weg, und als die Pheromone verflogen waren und das Mädchen wieder zu Sinnen kam, waren die anderen nachgekommen. Hikaris Strampeln und ersticktes Kreischen war hoffnungslos.
âYakamo wird jetzt seine Hand von deinem Mund nehmenâ, zischte ihr Tsukune wütend zu, âund du wirst uns ein paar Fragen beantworten.â
âGar nichts werde ich tunâ, stieß das blonde Mädchen hervor, kaum daß ihre Lippen frei waren. âIhr könnt mich zu nichts zwingen.â
Tief knurrte Yakamo hinter ihr. âIch wiederhole mich nicht gernâ, meinte er mit tiefer Stimme, âaber ich bin durchaus in der Lage, dich zu zwingen.â
Hikaris Reaktion darauf war ein wütendes Zerren in seinem Griff. âLaß mich losâ, verlangte sie, âdu wirst deine Drohungen sowieso nicht wahr machen. Kumori ist ein zu großes Weichei, als daß er das zulassen würde.â
âDas stimmtâ, meldete sich Kumori zu Wort. âIch würde nie zulassen, daß dir etwas Schlimmes passiert, Schwesterchen. Aber im Moment kann dir kaum etwas Schlimmeres passieren, als daß du weiter mit Azakusa zusammenbleibst und am Ende noch vielleicht den Tod von Hitomi mit auf dem Gewissen hast. Glaub mir, ich werde allem zustimmen, was das verhindert.â
âUnd wie willst du es unseren Eltern erklärenâ, spuckte ihm Hikari ins Gesicht, âwenn ich mit blauen Flecken übersät nach Hause komme? Vielleicht bricht mir der grobe Klotz da hinten ja auch ein paar Finger, um mich zum Reden zu bringen. Schon mal daran gedacht?â
Der dunkelhaarige Junge strich seine Zopf beiseite und trat nahe vor seine Schwester. âUnsere Eltern denken, du hättest dich einer Sekte angeschlossenâ, sagte er ruhig. âEine von denen, die sich von der Außenwelt völlig abschotten. Sicher, die brechen einander nicht die Knochen. Aber manchmal kommt es in diesen Sekten zu sehr üblen Vergewaltigungen... du hast davon sicher schon gehört.â
Er nickte den anderen zu, und während er einen Arm seiner Schwester fest ergriff, hielt Kaoru den anderen fest. Dann ließ Yakamo sie los, trat vor sie, öffnete den Gürtel seiner Hose und zeigte ihr, was daruntersteckte, wenn er sich ein bißchen Mühe gab.
Das war alle Motivation, die Hikari brauchte, um ihre Meinung recht eilig zu ändern.
âAzakusa führt ein Doppellebenâ, sprudelte es ungefragt aus ihr heraus, während sie mit deutlich blasserem Gesicht auf den immens anschwellenden Männerstab Yakamos starrte und sehr genau wußte, daß sie mit diesem Monstrum nichts zu tun haben wollte. âEr leitet als Arzt eine kleine Erste-Hilfe-Station der Wohlfahrt für Obdachlose, ehrenamtlich, aber sein Geld verdient er mit einem Nachtclub drüben am Hafen, dem 'Yamato'. Die Frauen, die da arbeiten, sind ihm allesamt total hörig â ich glaube, er gibt ihnen irgendwelche Drogen oder so was, aber auf jeden Fall tun sie wie Zombies alles, was er ihnen sagt. Meistens ist er vormittags da und holt die Gewinne ab...â
âDanach hat dich niemand gefragtâ, unterbrach sie Sakura unwirsch. âVor allem interessiert uns eins: WO STECKT HITOMI?â
Hikari schluckte. âUnten im Keller von dem Nachtclubâ, erklärte sie hastig. âAzakusa hat da unten eine Art Labor, und da hält er auch Hitomi fest.â
Zufrieden nickte Tsukune. âBesserâ, sagte sie. âUnd was ist mit dieser Mitsumi? Ist sie auch im Nachtclub?â
âNur wenn Azakusa auch da istâ, war die Antwort. âSie ist so was wie seine Leibwächterin, wenn er sie nicht auf Aufträge schickt. Aber das war bisher nur wegen euch, soweit ich mitbekommen habe.â
âAusgezeichnet.â Tsukune lächelte grimmig. âEndlich mal was in der Hand. Wir sollten noch heute Nacht losschlagen.â
Sakuras Gesicht wurde etwas ernster. âSo leicht geht das nicht, fürchte ichâ, sagte sie. âWir müssen uns nachher bei meinen Eltern wieder melden. Die werden was dagegenhaben, wenn ich über Nacht plötzlich weg bin. Außerdem wolltest du doch bei mir übernachten.â
Ihre Freundin überlegte. âNa gut, notfalls geht es auch ohne dichâ, meinte sie. âAber ihr anderen seid doch sicher dabei, oder?â
âIch weiß nichtâ, gab Yakamo zurück, âwie du dir das vorstellst, aber wenn Muto-san heute nacht schlafen geht und ich bin nicht da, dann komme ich bis morgen früh nicht mehr rein. Ich hab keinen eigenen Schlüssel!â
âUnd ichâ, sagte Kaoru, âkann auch nicht plötzlich meinen Eltern erklären, daß ich mir die Nacht woanders um die Ohren schlage. Die machen sich seit Hitomis Verschwinden sowieso Gedanken, ob ich nicht in schlechte Gesellschaft gerate.â
Tsukunes Augen wanderten weiter. âKumori...?â
Der Junge schüttelte den Kopf. âIch muß mich um Hikari kümmernâ, sagte er. âWenn ich es überhaupt alleine mit ihr nach Hause schaffe. Es sind von hier aus etwa zwanzig Minuten zu Fuß.â
âIch helfe dirâ, bot Kaoru an. âSie kommt mit, wenn ich sie führe. Und das reicht mir noch gut, um danach eine U-Bahn nach Hause zu nehmen.â
âBloß nicht!â Hikari erbleichte. âIch komm freiwillig mit, aber bitte... mach das von vorhin nicht noch mal mit mir!â
Tsukune sah ärgerlich vor sich hin. âGibt's denn keinen von euch, der an die arme Hitomi denkt?â murrte sie. âWenn Hikari sich morgen nicht meldet, schöpft Azakusa sicher Verdacht und ändert alles. Miko, kannst du mir nicht helfen?â
Miko sah erschrocken auf. âI... ich?â stotterte sie. âDa... das geht nicht! Meine Eltern werden wahnsinnig, wenn ich nicht um elf daheim bin. Und außerdem hab ich gleich morgen früh um neun Neujahrsschwimmen!â
âMist.â Tsukune stockte einen Moment. âWarte mal, Miko... du wohnst doch am Hafen!â
âWo... worauf willst du hinaus?â
Die Schülerin wandte sich eilends zu Sakura um. âIch denkeâ, sagte sie, âich habe einen Plan. Denkst du, du kannst deine Eltern überreden, daß wir gleich nach dem Feuerwerk zu euch nach Hause gehen?â
âUh... sicher.â
âGroßartig.â Tsukune lächelte grimmig. âDann kann das laufen. Kumori, Kaoru, ihr kriegt Hikari unter Kontrolle?â
Die Jungen nickten. âVerlaß dich draufâ, versicherte ihr Kumori.
Eilig wandte sich das Mädchen zurück an Sakura. âDann haben wir keine Zeit mehr zu verlieren. Ich hoffe, ihr hattet schon Waschtag daheim?â
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Als Tsukune eine Viertelstunde vor Mitternacht auf den Eingang des âYamatoâ-Nachtclubs stand, hätte sie wahrscheinlich noch nicht mal ihre eigene Mutter wiedererkannt: Sie, die sich sonst nie schminkte, war von Sakura derart mit Lidschatten, Rouge und Lippenstift versorgt worden, daß sie auf jedem Straßenstrich hätte bestehen können. Sie hatte sich ein paar der schrägsten Sachen ihrer Freundin hineingezwängt, die ihr vor allem obenherum derart eng waren, daß ihre ohnehin schon füllige Oberweite noch mehr hervorquoll. Vor allem aber war ihr Haar mit blonden Strähnchen etwas âaufgepepptâ und neu frisiert worden, und das Mädchen war nun beim besten Willen nicht mehr als Schülerin zu erkennen â man hätte sie mit Sicherheit mindestens für neunzehn gehalten, vielleicht sogar zwanzig. Alleine schon ihr so offensichtlich freigelegtes Dekolleté sprach für sich.
Mit anderen Worten, perfekt für einen Nachtclub im Hafen.
Tsukune atmete noch einmal tief durch, was den obersten Knopf ihres Tops fast hätte abplatzen lassen, dann trat sie ein. Sogleich empfing sie eine Mischung aus Zigarettenrauch und zu schwerem Raumparfum, die selbst hier im kleinen Vorzimmer, das in den Hauptraum führte, noch fast unerträglich war. Eine überraschend dezent geschminkte Frau Mitte Zwanzig in einer Zimmermädchenuniform saß hinter einem kleinen Sichtfenster und warf ihr einen seltsam glasigen Blick zu. âSie wünschen?â
Die Schülerin setzte ihr laszivstes Lächeln auf. âGuten Abendâ, hauchte sie mit gespielt rauchiger und heiserer Stimme. âIch bin freiberufliche Unterhalterin und neu hier in der Gegend. Suchen sie vielleicht noch Personal?â
âWir sind ein Tanzlokalâ, kam die Antwort in einer eigenartig teilnahmslosen Stimme. âKönnen sie tanzen?â
âNa, und wie!â Tsukune schüttelte ihren Oberkörper, daß es in ihrem Dekolleté nur so wackelte. âIch weiß, wie man was fürs Auge bietet.â
Das âZimmermädchenâ starrte sie einen Moment an. âHaben sie eine Visitenkarte?â fragte sie dann.
Lächelnd winkte die Schülerin ab. âIch bin meine eigene Visitenkarte, Schätzchenâ, gab sie in ihrer perfekten Imitation einer Straßennutte zurück. âMein Künstlername ist Yuriko, und wer mich einmal gesehen hat, vergißt mich auch nicht mehr.â Daß sie sich als Namen den der Anführerin des 'Y-Teams' gegeben hatte, war ihre private kleine Rache.
