[Biete] Letzte Gedanken an Verganges

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Letzte Gedanken an Vergangenes
Keine Ahnung, wohin es geht. Aber es ist auch nicht weiter von Interesse, da mich mein Weg zwangsläufig irgendwohin führen wird. Ein immer währender Kreislauf, etwas total unvermeidliches, ganz natürlich. Deshalb brauche ich mir keine Sorgen darüber zu machen. Ich strebe ohnehin nichts mehr Bestimmtes an.
Vor einiger Zeit war das noch anders gewesen. Ich habe mich für meinen Traum von einem friedvollem Leben ohne große Schärereien verbogen, aufgegeben und meine Selle verkauft und merkte dabei nicht einmal, wie dieser Traum an Glanz verlor und immer weiter in den Hintergrund rückte. Als ich endlich erwachte und sah, wovor ich stand, war es fast zu spät…
Doch all das ist nun egal.
Während die Lichter der Städte für einen Wimpernschlag auftauchen und wieder verschwinden, rauscht der Zug ungehindert dahin und ich fühle zum ersten Mal seit Ewigkeiten, wie mich das Leben durchströmt. Es ist ein befreiendes Gefühl.
Die Sitze des Zuges riechen muffig und fühlen sich verfilzt an, die Scheiben sind so stark verschmutzt, dass man gerne auf das Hinaussehen verzichtet, aber genau diese Sachen sind es, die mir die Gewissheit geben, hier zu sein.
Ich kann gar nicht so genau sagen, wann ich auf den Bahnhof getreten bin und wie lange ich nun schon unterwegs bin. Es war an einem kalten Wintermorgen gewesen, die Sonne ging gerade hinter den neuen Schneewolken auf, als ich am Bahnhof den nächstbesten Zug nahm. Ich habe nichts mitgenommen. Doch es können nur wenige Tage vergangen sein. Die Wunde an meinem Arm trägt noch dicken und festen Schorf.
Ich lehne mich gegen die Scheibe und schließe die Augen. Es ist unglaublich, wie sehr man sich an solch einem fremden Ort doch geborgen fühlen kann. Aber das ist nun mein Weg. Und ich habe ihn frei gewählt…
Es gab nicht nur einen Grund, wieso ich diese Entscheidung für mich getroffen habe. Es war in den letzten Tagen meiner Anwesenheit so vieles passiert, dass diese Erkenntnis wie eine ganz natürliche Folge dessen erscheint. Aber es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass die Erinnerung daran nicht schmerzt…
Angefangen hatte es damit, dass meine ach-so-beste Freundin Lügen darüber verbreitete, dass ich mit jedem Typen schlafen würde, der sich dafür finden lies und auch schon versucht hätte, mich an ihren Freund ranzuschmeißen. Ausgerechnet der Mensch, dem ich am meisten vertraute und liebte, behauptete so etwas über mich. Als ich davon erfuhr hätte man mir genauso ein Messer durch die Brust jagen können. Ich erinnere mich daran, wie ich mit ihr über alles redete, was mir auf der Zunge lag. Über den ersten Jungen, in den ich mich verliebt hatte, bis hin zum ersten Mal und darüber hinaus.
Und wir machten jeden Scheiß zusammen. Meistens war sie es gewesen, die Probleme anzog. So war sie diejenige gewesen, die aus Langeweile ein Päckchen Kaugummis im Supermarkt mitgehen lies. Als sie dabei erwischt wurde, war ich noch so dumm gewesen und hatte die Schuld auf mich genommen. Weil ich dachte, wir wären wirklich Freundinnen. Und auch wenn es bereits fünf Jahre her ist, so dachte ich, dass eben diese Sachen die Dinge seien, die uns miteinander verbinden würden.
Wieso gibt es solche Leute? Was bewegt die Leute dazu, solche Dinge über andere zu behaupten, ganz gleich, in welcher Beziehung sie mit dieser Person stehen?
Aber das ist jetzt nicht mehr von Interesse. Ich bin gegangen. Ich bin jetzt hier. Das bedeutet, ich habe keine Sorgen mehr. Ich bin auf dem Weg in ein neues Leben. Ein Leben nach all diesem. Und dieser Zug wird mich dorthin bringen. So wie all die anderen Insassen. Und doch bleibt einzig die Erinnerung, die Erinnerung daran, was mich hier hergebracht hat...
