[Biete] Medaillon - OneShot

Cheet4h

Novize
Kurz vorweg:
Diese Geschichte stammt nicht aus meiner Tastatur, sondern aus der meiner Freundin. Da sie allerdings vor allem auf unbegründete und unsachliche Kritik allergisch reagiert und fürchtet, dass sie in öffentlichen Foren viel davon erhält, poste ich die für sie und bereite dann das Feedback für sie auf.
Bedeutet: Feedback erwünscht, alles begründete erreicht auch die Autorin.

Diskussionsthread

und jetzt zur Geschichte:

Medaillon

[Eine Einwortgeschichte von Hakubyou.]​

„Warum ist sie damals fortgegangen?“
„Ich weiß es nicht.“

Keuchend hastete sie über den gefrorenen Rasen, vorbei an Pflanzen, die mit weißem Raureif überzogen waren, vorbei an erstarrten Blumen, verwelkten, eisigen Kränzen und Unmengen verwitterter steinerner Blöcke, einer wie der andere: kalt und unbeweglich, ein ewiges Zeugnis für die Nachwelt. Es war totenstill, nur durchbrochen durch das regelmäßige Knirschen von Schnee und Eis unter ihren Stiefeln und den gelegentlichen heiseren Ruf einer Krähe, die über dem Gelände ihre einsamen Kreise zog.

Unverständnis lag in ihrem Blick. „Aber ihr wart doch-“
„Ja Herrgott wir waren verheiratet! Wir haben uns geliebt! Aber das hat sie nicht davon abgehalten.“

Unter ihrem schwarz-weiß karierten Wintermantel konnte sie es spüren, wie es bei jeder Bewegung gegen ihren Brustkorb gedrückt wurde. Es war vollkommen ausgekühlt und trug schon lange nichts mehr von der Wärme in sich, die es einst besessen hatte. Mit seiner ehemaligen Besitzerin schien auch seine Seele verschwunden zu sein. Wie ein schwerer Fels fühlte es sich nun an, der sie zu Boden zu ziehen drohte – es raubte ihr fast den Atem.

„Und du hast nie versucht, sie zu finden? Nicht ein einziges Mal?“
„Wo hätte ich denn bitte anfangen sollen mit der Suche? Bei dem freundlichen Drogendealer um die Ecke vielleicht? Oder dem radikalen Greenpeace-Aktivisten von nebenan?“

Im Laufen erhob sie ihre rechte Hand zu ihrer Brust, zog den Reißverschluss des Mantels ein wenig auf und ließ das große goldene Medaillon herausrutschen, das an einer feingliedrigen alten Kette um ihren Hals hing. Sie beobachtete für einige Augenblick, wie es in einer gleichförmigen Bewegung von links nach rechts vor ihrem Oberkörper zu pendeln begann, bevor sie die Faust eng darum verschloss und es so fest an sich presste, dass sie für einen Moment Angst hatte, es könnte zerbrechen. So viel Hass und Liebe zugleich verband sie mit diesem Gegenstand, dass er eigentlich hätte entzweibersten müssen, doch er lag nur ruhig in ihrer Hand, glänzend und unschuldig beinahe, wenn man den schwachen dunkelgrauen Schmutzfilm nicht beachtete, der sich im Laufe der Jahre auf dem brüchig wirkenden Material gebildet hatte.

„Was ist mit der Polizei? Hast du denn gar nichts getan? Hast du nur dagesessen und zugesehen, wie sie-“
Er schnaubte verächtlich. „Die Polizei hätte nichts tun können. Genau so wenig, wie ich es gekonnt hätte. Sie ist damals in Kreise geraten, von denen niemand öffentlich zu sprechen wagt. Jedenfalls niemand, der noch bei Verstand ist.“