âTrotzdem kann ich ihnen leider keine Zusage gebenâ, war die immer noch erschreckend förmlich und kalt ausgesprochene Antwort der Frau. âUnser Personalleiter Azakusa muß sich erst ihre Unterlagen ansehen, ehe er eine Entscheidung trifft. Wenn sie nichts Schriftliches mit sich haben...â
âDann warte ich eben hier, bis er kommtâ, unterbrach sie Tsukune. âBis wann ist er denn wieder hier?â
Wieder kam eine recht lange Pause der Angestellten, ehe sie weitersprach. âEr wird morgen am späten Vormittag ankommen. Ist ihnen das recht?â
Die Schülerin nickte. âAusgezeichnetâ, sagte sie, âdann stelle ich mich ihm da gleich vor. Es gibt nur noch ein kleines Problem: Die Hotels hier in der Gegend sind alle ausgebucht. Haben sie hier ein Zimmer, das ich für die Nacht haben kann? Ist mir egal, wieviel es kostet.â Der letzte Satz war nicht mal gelogen â Tsukune hatte ohnehin nicht vor, etwas zu bezahlen.
âFünftausend Yen für ein Doppelzimmerâ, war die Antwort. âSie werden sicher keine Begleitung brauchen?â
âSchätzchenâ, grinste Tsukune, âich BIN die Begleitung. Zeigen sie mir, wo es langgeht?â
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Als die Tür hinter der Schülerin zufiel, seufzte sie erleichtert. Der erste Teil des Planes â das Hineinkommen in Azakusas Club â hatte schon mal geklappt. Von jetzt an wurde es aber kniffliger. Erstens: Sie war in ihrem Zimmer im ersten Stock; laut Hikaris Beschreibung war Hitomi hinten im Keller. Also mußte sie irgendwie unbemerkt da hinkommen. Zweitens: Recht wahrscheinlich war unten alles abgeschlossen und sie mußte irgendwie an einen Schlüssel herankommen. Und drittens: Hitomi finden und befreien war nur die halbe Arbeit; sie mußte auch noch heil aus dem Nachtclub herauskommen, möglicherweise mit einer Hitomi, die nicht alleine laufen konnte. Glücklicherweise war Teil drei des Plans schon teilweise vorgeplant worden.
Tsukune zog ihr Handy aus Sakuras entsetzlich kleiner Handtasche und drückte die Kurzwahltaste. Sekunden später drang auch schon Mikos Stimme aus dem Hörer. âJa?â
âIch bin'sâ, meldete sich die Schülerin leise. âIch bin drin.â
âPuhâ, kam der erleichterte Seufzer ihrer Freundin zurück. âUnd wie jetzt weiter?â
âWie abgemacht. Wie schnell kannst du mit dem Taxi hier sein?â
Mikos Stimme hielt kurz inne. âMuß es wirklich so früh...â
âJe eher wir draußen sindâ, gab Tsukune zurück, âdesto wahrscheinlicher umgehen wir Azakusa. Und frühmorgens schlafen die Frauen hier drinnen sicher alle noch. Also, wie schnell?â
âHalb siebenâ, kam die Antwort. âUnmöglich früher. Mein Vater geht morgens gegen sechs aus dem Haus; bis dahin muß ich noch hier sein. Dann schnell anziehen, Taxi rufen und zu dir fahren lassen â ich versuche, Punkt halb sieben da zu sein.â
Die Schülerin nickte. âDann seh ich zu, daß die Vordertüre offen ist. Vielleicht mußt du mir mit Hitomi helfen. Aber ich räum über Nacht alle Hindernisse beiseite. Verlaß dich drauf!â
Miko schluckte so laut, daß es sogar durchs Telefon gut zu hören war. âSei vorsichtigâ, bat sie.
âBin ichâ, versicherte ihr Tsukune. âAlso dann, bis morgen früh!â
âBis morgen.â Miko hängte ein.
Durchatmend verstaute das Mädchen ihr Handy wieder in der unmöglichen Handtasche. Die Flucht war schon mal gesichert, sobald sie heil mit Hitomi aus dem 'Yamato' draußen war. Jetzt war es Zeit, den Plan weiterzudenken... oder besser, darauf zu warten, daß sie den Plan weiterführen konnte. Denn noch drangen von unten die unmißverständlichen Geräusche eines laufenden Nachtclubbetriebs herauf zu ihr, und solange die ganze Belegschaft noch wach war, konnte sie nicht daran denken, sich in Ruhe umzusehen. Also blieb ihr nichts übrig, als abzuwarten.
Erschreckenderweise dauerte es bis nach vier Uhr in der Frühe, ehe die Geräusche von unten endlich leiser wurden. Tsukune hatte sich zwar schon denken können, daß ein solches Etablissement nicht um Mitternacht schloß, aber daß man dort noch so lange Kundschaft hatte, das war ihr bisher noch nicht bekannt gewesen. Nachdem sie eine Viertelstunde lang nichts mehr von unten vernommen hatte, öffnete sie sachte ihre Türe einen Spalt â um sie sogleich wieder zu schließen, denn auch wenn der Lärm des üblichen Betriebs verstummt war, klang von unten noch das unverkennbare Geräusch von Besen auf Parkett und plätscherndem Wasser herauf â es wurde natürlich noch saubergemacht!
Erst eine halbe Stunde später wagte sich die Schülerin ein zweites Mal aus ihrem Zimmer. Diesmal war alles ruhig, auch die letzten Geräusche verstummt. Sie lauschte nochmals â ja, nicht einmal mehr Stimmen waren zu hören. Andererseits â auch vorhin, als unten geputzt wurde, hatte niemand auch nur ein Wort gesagt. Langsam wurden Tsukune die Bewohnerinnen dieses Nachtclubs hier doch ein wenig unheimlich. Hatte Hikari nicht erwähnt, die Frauen täten âwie Zombiesâ alles, was Azakusa sagte? Vielleicht... wenn sie wirklich... Aber nein, so etwas gab es doch nicht wirklich! Lebende Tote â das konnte nicht sein.
Leise schlich das Mädchen aus dem Zimmer, ihre Schuhe und Jacke zurücklassend. Sakura würde nicht begeistert sein, die Teile nicht wiederzubekommen, aber besser, als hier entdeckt zu werden, weil Tsukune in hohen Absätzen umknickte oder mit dem Jäckchen irgendwo hängenblieb. Die Handtasche mit ihrem Handy darin hatte sie sich an den Gürtel ihres Rocks gebunden; das sah zwar unmöglich aus, aber so hatte sie beide Hände frei. Und die würde sie brauchen.
Auf Zehenspitzen ging es die Treppe abwärts â das lauteste Geräusch verursachte im Moment Tsukunes Herz, das so heftig pochte, daß das Mädchen fürchten mußte, die anderen Frauen konnten davon wach werden. Unten angekommen spähte sie ums Eck in den Hauptraum des Clubs: Niemand mehr da, nur eine einzelne Neonröhre hinter einem roten Sichtschirm tauchte alles in ein schwaches Licht. Die Stühle standen umgekehrt auf den Tischen, und ein einzelner großer Besen lehnte noch an der Theke.
Ein kurzer Rundgang versicherte die Schülerin darin, daß es hier keine weiteren offenen Türen gab, und aus der Eingang des Clubs war verschlossen. Ein Schlüssel steckte nirgends, und auch in den Schubladen, die das Mädchen vorsichtig aufzog, war nichts zu finden. Verflucht â sie würde wohl doch die Schlafräume des Personals suchen und sich dort umsehen müssen.
Gerade als Tsukune wieder nach oben schleichen wollte, fiel ihr Blick im Vorbeigehen noch einmal auf den kleinen abgetrennten Raum, in dem heute Abend das Zimmermädchen gesessen hatte, quasi der âEmpfangâ des Nachtclubs. Die Türe dort hinein war ebenfalls abgeschlossen gewesen, das Sichtfensterchen stand jedoch offen â und im Inneren der kleinen Kammer sah das Mädchen ein Brett, an dem noch zahlreiche Schlüssel hingen. Die meisten davon waren große, einfache Zimmerschlüssel, wie sie selbst einen erhalten hatte, aber da hing auch ein großer Bund mit mehreren Sicherheitsschlüsseln, der verdächtig nach der Reserve des Clubs aussah.
Vorsichtig schob das Mädchen das Fensterchen auf, das sich in der Sichtscheibe des kleinen Raumes befand. Es war bei weitem zu klein, als daß sie hätte hindurchsteigen können, doch ihr Arm paßte hindurch. Tsukune steckte den Arm hindurch, streckte die Finger aus â und mußte abermals einen Fluch unterdrücken: Mindestens zwanzig Zentimeter fehlten bis zum Schlüsselbrett; sogar noch mehr bis zu dem großen Bund, an den sie hatte herankommen wollen.
Da erinnerte sie sich daran, was sie im großen Hauptzimmer des Nachtclubs gesehen hatte, huschte hinüber und kam kurz darauf mit dem herausgeschraubten Stiel des Besens dort zurück. Vorsichtig schob sie den langen Holzstab durch das Fensterchen, angelte mit dem Ende nach dem Schlüsselbund â und endlich hatte sie einmal Glück: Der Ring, an dem die Schlüssel hingen, rutschte schon im ersten Anlauf über den Besenstiel, und sie konnte ihn wieder einholen. Zufrieden besah sie ihre Beute: sicher zehn verschiedene Sicherheitsschlüssel waren an dem Bund befestigt. Damit sollte sie überall hinkommen.
Als erstes probierte sie aus, welcher der Schlüssel zur Eingangstüre paßte, ließ sie aber noch verschlossen, um kein Risiko egal welcher Art einzugehen. Danach machte sie sich im Erdgeschoß auf die Suche nach einem Kelllerzugang. Sie sperrte mehrere Türen auf, die im Hauptraum des Clubs waren und entdeckte die Küche, einen Lagerraum, eine Art Garderobe und eine Abstellkammer, aber nirgends fand sich eine weitere Treppe, die nach unten hätte führen können. Hatte Hikari in diesem Punkt doch gelogen?
Nur um wirklich alle Möglichkeiten probiert zu haben, öffnete Tsukune noch den kleinen âEmpfangâ des Clubs, wo sie den Schlüsselbund her hatte. Natürlich gab es auch da keine weiteren Türen. Das Mädchen trat zur Sicherheit in den abgetrennten Raum hinein, sah sich noch einmal um â und dann, beim Hinausgehen bemerkte sie das verdächtige Knarren unter ihrem Fuß. Ein genauerer Blick, ein zurückgeschlagener Teppich â und da war eine Falltür im Boden! Ebenfalls abgeschlossen, aber auch hierfür fand sich ein Schlüssel am Bund.