Freund für Freund war gegangen. Alle glaubten lieber den Worten einer Lügnerin, anstatt mir. Derjenigen, die Tag und Nacht ein offenes Ohr hatte, die sich um die Probleme anderer kümmerte und sogar so dumm war, ihnen Geld zu leihen, dass garantiert nie zurück gezahlt wurde. Und das nur, weil sonst das Bild einer guten Freundschaft zerstört worden wäre.
Wieso hatten sie lieber eine Lügnerin geglaubt? Weil diese einige fand, die mitzogen. Leute, die nicht fähig waren, ihr eigenes Urteil zu bilden. Freunde, die ich ohnehin nie als Freunde betrachtet hatte, da sie zu allem „Ja und Amen“ sagten, aber nie ihre eigene Meinung aussprachen. Die Art von Menschen, denen man nie trauen kann und die niemals wahre Freunde sind. Vielleicht ist das etwas von oben herab gedacht, vielleicht etwas zu engstirnig und vielleicht verurteile ich diese Leute viel zu schnell, aber genau in diesem Moment hat sich meine Denkweise als berechtigt heraus gestellt. Aber vor allem mochte ich diese Leute nicht, da sie mir so ähnlich waren…
Es war dann nicht mehr weit bis zu dem Punkt gewesen, an dem mir mein Chef sagte, dass ich zwar gute Arbeit leisten würde, aber unter diesen Umständen nicht mehr zu halten sei. Schließlich würde es ein schlechtes Bild auf das kleine Familienunternehmen werfen, in dem ich als Altenpflegerin tätig war…
Ich erinnere mich, wie ich mal einen halb toten Vogel am Straßenrand fand. Er tat mir so leid, dass ich ihn zum Tierarzt brachte, doch dort konnte man nichts mehr für ihn tun. Genau das gleiche Gefühl hatte mich beschlichen, als mich meine letzte Freundin im Stich lies. Es war etwas aus Nicht-Verstehen und Wut aus Schmerz gewesen. Ich hatte diesen kleinen Vogel nicht gekannt, aber war es doch recht eindeutig, dass jemand einen Stein nach ihm geworfen und ihn getroffen hatte. Genau diese Ungerechtigkeit war es, die ich nicht verstand.
Die Kündigung hatte mir den Rest gegeben. Ich war nicht erst nach Hause gegangen, ich war in den Wald gerannt, um mir Luft zu machen. Ich muss Stundenlang gelaufen sein, bis vor Erschöpfung meine Beine nachgaben und ich mir im Fallen den Arm aufriss. Das war der Moment gewesen, in dem ich beschloss, zu gehen.
Die Bremsen des Zuges quietschen laut, als er langsam und ruckelnd zum Stehen kommt. Eine ruhige, männliche Stimme aus dem Lautsprecher verkündet, dass wir an der Endstation angekommen sind.
Ich erhebe mich und strecke mich erst einmal, um meine verspannten Glieder wieder auf Vordermann zu bringen.
Ich habe nicht lebe wohl gesagt. Und ich werde es auch nicht tun. Ich bin einfach gegangen. Ohne Ziel, nur mit den Sachen, die ich anhatte und meiner Geldbörse. Und der Erinnerung. Auch werde ich nicht nachträglich lebe wohl sagen. Denn ich bin mir sicher, diejenigen, die vielleicht doch noch im Herzen zu mir gehalten haben, diejenigen, die wirklich meine Freunde waren, die werden auch diejenigen sein, die mir eines Tages mit einem Lächeln über den Weg laufen werden.
Ich fühle mich richtig gut. Endlich habe ich all diese Scheiße hinter mir gelassen. Endlich habe ich die Möglichkeit, von vorne anzufangen. Als ich aus dem Zug trete, überkommt mich ein Glücksgefühl. Das hier war der richtige Weg. Auch wenn das bedeutet hat, dass ich mich vor den nächsten Zug schmeißen musste. Jetzt bin ich frei. Auf dem Weg in ein neues Leben. Ich bin durch die Tür nach draußen gegangen und werde mich nicht mehr umdrehen. Und doch danke ich für die guten Erinnerungen, die ich empfangen durfte.
Ich gehe mit einem Lächeln in mein neues Leben...



Und auch wenn das meine letzten Worte für euch waren, so sage ich ebenfalls nicht lebe wohl, denn die Leute, die hier meine Freunde waren, sehe ich wieder. Wir sehen uns in der Hölle.
 
Zuletzt bearbeitet:
Oben