Ihre Füße wurden schneller, als sie das Ende der schier endlosen Gräberreihen näherkommen sah. Je weiter sie sich vom Eingang des Friedhofs entfernt hatte, desto unwirtlicher und ungepflegter war ihr die Anlage erschienen. Weiter vorne, wo die Reichen und Schönen ihre letzten Ruhestätten hatten, gab es rechtwinklige, saubere Wege, gesäumt von ordentlichen, fast allzu symmetrisch wirkenden Büschen und Bäumen und makellose, in der Sonne funkelnde Grabplatten aus poliertem Marmor. Hier hinten jedoch, wo diejenigen ruhten, die niemand kannte oder die niemandem etwas bedeutet hatten, sah es aus wie auf einem grotesken Gemälde, das man Kindern zeigen konnte, um ihnen Angst einzujagen. Knorrige, zum Teil zerstörte oder tote Bäume wuchsen so verstreut in der Gegend, wie ihre Früchte und Samen im Herbst wohl gefallen sein mochten. Der Grund war von zentimeterhohen, rauen Gräsern und Unkraut bedeckt und wirkte vollkommen verwildert. Ranken und andere Gewächse wuchterten unberührt vor sich hin, überwuchsen Gräber und ehemalige Wege und verdeckten alles unter einer klirrend kalten, dichten Schicht aus Blattwerk und Frost. Niemand scherte sich darum, wie es hier hinten aussah; hier lag schließlich niemand von Wert. Für die meisten jedenfalls.

Sie zögerte, formte dann jedoch mit ihren Lippen leise den alles entscheidenen Satz. „Wie ist sie gestorben?“
Als er ihr nach einer kurzen Stille antwortete, lag Resignation in seiner Stimme. „Selbstmord. Aber natürlich nicht, ohne gleichzeitig auch den damaligen Präsidenten mit ins Grab zu ziehen.“
Ihre Augen weiteten sich.

Abrupt kam sie zum Stillstand und drohte, auf dem glatten Untergrund auszurutschen, konnte sich jedoch noch fangen. Das Grab lag vor ihr. Geradezu ehrfüchtig trat sie nun langsamen Schrittes heran, bückte sich zu der alten, verwitterten Platte am Boden hinunter, streckte eine Hand aus und schob behutsam ein paar Pflanzenranken beiseite, die vom nächtlichen Eishauch steifgefroren waren. Sie fröstelte, als sie den kalten, rauen Stein berührte, um auch die dünne Schneeschicht, die sich darauf gebildet hatte, fortzuwischen. Es war als berühre sie ein Stück Vergangenheit, das fälschlicherweise in die Zukunft gelangt war und gar nicht hierher gehörte.
Die Inschrift war kaum noch zu lesen. Es stand ein anderer Name darauf, als sie erwartet hatte; nicht der, den sie kannte, sondern einer, der vielleicht ihr richtiger gewesen war, damals, bevor alles angefangen hatte.

„Das war sie? Sie war diejenige, die sie als Staatsfeind Nummer Eins deklariert haben und überall gesucht? All die Berichte im Fersehen, in den Zeitungen…“
Er nickte und sah ihr direkt in die Augen. „Das war sie. Deine Mutter.“

Eine einzelne Tränne löste sich aus ihrem rechten Auge, rann in einer warmen Spur ihre kühle Wange hinunter und hinterließ einen winzigen dunklen Fleck auf dem ersten Zeichen des Todestages.
Sie hatte sie nie richtig gekannt; sie war gegangen, als sie noch sehr klein gewesen war. Dennoch fühlte sie sich ihr näher denn je – hier an diesem Grab, das zwar nicht ihre Überreste beherrbergte, ihr aber wenigstens ein Denkmal setzte, um sich ihrer erinnern zu können, selbst wenn nur sie, ihre Tochter allein, dies tat. Sie hatte nichts sonst, was sie mit ihr verband. Nur dieses Grab und das Medaillon.
Vorsichtig öffnete sie die von der Kälte starr gewordene Hand, die noch immer den goldenen Anhänger umfasste, und musterte ihn kurz, bevor sie sich sachte daran machte, ihn das erste Mal zu öffnen, seit ihr Vater ihn ihr übergeben hatte. Ein leises Klicken war zu hören, als sie sanft die Seite des Medaillons drückte und es einige Millimeter weit aufsprang. Ihre Finger begannen zu zittern, vielleicht vor Aufregung, vielleicht von der kühlen Winterluft, doch sie zögerte nicht und klappte es mit angespanntem Körper auf.

„Aber das Schlimmste war irgendwann gar nicht mehr, dass sie fortgegangen war.“, sagte er schließlich nach einer langen Schweigeperiode. „Ich hatte ja dich. In dir lebte sie weiter. Und als du dann größer geworden bist und schließlich erwachsen, da musste ich immer an sie denken, wenn ich dich angesehen habe. Immerzu. Irgendwann musste ich es dir einfach sagen…“

Ein kleines Lächeln zog ihre Mundwinkel nach oben. Sie sah ihr ähnlich.
 
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