Eine offenbar nachträglich angebaute Klapptreppe aus Aluminium führte weiter nach unten, nachdem die Schülerin sehr vorsichtig die Falltür aus beschlagenem Holz aufgezogen hatte. Vorsichtige Schritte hinab brachten sie in einen fahl mit Neonröhren beleuchteten, reinweiß getünchten, überraschend hohen Gang â deutlich über drei Meter Höhe. Hinter ihr endete der Gang an einer großen Maschine, die wahrscheinlich ein Generator war, vor ihr waren es noch etwa vier Schritt, ehe eine große Glastüre den Durchgang wieder versperrte. Eine sehr viel einfachere Metalltüre war auf halbem Weg an der linken Seite in der Wand â sie hatte nur ein ganz gewöhnliches Schloß; nichts zu dem der Schlüsselbund gepaßt hätte. Also ging es wohl geradeaus durch die Glastüre weiter.
Die Schülerin schritt geradewegs drauf zu und erschrak kurz, als die Treppe wieder nach oben klappte, als sie von ihr herabgestiegen war, doch der Rückweg würde trotzdem kein Problem sein â ein Zugseil ermöglichte es, die Stufen herabzuholen, wann immer man wollte. Eigentlich logisch â wie sollte Azakusa sonst auch wieder hinauf kommen, wenn er hier unten ein Labor hatte? Tsukune wandte sich wieder der Türe zur, nahm den Schlüsselbund zur Hand â und ließ ihn im selben Moment wieder sinken, weil sie da den Schloßmechanismus bemerkt hatte: Hier brauchte man keinen Schlüssel, sondern eine Art Magnetkarte, und das Mädchen bezweifelte, daß ihre Geldkarte von der Bank hier passen würde.
Tsukune starrte durch das Glas. Von der anderen Seite war kein Kartenleser zu erkennen, dafür aber ein Druckknopf an der Wand. Konnte sie ihn irgendwie erreichen? Sie blickte auf. Oben war ein kleines Kippfenster in der Türe, das offen stand, aber es war zu hoch, um es ohne weiteres zu erreichen. Der Besenstiel von vorhin würde sicher lang genug sein, um an den Druckknopf zu kommen, aber wie brachte sie ihn oben durch das Kippfenster? Einer der Stühle von oben? Das Mädchen schätzte die Höhe ab. Sie selbst einssechzig, mit Armen einsneunzig, der Stuhl noch fünfzig Zentimeter â nein, das reichte nicht. Gab es sonst noch etwas Höheres, auf das sie steigen konnte?
Und da fiel ihr ein, daß um halb sieben jemand kam, der ihr helfen konnte.
Miko.
Ein Blick auf ihr Handy â es war bereits dreiviertel sechs. Kein Wunder. Es war frühestens halb fünf gewesen, als sie mit ihrer Durchsuchung begonnen hatte. Das Stöbern nach dem Schlüssel, die Suche nach dem Keller â all das hatte ganz schön Zeit in Anspruch genommen. In einer Dreiviertelstunde kam Miko mit dem Taxi. Wie lange wartete wohl ein Taxifahrer, ehe er nach dem Rechten sehen ging oder, noch schlimmer, die Polizei rief? Miko würde ihn schon vorher über die Verzögerung informieren müssen. Zwei Tastendrücke auf dem Handy und Tsukune wurde mit ihrer Freundin verbunden.
Es dauerte keine zehn Sekunden, ehe Miko sich meldete: âTsukune, alles in Ordnung?â Sie klang nicht so, als hätte sie noch geschlafen â kein Wunder.
âNicht ganzâ, antwortete Tsukune vorsichtig. âIch denke, ich weiß, wo Hitomi ist, aber ich komme ohne deine Hilfe nicht hin. Du mußt mit mir ins Haus kommen.â
âUm Himmels Willenâ, drang das entsetzte Wispern des Mädchens aus dem Telefon. âDas schaff ich nicht!â
Etwas gereizt kauerte sich die Schülerin im Gang zusammen. âHör malâ, zischte sie ins Telefon, âdu hättest sowieso mit reinkommen müssen, weil zwischen Hitomi und dem Ausgang eine Treppe ist. Wenn Hitomi nicht alleine laufen kann, mußt du helfen, sie zu tragen. Also kannst du mir auch vorher zur Hand gehen. Vor allem aber mußt du dem Taxifahrer sagen, daß es etwas dauern kann, bis wir rauskommen. Sag ihm, ich packe noch meine Sachen zusammen, ja?â
âNa... na gutâ, kam vom anderen Ende der Leitung zurück. âAber keine Risiken, ja? Wenn wir Hitomi nicht finden halten wir uns nicht noch mit Spurensuche auf, versprochen?â
âVersprochen.â Tsukune lächelte. âTapfere Miko. Ich bin froh, daß du meine Freundin bist.â
Es kam keine Antwort mehr, nur noch das Klicken in der Leitung, als Miko einhängte. Tsukune schaltete ihr Telefon aus, stand auf, holte die Klapptreppe herunter und stieg nach oben, um an der Eingangstüre auf ihre Freundin zu warten.
Die Minuten verstrichen, und jetzt erst merkte Tsukune, wie entsetzlich müde sie eigentlich war. Die ganze Nacht über hatte die Anspannung, vielleicht entdeckt zu werden und zu scheitern, sie recht effektiv wach gehalten. Aber jetzt, wo der Morgen hereinbrach, merkte sie doch, wie sich die Schwere in ihre Knochen schlich. Nur noch eine Stunde! schalt sie sich selbst. Nur noch eine Stunde, dann war sie heil mit Hitomi und Miko aus dem 'Yamato' heraus und sie konnte schlafen, solange sie wollte.
Um drei Minuten vor halb sieben schloß Tsukune die Vordertüre des Nachtclubs auf und spähte hinaus. Der Hafen lag ruhig und dunkel vor ihr; der Geruch von Öl und Salzwasser lag in der Luft. In diesem Moment sah die Schülerin, wie das Taxi herankam, und sie schloß die Türe schnell wieder, damit der Taxifahrer nicht mißtrauisch wurde. Einige Momente... das Taxi mußte jetzt halten... und dann wurde die Türe langsam geöffnet und Miko trat hinein. âHey, du hast ja tatsächlich alles aufgeschlossen!â staunte sie.
âWas dachtest du denn?â Die Schülerin war einen Moment beleidigt, faßte sich aber sofort wieder. âSei leise und komm mitâ, wisperte sie und drückte Miko den Besenstiel in die Hand. âDas da brauchen wir.â
Leise schlichen die beiden Freundinnen hinab in den Kellergang. âDas da ist esâ, flüsterte Tsukune und deutete auf den Schalter hinter der Glastür. âDen müssen wir drücken. Mit dem Besenstiel geht es oben durchs Fenster. Du steigst auf meine Schultern.â Mit diesen Worten machte sie einen Buckel.
Indem sie sich an der Scheibe abstützte, stieg das andere Mädchen auf die Schultern ihrer Freundin, den Besenstiel dabei fest umklammert. Einen Moment wackelte sie hin und her, während sich Tsukune ächzend aufrichtete, aber dann stand sie sicher, eine Hand nun an die linke Wand gedrückt. Sie fädelte den langen Holzstab durch das gekippt offene Fenster, zielte wie eine Billardspielerin auf den Schalter an der Wand â und traf! Ein lauter Brummton ertönte von der Tür, und ein Licht ging über dem Schalter an.
So schnell wie möglich rutschte Miko wieder vom Rücken ihrer Freundin, und kaum war sie unten drückte die gegen die Glastüre, die mit einem Klacken aufging. Der Brummton verstummte. Sie waren durch. Tsukune klemmte die Tür im offenen Zustand mit Sakuras Handtasche fest â besser keine Zeit auf dem Rückweg verlieren â dann gingen beide den Gang weiter.
Es war nicht wirklich schwer, nun noch den Weg zu finden, denn hier hinten gab es nur noch eine weitere Türe. Es handelte sich um eine Eisentüre ähnlich der, die seitlich im Gang war, aber diesmal hatte sie ein reguläres Sicherheitsschloß. Vor allem aber gab es nahe des Bodens etwas, das wie eine Katzenklappe aussah â wahrscheinlich eine Durchreiche. Auch an ihr war ein kleineres Schloß angebracht; trotzdem galt Tsukunes ganze Aufmerksamkeit natürlich nur dem Riegel, der die Türe im Ganzen geschlossen hielt. Sie ging ihren Schlüsselbund durch, um herauszufinden, welcher wohl hier der richtige war...
...als hinter den Mädchen eine sanfte, aber eindringliche männliche Stimme sagte: âIch glaube nicht, daß einer von denen paßt.â
Entsetzt fuhren die Freundinnen herum. Im Gang stand ein hochgewachsener, schlanker älterer Mann, der nur aus der einen Seitentüre mit dem einfachen Schloß gekommen sein konnte. Er hatte deutlich über schulterlanges, schlohweißes Haar und einen ebenso weißen, glatten Vollbart, der unten in eine kleine Spitze auslief. Eine bläulich getönte Brille mit sehr großen Gläsern saß auf seiner Nase, und ein langer, weißer Laborkittel war sein einziges sichtbares Kleidungsstück neben seinen Hausschuhen, die als einziges nicht zu seiner sonstigen Erscheinung paßten. Der Mann zog aus einer Tasche seines Kittels einen Ring hervor, an dem eine Magnetkarte und ein einzelner Schlüssel hingen. âDas hierâ, sagte er, âist der richtige.â
âAzakusaâ, keuchte Tsukune.
âRichtigâ, sagte der Mann. âUnd du bist Tsukune Futokoro von der 'Generation XXX'.â
In diesem Moment drehte Miko durch.
Das Mädchen war nie besonders mutig gewesen. Im Fernsehen sah sie sich niemals Krimis an, weil sie die Spannung nicht ertragen konnte, ob der heldenhafte Detektiv am Ende nicht doch der raffinierten Falle erlag, welche die teuflischen Verbrecher für ihn aufgestellt hatten. Wenn es einen Alptraum in ihrem Leben gab, dann der, einmal selbst der Detektiv zu sein und höchstpersönlich in die Falle der Verbrecher zu gehen. Und obwohl das hier keine solche Situation war, weil Azakusa keine Ahnung von ihrer Anwesenheit gehabt hatte, bis die beiden Freundinnen die Glastüre geöffnet und damit den lauten Türsummer aktiviert hatten, entsprach ihre Lage sehr genau dem Bild des Alptraums.
Mit einem wahren Berserkerschrei jagte sie auf den Mann im weißen Laborkittel los und war absolut fest dazu entschlossen, ihn kurzerhand über den Haufen zu rennen. Sie mochte nur eine ängstliche kleine Maus sein, aber selbst Mäuse versuchen zu beißen, wenn man sie in die Enge treibt.
Azakusa fing Mikos Ansturm sanft mit einem Arm ab, ihr Schrei wurde zu einem überraschten Aufstöhnen, und der Arzt ließ sie fast ohne Kraftaufwand an sich abtropfen und zu Boden gleiten. Sie sank in sich zusammen, ihre Beine versagten ihr den Dienst und ein lautes Plätschern ertönte, als das Mädchen, offensichtlich aller Aggression beraubt, sich plötzlich in ihr Höschen machte... nur daß das nicht der Fall war: In plötzlicher höchster Erregung lief die kleine Spalte zwischen ihren Beinen kurzerhand aus.
Tsukune, mit den Besonderheiten ihrer Freundin vertraut, sah sie verblüfft an; ein Blick, den der hochgewachsene Mann sehr gut bemerkt hatte. âKeine Sorgeâ, sagte er in seiner sanften, aber durchdringenden Stimme, âihr ist nichts passiert. Ich bezweifle nur, daß sie so schnell wieder auf die Beine kommt. Bei dir würde ich mir die Behandlung gerne ersparen â ich denke, es wird für uns beide unangenehm, wenn ich dich durch die Gegend rollen muß. Wärst du also so lieb und machst mir keine...â
In diesem Moment traf ihn etwas, gegen das ein Wasserwerfer wie ein Gartenschlauch wirkte.
Miko.
Mit letzter Kraft hatte es das Mädchen geschafft, sich gegen die Wand zu lehnen und ihr Becken hochzudrücken. Ihr ihrem Zustand hatte eine einzige Berührung ihres heißen Liebesknöpfchen ausgereicht, um sie zu einer der gewaltigsten Explosionen ihres jungen Lebens zu treiben. Und mit aller Willenskraft, die ihre Panik ihr verlieh, jagte Miko den Ansturm der Gefühle in ihren Bauch hinein, wo ihr Körper das tat, was er in solchen Situationen immer tat: Flüssigkeit produzieren.
Die Wucht des plötzlichen Wasserstoßes war so immens, daß Azakusa von den Beinen gerissen wurde. Er flog meterweit den Gang zurück und krachte, von oben bis unten durchnäßt, mit dem Rücken gegen den Generator, wo er abprallte und keuchend vorüberfiel. Seine Brille purzelte von der Nase und zerbrach. Noch hatte er das Bewußtsein nicht verloren, doch er war mehr als nur benommen, und sein erster Versuch, sich mit den Armen gleich wieder hochzustemmen, scheiterte kläglich.
Tsukune sah ihre Chance. Sie packte Miko, zog sie gewaltsam auf die Beine, legte sich ihren Arm um den Nacken und stolperte vorwärts zur Klapptreppe. Ihren Berserkerschrei vorhin konnte man oben im Haus nicht überhört haben; es waren nur Minuten, vielleicht nur Sekunden, ehe Azakusa Hilfe bekam. Der Arzt krabbelte indessen vorwärts, immer noch bemüht, irgendwie hochzukommen. Er hatte den kürzeren Weg, doch die beiden Mädchen waren einen Meter vor ihm am Zugseil der Treppe, und mit der einen freien Hand zerrte Tsukune daran, so daß das Aluminiumgestell herunterkam.
âNein...â keuchte Azakusa, griff nach der herunterklappenden Treppe, doch Tsukune trat ihm auf die Hand, was leider nur geringen Effekt hatte, da Sakuras Stöckelschuhe noch oben in ihrem Zimmer lagen. Es reichte allerdings, daß der Arzt seine Hand zurückzog und nun versuchte, sich an der Wand hochzuschieben, die Augen fest auf die beiden fliehenden Mädchen gerichtet. Die Schülerin warf einen letzten kurzen Blick zu ihm herunter und bemerkte, daß er bei seinem âAbflugâ eben nicht nur seine Brille verloren hatte.
Auch sein Bart war ab. Sein falscher Bart.
Tsukune registrierte es, aber ihr Überlebensinstinkt war im Moment stärker als die Überraschung. Sie riß sich von dem Anblick los und zerrte Miko weiter die Treppe hinauf, Stufe für Stufe. Allmählich faßte ihre Freundin wieder Tritt, und als sie oben ankamen, konnte sie fast schon alleine laufen. Die Mädchen hörten auf der Treppe von oben Schritte, aber sie waren ja schon so gut wie an der Eingangstüre, und die war schnell aufgestoßen, und draußen wartete das Taxi, und die beiden fielen förmlich hinein, und der Fahrer sah nur einmal über seine Schulter zu seiner neuen Mitfahrerin. âIst ja ein wirklich mieses Viertelâ, meinte er trocken beim Anblick der unbeschuhten, schwer atmenden, überaus nuttig geschminkten Schülerin und gab Gas.
Erst als sie schon fünf Minuten unterwegs waren, drang das Gesicht Azakusas wieder in Tsukunes Bewußtsein vor. Das Gesicht, dessen schmale, fast hübsche Linien sie ohne Bart und ohne Brille fast augenblicklich wiedererkannt hatte, obwohl sie es zuletzt vor über einem halben Jahr gesehen hatte.
Das Gesicht Toshis.
Alle Feierlichkeiten zum Jahreswechsel â die Volksfeste, das gemeinsame Ausgehen mit der Familie, die Orakelbefragungen, das Tempelopfer, das Feuerwerk â gefielen der Schülerin an sich sehr gut. Sie war zwar ein modernes Mädchen, aber nicht so modern, daß ihr die Traditionen ihres Landes nicht gefallen hätten. Allerdings: Warum um alles in der Welt mußte man zu Neujahr alle Frauen in Yukatas stecken? Yukatas waren nicht viel mehr als etwas edlere Bademäntel, und wenn sie auch für ein durchschnittliche japanische Sechzehnjährige schön sittsame Kleidung darstellen mochten â mit einem D-Körbchen als Oberweite sah man in einem normalen Yukata nun mal wie das Titelmädchen in der Asien-Sonderausgabe des âPlayboyâ aus. Tsukune hatte in so einem Ding immer das Gefühl, nur noch aus Ausschnitt zu bestehen.
Immerhin: dieses Neujahr war sie ausnahmsweise einmal nicht mit ihrer Familie, sondern mit ihren Freunden unterwegs. Ihr Vater hatte sich pünktlich zum ersten Weihnachtsfeiertag eine Grippe eingefangen und lag daheim im Bett, und ihre Mutter hatte sich dazu entschieden, ihn gut zu versorgen. âDu gehst ja sicher aufs Matsuriâ, hatte sie zu Tsukune gesagt, âda kannst du auch für uns alle Segenswünsche in den Tempelbaum binden und für uns die Orakel abholen.â Von der Pflicht, einen Yukata zu tragen, war sie allerdings trotzdem nicht befreit.
Es war allerdings in der Gruppe zusammen mit Yakamo, Kaoru, Kumori, Sakura, Miko und den Eltern Koufun sehr viel erträglicher, als sie es sich vorgestellt hatte. Schon die Tatsache, daß sie einen hochgewachsenen, kräftigen Freund an ihrer Seite hatte, verscheuchte eine Menge der lästigen Blicke von ihrer Oberweite. Und zusammen mit den eigenen Freunden war es auch gleich sehr viel unterhaltsamer, an den zahlreichen Ständen des Volksfestes anzustehen.
Das Feuerwerk hatte noch nicht angefangen, und die Freunde standen gerade am Fadenorakel an, als Tsukune plötzlich direkt gegenüber an der Süßigkeitenbude jemanden bemerkte, noch mal genauer hinsah und dann sachte Sakura anstupste. âPst!â
âHm?â Das blonde Mädchen blickte sich um.
âDa drübenâ, wisperte Tsukume. âDa bei den kandierten Früchten. Ist das nicht...â
Sakura blickte hinüber und verengte die Augen ein wenig. âSchwer zu sagenâ, murmelte sie, âzumindest von hinten. Aber das Haar kommt hin; das ist sehr unüblich für eine Japanerin. Und gefärbt scheint es mir nicht zu sein. Pst, Kumori!â
Der Junge sah zu ihr. âWas gibt's denn zu tuscheln?â Dann sah er in die Richtung, in die Sakura und Tsukune deuteten und erstarrte.
âHikari...â
Ohne lange nachzudenken, traf Sakura eine Entscheidung. âMama?â sprach sie ihre Mutter an und zupfte an ihrem Ärmel. âWir gehen noch mal eine halbe Stunde rum und suchen uns eine schöne Stelle fürs Feuerwerk nachher. Können wir uns nachher vorne am Tempelbaum treffen?â
Frau Koufun nickte. âGeht in Ordnung, Sakuraâ, stimmte sie zu. âAber bleibt zusammen. Nicht, daß ihr hinterher eine zu wenig seid, ja?â
âHöchstens eine zu vielâ, rief das Mädchen zurück, während sie sich schon entfernte. Aber bis ihre Mutter angefangen hatte, sich zu wundern, war sie schon zusammen mit ihren Freunden unter den Festbesuchern verschwunden.
âWie machen wir das?â murmelte Kumori Tsukune zu, während die jungen Leute sich langsam ihrem Ziel näherten. âWenn wir so einfach auf sie zulaufen und sie uns sieht, verdrückt sie sich. Und bei den vielen Leuten hier ist sie ruckzuck untergetaucht.â
âWir umzingeln den Standâ, entschied Tsukune. âDann warten wir, bis sie dort fertig ist, und wenn sie rauskommt, nehmen wir sie in die Mitte. Und dann schauen wir, daß wir mit ihr zum Brunnen rüberkommen, raus aus der Menschenmenge. Dann sehen wir weiter.â
Eilig nahmen die Freunde ihre Positionen um den Süßigkeitenstand ein, und tatsächlich dauerte es dann keine Minute mehr, bis Hikari an der Reihe war. Sie bekam eine Papiertüte in die Hände gedrückt â doch anstelle sich umzuwenden und wieder in Richtung Mitte des Festes zu gehen, zwängte sie sich hinten am Stand heraus und zwischen zwei der Buden hindurch in Richtung des kleinen Parks in der Nähe.
Yakamos unterdrückter Fluch war das Startzeichen für die jungen Leute, nun doch Hikari direkt zu folgen. Kaoru machte es am besten, duckte sich rasch zwischen ein paar vorbeigehenden Passanten hindurch und schlupfte dann geschickt zwischen zwei Festständen hindurch. Tsukune hielt sich dicht hinter Yakamo, der sich wie ein Eisbrecher durch die Menschenmassen schon, während Sakura, Miko und Kumori sich am schwersten taten und etwas zurückfielen.
Als die Freunde endlich aus dem Trubel heraus waren, sahen sie zu ihrer Erleichterung, daß Kaoru Hikari bereits erreicht hatte â er mußte sie etwas abseits des Pfades überholt haben, denn er stand vor ihr und blockierte ihr so den Weg. Das blonde Mädchen blickte sich kurz um und sah von hinten den Rest der âGeneration XXXâ heranlaufen. Doch zur allseitigen Überraschung lächelte sie nur mitleidig.
âGib aufâ, sagte Kumori leise. âWir tun dir nichts. Wir wollen nur wissen, wo Hitomi steckt, und dann bringe ich dich nach Hause zurück.â
âAbgelehntâ, entgegnete seine Schwester. âWeder komme ich mit dir mit, noch werde ich auch nur ein Wort über Azakusas Pläne verraten. Und ihr habt keine Möglichkeit, mich zu etwas anderem zu zwingen.â
Yakamos Blick verfinsterte sich. âGlaubst du nichtâ, grollte er, âdaß ich in der Lage bin, dich zum Reden zu bringen?â
Mit dem selben mitleidigen Blick sah Hikari zurück. âGlaubst du nichtâ, antwortete sie, âdaß das hier ein sehr schlechter Ort ist, um mir zu drohen? Ein einziger Schrei von mir, und die Polizisten da vorne kommen mir zu Hilfe. Die sind doch sicher immer noch auf der Suche nach den bösen Leuten, die zu Otsukimi schon ein anderes Schulmädchen entführt haben?â
âDann haben wir ein Pattâ, stellte Tsukune fest. âWir können dir hier nichts tun, und du kommst hier nicht weg.â
âIrrtum.â Das blonde Mädchen verschränkte siegessicher die Arme. âIch kann auch einfach mal so losschreien und behaupten, ihr hättet mich belästigt. Jugendbanden werden denen bestimmt nicht gefallen.
Von hinten räusperte sich sachte Kaoru, der dicht hinter sie getreten war. âEs gibt da noch eine Möglichkeitâ, sagte er, âan die du nicht gedacht hast.â
Hikari wandte sich um. âUnd die wäre?â
âDu läufst mir friedlich hinterher, bis wir an einem ruhigeren Platz sind, und dann reden wir noch mal über alles.
âUnd warum sollte ich...â begann das Mädchen den Satz.
Dann stiegen ihr die Pheromone in die Nase, die Kaoru produziert hatte.
Mit einem kleinen Ächzen wurden Hikaris Augen glasig und sie streckte eine Hand nach dem Jungen vor ihr aus. Der wich etwas zurück. Das Mädchen trat einen Schritt vor, und wieder ging das Objekt ihrer Begierde etwas aus dem Weg, um sich diesmal richtig in Bewegung zu setzen und in langsamem, aber stetigem Schritt ins Innere des nahen Parks zu marschieren. Hikari folgte ihm wie eine Traumtänzerin, gebannt von dem unbändigen Verlangen in ihr, sich mit diesem Adonis da vorne zu paaren, nach Möglichkeit sofort.
Die anderen folgten den beiden, Miko, Sakura und Tsukune dabei in sicherem Abstand, um nicht versehentlich selbst in den âSogâ von Kaorus Körpergeruch zu kommen, und gemeinsam ging es tiefer in den Park hinein. Zentrum der kleinen Grünanlage war ein Pavillon, der in den Sommermonaten von zahlreichen Blumen umrankt war, aber jetzt im Winter kalt und dunkel wirkte. Kaum jemand kam zu dieser Jahreszeit hierher, und schon gar nicht, wenn nur ein paar Minuten nebenan ein großes Volksfest war.
Yakamo ergriff die Gelegenheit, als Hikari dem verlockenden Duft in den Pavillon gefolgt war und legte ihr eine seiner großen Hände auf den Mund. Mit dem anderen Arm umfaßte er fest ihren Oberkörper und hielt sie so fest. Kaoru trat eilig einige Meter von ihr weg, und als die Pheromone verflogen waren und das Mädchen wieder zu Sinnen kam, waren die anderen nachgekommen. Hikaris Strampeln und ersticktes Kreischen war hoffnungslos.
âYakamo wird jetzt seine Hand von deinem Mund nehmenâ, zischte ihr Tsukune wütend zu, âund du wirst uns ein paar Fragen beantworten.â
âGar nichts werde ich tunâ, stieß das blonde Mädchen hervor, kaum daß ihre Lippen frei waren. âIhr könnt mich zu nichts zwingen.â
Tief knurrte Yakamo hinter ihr. âIch wiederhole mich nicht gernâ, meinte er mit tiefer Stimme, âaber ich bin durchaus in der Lage, dich zu zwingen.â
Hikaris Reaktion darauf war ein wütendes Zerren in seinem Griff. âLaß mich losâ, verlangte sie, âdu wirst deine Drohungen sowieso nicht wahr machen. Kumori ist ein zu großes Weichei, als daß er das zulassen würde.â
âDas stimmtâ, meldete sich Kumori zu Wort. âIch würde nie zulassen, daß dir etwas Schlimmes passiert, Schwesterchen. Aber im Moment kann dir kaum etwas Schlimmeres passieren, als daß du weiter mit Azakusa zusammenbleibst und am Ende noch vielleicht den Tod von Hitomi mit auf dem Gewissen hast. Glaub mir, ich werde allem zustimmen, was das verhindert.â
âUnd wie willst du es unseren Eltern erklärenâ, spuckte ihm Hikari ins Gesicht, âwenn ich mit blauen Flecken übersät nach Hause komme? Vielleicht bricht mir der grobe Klotz da hinten ja auch ein paar Finger, um mich zum Reden zu bringen. Schon mal daran gedacht?â
Der dunkelhaarige Junge strich seine Zopf beiseite und trat nahe vor seine Schwester. âUnsere Eltern denken, du hättest dich einer Sekte angeschlossenâ, sagte er ruhig. âEine von denen, die sich von der Außenwelt völlig abschotten. Sicher, die brechen einander nicht die Knochen. Aber manchmal kommt es in diesen Sekten zu sehr üblen Vergewaltigungen... du hast davon sicher schon gehört.â
Er nickte den anderen zu, und während er einen Arm seiner Schwester fest ergriff, hielt Kaoru den anderen fest. Dann ließ Yakamo sie los, trat vor sie, öffnete den Gürtel seiner Hose und zeigte ihr, was daruntersteckte, wenn er sich ein bißchen Mühe gab.
Das war alle Motivation, die Hikari brauchte, um ihre Meinung recht eilig zu ändern.
âAzakusa führt ein Doppellebenâ, sprudelte es ungefragt aus ihr heraus, während sie mit deutlich blasserem Gesicht auf den immens anschwellenden Männerstab Yakamos starrte und sehr genau wußte, daß sie mit diesem Monstrum nichts zu tun haben wollte. âEr leitet als Arzt eine kleine Erste-Hilfe-Station der Wohlfahrt für Obdachlose, ehrenamtlich, aber sein Geld verdient er mit einem Nachtclub drüben am Hafen, dem 'Yamato'. Die Frauen, die da arbeiten, sind ihm allesamt total hörig â ich glaube, er gibt ihnen irgendwelche Drogen oder so was, aber auf jeden Fall tun sie wie Zombies alles, was er ihnen sagt. Meistens ist er vormittags da und holt die Gewinne ab...â
âDanach hat dich niemand gefragtâ, unterbrach sie Sakura unwirsch. âVor allem interessiert uns eins: WO STECKT HITOMI?â
Hikari schluckte. âUnten im Keller von dem Nachtclubâ, erklärte sie hastig. âAzakusa hat da unten eine Art Labor, und da hält er auch Hitomi fest.â
Zufrieden nickte Tsukune. âBesserâ, sagte sie. âUnd was ist mit dieser Mitsumi? Ist sie auch im Nachtclub?â
âNur wenn Azakusa auch da istâ, war die Antwort. âSie ist so was wie seine Leibwächterin, wenn er sie nicht auf Aufträge schickt. Aber das war bisher nur wegen euch, soweit ich mitbekommen habe.â
âAusgezeichnet.â Tsukune lächelte grimmig. âEndlich mal was in der Hand. Wir sollten noch heute Nacht losschlagen.â
Sakuras Gesicht wurde etwas ernster. âSo leicht geht das nicht, fürchte ichâ, sagte sie. âWir müssen uns nachher bei meinen Eltern wieder melden. Die werden was dagegenhaben, wenn ich über Nacht plötzlich weg bin. Außerdem wolltest du doch bei mir übernachten.â
Ihre Freundin überlegte. âNa gut, notfalls geht es auch ohne dichâ, meinte sie. âAber ihr anderen seid doch sicher dabei, oder?â
âIch weiß nichtâ, gab Yakamo zurück, âwie du dir das vorstellst, aber wenn Muto-san heute nacht schlafen geht und ich bin nicht da, dann komme ich bis morgen früh nicht mehr rein. Ich hab keinen eigenen Schlüssel!â
âUnd ichâ, sagte Kaoru, âkann auch nicht plötzlich meinen Eltern erklären, daß ich mir die Nacht woanders um die Ohren schlage. Die machen sich seit Hitomis Verschwinden sowieso Gedanken, ob ich nicht in schlechte Gesellschaft gerate.â
Tsukunes Augen wanderten weiter. âKumori...?â
Der Junge schüttelte den Kopf. âIch muß mich um Hikari kümmernâ, sagte er. âWenn ich es überhaupt alleine mit ihr nach Hause schaffe. Es sind von hier aus etwa zwanzig Minuten zu Fuß.â
âIch helfe dirâ, bot Kaoru an. âSie kommt mit, wenn ich sie führe. Und das reicht mir noch gut, um danach eine U-Bahn nach Hause zu nehmen.â
âBloß nicht!â Hikari erbleichte. âIch komm freiwillig mit, aber bitte... mach das von vorhin nicht noch mal mit mir!â
Tsukune sah ärgerlich vor sich hin. âGibt's denn keinen von euch, der an die arme Hitomi denkt?â murrte sie. âWenn Hikari sich morgen nicht meldet, schöpft Azakusa sicher Verdacht und ändert alles. Miko, kannst du mir nicht helfen?â
Miko sah erschrocken auf. âI... ich?â stotterte sie. âDa... das geht nicht! Meine Eltern werden wahnsinnig, wenn ich nicht um elf daheim bin. Und außerdem hab ich gleich morgen früh um neun Neujahrsschwimmen!â
âMist.â Tsukune stockte einen Moment. âWarte mal, Miko... du wohnst doch am Hafen!â
âWo... worauf willst du hinaus?â
Die Schülerin wandte sich eilends zu Sakura um. âIch denkeâ, sagte sie, âich habe einen Plan. Denkst du, du kannst deine Eltern überreden, daß wir gleich nach dem Feuerwerk zu euch nach Hause gehen?â
âUh... sicher.â
âGroßartig.â Tsukune lächelte grimmig. âDann kann das laufen. Kumori, Kaoru, ihr kriegt Hikari unter Kontrolle?â
Die Jungen nickten. âVerlaß dich draufâ, versicherte ihr Kumori.
Eilig wandte sich das Mädchen zurück an Sakura. âDann haben wir keine Zeit mehr zu verlieren. Ich hoffe, ihr hattet schon Waschtag daheim?â
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Als Tsukune eine Viertelstunde vor Mitternacht auf den Eingang des âYamatoâ-Nachtclubs stand, hätte sie wahrscheinlich noch nicht mal ihre eigene Mutter wiedererkannt: Sie, die sich sonst nie schminkte, war von Sakura derart mit Lidschatten, Rouge und Lippenstift versorgt worden, daß sie auf jedem Straßenstrich hätte bestehen können. Sie hatte sich ein paar der schrägsten Sachen ihrer Freundin hineingezwängt, die ihr vor allem obenherum derart eng waren, daß ihre ohnehin schon füllige Oberweite noch mehr hervorquoll. Vor allem aber war ihr Haar mit blonden Strähnchen etwas âaufgepepptâ und neu frisiert worden, und das Mädchen war nun beim besten Willen nicht mehr als Schülerin zu erkennen â man hätte sie mit Sicherheit mindestens für neunzehn gehalten, vielleicht sogar zwanzig. Alleine schon ihr so offensichtlich freigelegtes Dekolleté sprach für sich.
Mit anderen Worten, perfekt für einen Nachtclub im Hafen.
Tsukune atmete noch einmal tief durch, was den obersten Knopf ihres Tops fast hätte abplatzen lassen, dann trat sie ein. Sogleich empfing sie eine Mischung aus Zigarettenrauch und zu schwerem Raumparfum, die selbst hier im kleinen Vorzimmer, das in den Hauptraum führte, noch fast unerträglich war. Eine überraschend dezent geschminkte Frau Mitte Zwanzig in einer Zimmermädchenuniform saß hinter einem kleinen Sichtfenster und warf ihr einen seltsam glasigen Blick zu. âSie wünschen?â
Die Schülerin setzte ihr laszivstes Lächeln auf. âGuten Abendâ, hauchte sie mit gespielt rauchiger und heiserer Stimme. âIch bin freiberufliche Unterhalterin und neu hier in der Gegend. Suchen sie vielleicht noch Personal?â
âWir sind ein Tanzlokalâ, kam die Antwort in einer eigenartig teilnahmslosen Stimme. âKönnen sie tanzen?â
âNa, und wie!â Tsukune schüttelte ihren Oberkörper, daß es in ihrem Dekolleté nur so wackelte. âIch weiß, wie man was fürs Auge bietet.â
Das âZimmermädchenâ starrte sie einen Moment an. âHaben sie eine Visitenkarte?â fragte sie dann.
Lächelnd winkte die Schülerin ab. âIch bin meine eigene Visitenkarte, Schätzchenâ, gab sie in ihrer perfekten Imitation einer Straßennutte zurück. âMein Künstlername ist Yuriko, und wer mich einmal gesehen hat, vergißt mich auch nicht mehr.â Daß sie sich als Namen den der Anführerin des 'Y-Teams' gegeben hatte, war ihre private kleine Rache.
âTrotzdem kann ich ihnen leider keine Zusage gebenâ, war die immer noch erschreckend förmlich und kalt ausgesprochene Antwort der Frau. âUnser Personalleiter Azakusa muß sich erst ihre Unterlagen ansehen, ehe er eine Entscheidung trifft. Wenn sie nichts Schriftliches mit sich haben...â
âDann warte ich eben hier, bis er kommtâ, unterbrach sie Tsukune. âBis wann ist er denn wieder hier?â
Wieder kam eine recht lange Pause der Angestellten, ehe sie weitersprach. âEr wird morgen am späten Vormittag ankommen. Ist ihnen das recht?â
Die Schülerin nickte. âAusgezeichnetâ, sagte sie, âdann stelle ich mich ihm da gleich vor. Es gibt nur noch ein kleines Problem: Die Hotels hier in der Gegend sind alle ausgebucht. Haben sie hier ein Zimmer, das ich für die Nacht haben kann? Ist mir egal, wieviel es kostet.â Der letzte Satz war nicht mal gelogen â Tsukune hatte ohnehin nicht vor, etwas zu bezahlen.
âFünftausend Yen für ein Doppelzimmerâ, war die Antwort. âSie werden sicher keine Begleitung brauchen?â
âSchätzchenâ, grinste Tsukune, âich BIN die Begleitung. Zeigen sie mir, wo es langgeht?â
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Als die Tür hinter der Schülerin zufiel, seufzte sie erleichtert. Der erste Teil des Planes â das Hineinkommen in Azakusas Club â hatte schon mal geklappt. Von jetzt an wurde es aber kniffliger. Erstens: Sie war in ihrem Zimmer im ersten Stock; laut Hikaris Beschreibung war Hitomi hinten im Keller. Also mußte sie irgendwie unbemerkt da hinkommen. Zweitens: Recht wahrscheinlich war unten alles abgeschlossen und sie mußte irgendwie an einen Schlüssel herankommen. Und drittens: Hitomi finden und befreien war nur die halbe Arbeit; sie mußte auch noch heil aus dem Nachtclub herauskommen, möglicherweise mit einer Hitomi, die nicht alleine laufen konnte. Glücklicherweise war Teil drei des Plans schon teilweise vorgeplant worden.
Tsukune zog ihr Handy aus Sakuras entsetzlich kleiner Handtasche und drückte die Kurzwahltaste. Sekunden später drang auch schon Mikos Stimme aus dem Hörer. âJa?â
âIch bin'sâ, meldete sich die Schülerin leise. âIch bin drin.â
âPuhâ, kam der erleichterte Seufzer ihrer Freundin zurück. âUnd wie jetzt weiter?â
âWie abgemacht. Wie schnell kannst du mit dem Taxi hier sein?â
Mikos Stimme hielt kurz inne. âMuß es wirklich so früh...â
âJe eher wir draußen sindâ, gab Tsukune zurück, âdesto wahrscheinlicher umgehen wir Azakusa. Und frühmorgens schlafen die Frauen hier drinnen sicher alle noch. Also, wie schnell?â
âHalb siebenâ, kam die Antwort. âUnmöglich früher. Mein Vater geht morgens gegen sechs aus dem Haus; bis dahin muß ich noch hier sein. Dann schnell anziehen, Taxi rufen und zu dir fahren lassen â ich versuche, Punkt halb sieben da zu sein.â
Die Schülerin nickte. âDann seh ich zu, daß die Vordertüre offen ist. Vielleicht mußt du mir mit Hitomi helfen. Aber ich räum über Nacht alle Hindernisse beiseite. Verlaß dich drauf!â
Miko schluckte so laut, daß es sogar durchs Telefon gut zu hören war. âSei vorsichtigâ, bat sie.
âBin ichâ, versicherte ihr Tsukune. âAlso dann, bis morgen früh!â
âBis morgen.â Miko hängte ein.
Durchatmend verstaute das Mädchen ihr Handy wieder in der unmöglichen Handtasche. Die Flucht war schon mal gesichert, sobald sie heil mit Hitomi aus dem 'Yamato' draußen war. Jetzt war es Zeit, den Plan weiterzudenken... oder besser, darauf zu warten, daß sie den Plan weiterführen konnte. Denn noch drangen von unten die unmißverständlichen Geräusche eines laufenden Nachtclubbetriebs herauf zu ihr, und solange die ganze Belegschaft noch wach war, konnte sie nicht daran denken, sich in Ruhe umzusehen. Also blieb ihr nichts übrig, als abzuwarten.
Erschreckenderweise dauerte es bis nach vier Uhr in der Frühe, ehe die Geräusche von unten endlich leiser wurden. Tsukune hatte sich zwar schon denken können, daß ein solches Etablissement nicht um Mitternacht schloß, aber daß man dort noch so lange Kundschaft hatte, das war ihr bisher noch nicht bekannt gewesen. Nachdem sie eine Viertelstunde lang nichts mehr von unten vernommen hatte, öffnete sie sachte ihre Türe einen Spalt â um sie sogleich wieder zu schließen, denn auch wenn der Lärm des üblichen Betriebs verstummt war, klang von unten noch das unverkennbare Geräusch von Besen auf Parkett und plätscherndem Wasser herauf â es wurde natürlich noch saubergemacht!
Erst eine halbe Stunde später wagte sich die Schülerin ein zweites Mal aus ihrem Zimmer. Diesmal war alles ruhig, auch die letzten Geräusche verstummt. Sie lauschte nochmals â ja, nicht einmal mehr Stimmen waren zu hören. Andererseits â auch vorhin, als unten geputzt wurde, hatte niemand auch nur ein Wort gesagt. Langsam wurden Tsukune die Bewohnerinnen dieses Nachtclubs hier doch ein wenig unheimlich. Hatte Hikari nicht erwähnt, die Frauen täten âwie Zombiesâ alles, was Azakusa sagte? Vielleicht... wenn sie wirklich... Aber nein, so etwas gab es doch nicht wirklich! Lebende Tote â das konnte nicht sein.
Leise schlich das Mädchen aus dem Zimmer, ihre Schuhe und Jacke zurücklassend. Sakura würde nicht begeistert sein, die Teile nicht wiederzubekommen, aber besser, als hier entdeckt zu werden, weil Tsukune in hohen Absätzen umknickte oder mit dem Jäckchen irgendwo hängenblieb. Die Handtasche mit ihrem Handy darin hatte sie sich an den Gürtel ihres Rocks gebunden; das sah zwar unmöglich aus, aber so hatte sie beide Hände frei. Und die würde sie brauchen.
Auf Zehenspitzen ging es die Treppe abwärts â das lauteste Geräusch verursachte im Moment Tsukunes Herz, das so heftig pochte, daß das Mädchen fürchten mußte, die anderen Frauen konnten davon wach werden. Unten angekommen spähte sie ums Eck in den Hauptraum des Clubs: Niemand mehr da, nur eine einzelne Neonröhre hinter einem roten Sichtschirm tauchte alles in ein schwaches Licht. Die Stühle standen umgekehrt auf den Tischen, und ein einzelner großer Besen lehnte noch an der Theke.
Ein kurzer Rundgang versicherte die Schülerin darin, daß es hier keine weiteren offenen Türen gab, und aus der Eingang des Clubs war verschlossen. Ein Schlüssel steckte nirgends, und auch in den Schubladen, die das Mädchen vorsichtig aufzog, war nichts zu finden. Verflucht â sie würde wohl doch die Schlafräume des Personals suchen und sich dort umsehen müssen.
Gerade als Tsukune wieder nach oben schleichen wollte, fiel ihr Blick im Vorbeigehen noch einmal auf den kleinen abgetrennten Raum, in dem heute Abend das Zimmermädchen gesessen hatte, quasi der âEmpfangâ des Nachtclubs. Die Türe dort hinein war ebenfalls abgeschlossen gewesen, das Sichtfensterchen stand jedoch offen â und im Inneren der kleinen Kammer sah das Mädchen ein Brett, an dem noch zahlreiche Schlüssel hingen. Die meisten davon waren große, einfache Zimmerschlüssel, wie sie selbst einen erhalten hatte, aber da hing auch ein großer Bund mit mehreren Sicherheitsschlüsseln, der verdächtig nach der Reserve des Clubs aussah.
Vorsichtig schob das Mädchen das Fensterchen auf, das sich in der Sichtscheibe des kleinen Raumes befand. Es war bei weitem zu klein, als daß sie hätte hindurchsteigen können, doch ihr Arm paßte hindurch. Tsukune steckte den Arm hindurch, streckte die Finger aus â und mußte abermals einen Fluch unterdrücken: Mindestens zwanzig Zentimeter fehlten bis zum Schlüsselbrett; sogar noch mehr bis zu dem großen Bund, an den sie hatte herankommen wollen.
Da erinnerte sie sich daran, was sie im großen Hauptzimmer des Nachtclubs gesehen hatte, huschte hinüber und kam kurz darauf mit dem herausgeschraubten Stiel des Besens dort zurück. Vorsichtig schob sie den langen Holzstab durch das Fensterchen, angelte mit dem Ende nach dem Schlüsselbund â und endlich hatte sie einmal Glück: Der Ring, an dem die Schlüssel hingen, rutschte schon im ersten Anlauf über den Besenstiel, und sie konnte ihn wieder einholen. Zufrieden besah sie ihre Beute: sicher zehn verschiedene Sicherheitsschlüssel waren an dem Bund befestigt. Damit sollte sie überall hinkommen.
Als erstes probierte sie aus, welcher der Schlüssel zur Eingangstüre paßte, ließ sie aber noch verschlossen, um kein Risiko egal welcher Art einzugehen. Danach machte sie sich im Erdgeschoß auf die Suche nach einem Kelllerzugang. Sie sperrte mehrere Türen auf, die im Hauptraum des Clubs waren und entdeckte die Küche, einen Lagerraum, eine Art Garderobe und eine Abstellkammer, aber nirgends fand sich eine weitere Treppe, die nach unten hätte führen können. Hatte Hikari in diesem Punkt doch gelogen?
Nur um wirklich alle Möglichkeiten probiert zu haben, öffnete Tsukune noch den kleinen âEmpfangâ des Clubs, wo sie den Schlüsselbund her hatte. Natürlich gab es auch da keine weiteren Türen. Das Mädchen trat zur Sicherheit in den abgetrennten Raum hinein, sah sich noch einmal um â und dann, beim Hinausgehen bemerkte sie das verdächtige Knarren unter ihrem Fuß. Ein genauerer Blick, ein zurückgeschlagener Teppich â und da war eine Falltür im Boden! Ebenfalls abgeschlossen, aber auch hierfür fand sich ein Schlüssel am Bund.
Eine offenbar nachträglich angebaute Klapptreppe aus Aluminium führte weiter nach unten, nachdem die Schülerin sehr vorsichtig die Falltür aus beschlagenem Holz aufgezogen hatte. Vorsichtige Schritte hinab brachten sie in einen fahl mit Neonröhren beleuchteten, reinweiß getünchten, überraschend hohen Gang â deutlich über drei Meter Höhe. Hinter ihr endete der Gang an einer großen Maschine, die wahrscheinlich ein Generator war, vor ihr waren es noch etwa vier Schritt, ehe eine große Glastüre den Durchgang wieder versperrte. Eine sehr viel einfachere Metalltüre war auf halbem Weg an der linken Seite in der Wand â sie hatte nur ein ganz gewöhnliches Schloß; nichts zu dem der Schlüsselbund gepaßt hätte. Also ging es wohl geradeaus durch die Glastüre weiter.
Die Schülerin schritt geradewegs drauf zu und erschrak kurz, als die Treppe wieder nach oben klappte, als sie von ihr herabgestiegen war, doch der Rückweg würde trotzdem kein Problem sein â ein Zugseil ermöglichte es, die Stufen herabzuholen, wann immer man wollte. Eigentlich logisch â wie sollte Azakusa sonst auch wieder hinauf kommen, wenn er hier unten ein Labor hatte? Tsukune wandte sich wieder der Türe zur, nahm den Schlüsselbund zur Hand â und ließ ihn im selben Moment wieder sinken, weil sie da den Schloßmechanismus bemerkt hatte: Hier brauchte man keinen Schlüssel, sondern eine Art Magnetkarte, und das Mädchen bezweifelte, daß ihre Geldkarte von der Bank hier passen würde.
Tsukune starrte durch das Glas. Von der anderen Seite war kein Kartenleser zu erkennen, dafür aber ein Druckknopf an der Wand. Konnte sie ihn irgendwie erreichen? Sie blickte auf. Oben war ein kleines Kippfenster in der Türe, das offen stand, aber es war zu hoch, um es ohne weiteres zu erreichen. Der Besenstiel von vorhin würde sicher lang genug sein, um an den Druckknopf zu kommen, aber wie brachte sie ihn oben durch das Kippfenster? Einer der Stühle von oben? Das Mädchen schätzte die Höhe ab. Sie selbst einssechzig, mit Armen einsneunzig, der Stuhl noch fünfzig Zentimeter â nein, das reichte nicht. Gab es sonst noch etwas Höheres, auf das sie steigen konnte?
Und da fiel ihr ein, daß um halb sieben jemand kam, der ihr helfen konnte.
Miko.
Ein Blick auf ihr Handy â es war bereits dreiviertel sechs. Kein Wunder. Es war frühestens halb fünf gewesen, als sie mit ihrer Durchsuchung begonnen hatte. Das Stöbern nach dem Schlüssel, die Suche nach dem Keller â all das hatte ganz schön Zeit in Anspruch genommen. In einer Dreiviertelstunde kam Miko mit dem Taxi. Wie lange wartete wohl ein Taxifahrer, ehe er nach dem Rechten sehen ging oder, noch schlimmer, die Polizei rief? Miko würde ihn schon vorher über die Verzögerung informieren müssen. Zwei Tastendrücke auf dem Handy und Tsukune wurde mit ihrer Freundin verbunden.
Es dauerte keine zehn Sekunden, ehe Miko sich meldete: âTsukune, alles in Ordnung?â Sie klang nicht so, als hätte sie noch geschlafen â kein Wunder.
âNicht ganzâ, antwortete Tsukune vorsichtig. âIch denke, ich weiß, wo Hitomi ist, aber ich komme ohne deine Hilfe nicht hin. Du mußt mit mir ins Haus kommen.â
âUm Himmels Willenâ, drang das entsetzte Wispern des Mädchens aus dem Telefon. âDas schaff ich nicht!â
Etwas gereizt kauerte sich die Schülerin im Gang zusammen. âHör malâ, zischte sie ins Telefon, âdu hättest sowieso mit reinkommen müssen, weil zwischen Hitomi und dem Ausgang eine Treppe ist. Wenn Hitomi nicht alleine laufen kann, mußt du helfen, sie zu tragen. Also kannst du mir auch vorher zur Hand gehen. Vor allem aber mußt du dem Taxifahrer sagen, daß es etwas dauern kann, bis wir rauskommen. Sag ihm, ich packe noch meine Sachen zusammen, ja?â
âNa... na gutâ, kam vom anderen Ende der Leitung zurück. âAber keine Risiken, ja? Wenn wir Hitomi nicht finden halten wir uns nicht noch mit Spurensuche auf, versprochen?â
âVersprochen.â Tsukune lächelte. âTapfere Miko. Ich bin froh, daß du meine Freundin bist.â
Es kam keine Antwort mehr, nur noch das Klicken in der Leitung, als Miko einhängte. Tsukune schaltete ihr Telefon aus, stand auf, holte die Klapptreppe herunter und stieg nach oben, um an der Eingangstüre auf ihre Freundin zu warten.
Die Minuten verstrichen, und jetzt erst merkte Tsukune, wie entsetzlich müde sie eigentlich war. Die ganze Nacht über hatte die Anspannung, vielleicht entdeckt zu werden und zu scheitern, sie recht effektiv wach gehalten. Aber jetzt, wo der Morgen hereinbrach, merkte sie doch, wie sich die Schwere in ihre Knochen schlich. Nur noch eine Stunde! schalt sie sich selbst. Nur noch eine Stunde, dann war sie heil mit Hitomi und Miko aus dem 'Yamato' heraus und sie konnte schlafen, solange sie wollte.
Um drei Minuten vor halb sieben schloß Tsukune die Vordertüre des Nachtclubs auf und spähte hinaus. Der Hafen lag ruhig und dunkel vor ihr; der Geruch von Öl und Salzwasser lag in der Luft. In diesem Moment sah die Schülerin, wie das Taxi herankam, und sie schloß die Türe schnell wieder, damit der Taxifahrer nicht mißtrauisch wurde. Einige Momente... das Taxi mußte jetzt halten... und dann wurde die Türe langsam geöffnet und Miko trat hinein. âHey, du hast ja tatsächlich alles aufgeschlossen!â staunte sie.
âWas dachtest du denn?â Die Schülerin war einen Moment beleidigt, faßte sich aber sofort wieder. âSei leise und komm mitâ, wisperte sie und drückte Miko den Besenstiel in die Hand. âDas da brauchen wir.â
Leise schlichen die beiden Freundinnen hinab in den Kellergang. âDas da ist esâ, flüsterte Tsukune und deutete auf den Schalter hinter der Glastür. âDen müssen wir drücken. Mit dem Besenstiel geht es oben durchs Fenster. Du steigst auf meine Schultern.â Mit diesen Worten machte sie einen Buckel.
Indem sie sich an der Scheibe abstützte, stieg das andere Mädchen auf die Schultern ihrer Freundin, den Besenstiel dabei fest umklammert. Einen Moment wackelte sie hin und her, während sich Tsukune ächzend aufrichtete, aber dann stand sie sicher, eine Hand nun an die linke Wand gedrückt. Sie fädelte den langen Holzstab durch das gekippt offene Fenster, zielte wie eine Billardspielerin auf den Schalter an der Wand â und traf! Ein lauter Brummton ertönte von der Tür, und ein Licht ging über dem Schalter an.
So schnell wie möglich rutschte Miko wieder vom Rücken ihrer Freundin, und kaum war sie unten drückte die gegen die Glastüre, die mit einem Klacken aufging. Der Brummton verstummte. Sie waren durch. Tsukune klemmte die Tür im offenen Zustand mit Sakuras Handtasche fest â besser keine Zeit auf dem Rückweg verlieren â dann gingen beide den Gang weiter.
Es war nicht wirklich schwer, nun noch den Weg zu finden, denn hier hinten gab es nur noch eine weitere Türe. Es handelte sich um eine Eisentüre ähnlich der, die seitlich im Gang war, aber diesmal hatte sie ein reguläres Sicherheitsschloß. Vor allem aber gab es nahe des Bodens etwas, das wie eine Katzenklappe aussah â wahrscheinlich eine Durchreiche. Auch an ihr war ein kleineres Schloß angebracht; trotzdem galt Tsukunes ganze Aufmerksamkeit natürlich nur dem Riegel, der die Türe im Ganzen geschlossen hielt. Sie ging ihren Schlüsselbund durch, um herauszufinden, welcher wohl hier der richtige war...
...als hinter den Mädchen eine sanfte, aber eindringliche männliche Stimme sagte: âIch glaube nicht, daß einer von denen paßt.â
Entsetzt fuhren die Freundinnen herum. Im Gang stand ein hochgewachsener, schlanker älterer Mann, der nur aus der einen Seitentüre mit dem einfachen Schloß gekommen sein konnte. Er hatte deutlich über schulterlanges, schlohweißes Haar und einen ebenso weißen, glatten Vollbart, der unten in eine kleine Spitze auslief. Eine bläulich getönte Brille mit sehr großen Gläsern saß auf seiner Nase, und ein langer, weißer Laborkittel war sein einziges sichtbares Kleidungsstück neben seinen Hausschuhen, die als einziges nicht zu seiner sonstigen Erscheinung paßten. Der Mann zog aus einer Tasche seines Kittels einen Ring hervor, an dem eine Magnetkarte und ein einzelner Schlüssel hingen. âDas hierâ, sagte er, âist der richtige.â
âAzakusaâ, keuchte Tsukune.
âRichtigâ, sagte der Mann. âUnd du bist Tsukune Futokoro von der 'Generation XXX'.â
In diesem Moment drehte Miko durch.
Das Mädchen war nie besonders mutig gewesen. Im Fernsehen sah sie sich niemals Krimis an, weil sie die Spannung nicht ertragen konnte, ob der heldenhafte Detektiv am Ende nicht doch der raffinierten Falle erlag, welche die teuflischen Verbrecher für ihn aufgestellt hatten. Wenn es einen Alptraum in ihrem Leben gab, dann der, einmal selbst der Detektiv zu sein und höchstpersönlich in die Falle der Verbrecher zu gehen. Und obwohl das hier keine solche Situation war, weil Azakusa keine Ahnung von ihrer Anwesenheit gehabt hatte, bis die beiden Freundinnen die Glastüre geöffnet und damit den lauten Türsummer aktiviert hatten, entsprach ihre Lage sehr genau dem Bild des Alptraums.
Mit einem wahren Berserkerschrei jagte sie auf den Mann im weißen Laborkittel los und war absolut fest dazu entschlossen, ihn kurzerhand über den Haufen zu rennen. Sie mochte nur eine ängstliche kleine Maus sein, aber selbst Mäuse versuchen zu beißen, wenn man sie in die Enge treibt.
Azakusa fing Mikos Ansturm sanft mit einem Arm ab, ihr Schrei wurde zu einem überraschten Aufstöhnen, und der Arzt ließ sie fast ohne Kraftaufwand an sich abtropfen und zu Boden gleiten. Sie sank in sich zusammen, ihre Beine versagten ihr den Dienst und ein lautes Plätschern ertönte, als das Mädchen, offensichtlich aller Aggression beraubt, sich plötzlich in ihr Höschen machte... nur daß das nicht der Fall war: In plötzlicher höchster Erregung lief die kleine Spalte zwischen ihren Beinen kurzerhand aus.
Tsukune, mit den Besonderheiten ihrer Freundin vertraut, sah sie verblüfft an; ein Blick, den der hochgewachsene Mann sehr gut bemerkt hatte. âKeine Sorgeâ, sagte er in seiner sanften, aber durchdringenden Stimme, âihr ist nichts passiert. Ich bezweifle nur, daß sie so schnell wieder auf die Beine kommt. Bei dir würde ich mir die Behandlung gerne ersparen â ich denke, es wird für uns beide unangenehm, wenn ich dich durch die Gegend rollen muß. Wärst du also so lieb und machst mir keine...â
In diesem Moment traf ihn etwas, gegen das ein Wasserwerfer wie ein Gartenschlauch wirkte.
Miko.
Mit letzter Kraft hatte es das Mädchen geschafft, sich gegen die Wand zu lehnen und ihr Becken hochzudrücken. Ihr ihrem Zustand hatte eine einzige Berührung ihres heißen Liebesknöpfchen ausgereicht, um sie zu einer der gewaltigsten Explosionen ihres jungen Lebens zu treiben. Und mit aller Willenskraft, die ihre Panik ihr verlieh, jagte Miko den Ansturm der Gefühle in ihren Bauch hinein, wo ihr Körper das tat, was er in solchen Situationen immer tat: Flüssigkeit produzieren.
Die Wucht des plötzlichen Wasserstoßes war so immens, daß Azakusa von den Beinen gerissen wurde. Er flog meterweit den Gang zurück und krachte, von oben bis unten durchnäßt, mit dem Rücken gegen den Generator, wo er abprallte und keuchend vorüberfiel. Seine Brille purzelte von der Nase und zerbrach. Noch hatte er das Bewußtsein nicht verloren, doch er war mehr als nur benommen, und sein erster Versuch, sich mit den Armen gleich wieder hochzustemmen, scheiterte kläglich.
Tsukune sah ihre Chance. Sie packte Miko, zog sie gewaltsam auf die Beine, legte sich ihren Arm um den Nacken und stolperte vorwärts zur Klapptreppe. Ihren Berserkerschrei vorhin konnte man oben im Haus nicht überhört haben; es waren nur Minuten, vielleicht nur Sekunden, ehe Azakusa Hilfe bekam. Der Arzt krabbelte indessen vorwärts, immer noch bemüht, irgendwie hochzukommen. Er hatte den kürzeren Weg, doch die beiden Mädchen waren einen Meter vor ihm am Zugseil der Treppe, und mit der einen freien Hand zerrte Tsukune daran, so daß das Aluminiumgestell herunterkam.
âNein...â keuchte Azakusa, griff nach der herunterklappenden Treppe, doch Tsukune trat ihm auf die Hand, was leider nur geringen Effekt hatte, da Sakuras Stöckelschuhe noch oben in ihrem Zimmer lagen. Es reichte allerdings, daß der Arzt seine Hand zurückzog und nun versuchte, sich an der Wand hochzuschieben, die Augen fest auf die beiden fliehenden Mädchen gerichtet. Die Schülerin warf einen letzten kurzen Blick zu ihm herunter und bemerkte, daß er bei seinem âAbflugâ eben nicht nur seine Brille verloren hatte.
Auch sein Bart war ab. Sein falscher Bart.
Tsukune registrierte es, aber ihr Überlebensinstinkt war im Moment stärker als die Überraschung. Sie riß sich von dem Anblick los und zerrte Miko weiter die Treppe hinauf, Stufe für Stufe. Allmählich faßte ihre Freundin wieder Tritt, und als sie oben ankamen, konnte sie fast schon alleine laufen. Die Mädchen hörten auf der Treppe von oben Schritte, aber sie waren ja schon so gut wie an der Eingangstüre, und die war schnell aufgestoßen, und draußen wartete das Taxi, und die beiden fielen förmlich hinein, und der Fahrer sah nur einmal über seine Schulter zu seiner neuen Mitfahrerin. âIst ja ein wirklich mieses Viertelâ, meinte er trocken beim Anblick der unbeschuhten, schwer atmenden, überaus nuttig geschminkten Schülerin und gab Gas.
Erst als sie schon fünf Minuten unterwegs waren, drang das Gesicht Azakusas wieder in Tsukunes Bewußtsein vor. Das Gesicht, dessen schmale, fast hübsche Linien sie ohne Bart und ohne Brille fast augenblicklich wiedererkannt hatte, obwohl sie es zuletzt vor über einem halben Jahr gesehen hatte.
Das Gesicht Toshis.