Wie bereits angesprochen veröffentliche ich heute die erste Episode meiner Reihe "The Real Pokémon". Es gibt viel Interessantes zu entdecken, also lasst euch überraschen.
Episode 1: Trainer wider Willen
Ende der ersten Episode. Sagt mir, was ihr davon haltet, gebt Verbesserungsvorschläge oder ergießt eure philosophischen Gedanken über mich.
Episode 1: Trainer wider Willen
Die Geschichte begann in einem kleinen Ort namens Luftstadt. Das verschlafene Städtchen lag auf einer Halbinsel im Süden des Landes Areas, weitab von den Großstädten des Inlandes. Luftstadt besaß durch seine alten Häuser und durch das warmen Klima, das man an den weiten Stränden genießen konnte, eine ungemeine Anziehungskraft auf Touristen aus dem ganzen Land und von außerhalb. Doch wenn nicht gerade Sommer war verirrte sich selten jemand dorthin.
Nur wenige Meter hinter der nördlichen Stadtgrenze erstreckte sich der riesige Kriechwald. Die einzige befestigte Straße ins Landesinnere führte durch ihn hindurch, aber nur wenige verließen die Stadt. Es schien als sei jeder glücklich mit seinem Leben hier, Menschen und Pokémon.
Seit Tagen erstrahlte die Sonne ungehindert vom Himmel. Trotzdem konnte man die Temperaturen weder kühl noch warm nennen, allenfalls allenfalls mittelmäßig mit Höchstgraden von zwanzig Grad. Der Sommer ging allmählich zu Ende, die Touristen zogen sich gemächlich zurück, die ersten Blätter verfärbten sich schon.
Und inmitten dieser Idylle lebte William Sutton, der von jedem nur Will genannt wurde. Will war Vierundzwanzig Jahre alt und gehörte wohl zu den Menschen, die man als große Verlierer des Lebens bezeichnen konnte. Er lebte in einer kleinen Wohnung neben dem Pokémon-Markt. Die Wohnung war nichts großartiges, nur ausgestattet mit dem, was er zum Überleben nötig hatte. Allein um dieses schäbige Nest, das er sein Zuhause nannte, bezahlen zu können, nahm er öfters kleinere Aushilfsjobs an, während der Hochsaison meistens am Strand, weil dort das meiste Trinkgeld zu holen war.
Es war Samstag, ein üblicher Samstagnachmittag. Wie jede Woche um diese Zeit öffnete Will blinzelnd seine Augen. Er wälzte sich langsam herum, um auf dem Rücken zu liegen und kramte in seiner Hosentasche auf der Suche nach einer Zigarettenschachtel. Das einzige was er fand, war eine lose und geknickte Zigarette. Er begradigte sie etwas und steckte sie sich in den Mundwinkel, dann zündete er sie an. Nach dem ersten Zug hievte er seinen Körper an dem Sofa hoch, das unter dem Gewicht knirschte, und ließ sich dann darauf nieder. Durch die Gardinen drang fahles Licht, das schon ausreichte, um bei ihm Kopfschmerzen auszulösen. Dass er auf dem Boden zwischen seinem Sofa und einem großen, runden Fleck Erbrochenem geschlafen hatte, störte ihn mittlerweile nur noch wenig. Ihn störten nur noch die hämmernden Kopfschmerzen, dass er nicht mehr wusste wie viel Geld er für Drinks ausgegeben hatte und dieser kleien Fleck auf seinem Hemdärmel, der entweder Erbrochenes oder Blut war.
Langsam strich er mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare und kratzte sich am Hinterkopf. Er gähnte leise und dachte: „Das wird wieder einer dieser Tage, die sich so anfühlen, als würden sie ewig dauern.“ Dann stand er auf und verließ die Wohnung, beinahe fluchtartig. Im Flur lief er seiner Nachbarin über den Weg: eine stets freundliche ältere Dame, die auch alleine wohnte. Sie war zusammen mit ihrem Vulpix einkaufen gewesen. Sie grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und ihr Vulpix quiekte freudig. Will ging wortlos an ihnen vorbei, hinaus, mitten in das grelle Licht der Sonne. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um, das dröhnen in seinem Kopf wurde wieder stärker. Leise fluchend setzte er seinen Weg fort.
Will hatte nie viel mit Pokémon zu tun haben wollen, er ging ihnen sogar aus dem Weg. Als er zehn, elf Jahren alt gewesen war, sah das natürlich anders aus. Er spielte wie jedes andere Kind gerne mit den Pokémon und meldete sich bei der Trainerschule an, aber irgendwann änderte sich das. Heute mochte er sie nicht einmal mehr anfassen. Ihm fehlte jedes Verständnis dafür, warum Menschen so an ihren Pokémon hingen und sie als Freunde bezeichnen konnten.
Die erste Station war wie immer der Supermarkt. Will kaufte einen kleinen Snack, der erstmal den größten Hunger stillen würde, und ein Getränk. Danach ging er in die Spielhalle, der beste Ort, um einen hartnäckigen Kater auszukurieren. Zwar hatte er dort noch nie mehr als ein paar Münzen am Tag gewonnen, aber das gedämpfte Licht und die leisen Töne der Spielautomaten waren genau das, was ihm an diesem Ort gefiel. Zudem verspürte niemand das Bedürfnis sich mit ihm zu unterhalten, all diese stummen Zombies hockten vor ihren Automaten und hofften auf den großen Gewinn.
Will setzte sich vor seinen üblichen Automaten in einer dunklen Ecke und warf die erste Münze ein. Dort blieb er bis spät in der Nacht, warf Münze um Münze ein und stand nur auf, um sich etwas zu essen oder einen Drink zu kaufen. Gegen Mitternacht verließ Will die Spielhalle. Leicht schwankend nahm er den Weg durch den Park. Es war der kürzeste Weg und er lief nur selten Gefahr jemandem über den Weg zu laufen, der ihn kannte. Nur manchmal gingen Menschen an ihm vorbei, lachend oder sich in den Armen liegend.
Wills Eltern lebten schon seit drei Jahren nicht mehr, sie starben beide bei einem Autounfall. Sein Bruder hatte nach dem Unfall die Stadt verlassen, um ein besserer Trainer zu werden – das war wohl seine Art gewesen, um mit den Vorfällen klar zu kommen. Will verstand ihn noch nie, genau wie sein Bruder ihn nicht. Das war schon immer so gewesen, selbst als sie noch klein waren. Während Will schon Zuhause war und fernsah, nutze sein Bruder jeden Moment, um draußen bei den Pokémon zu sein und sie zu trainieren. Ihre Eltern waren immer diejenigen gewesen, die die beiden zusammengehalten hatten und dafür sorgten, dass auch Will manchmal etwas Zeit mit seinem Bruder verbrachte. Nun jedenfalls lebte sein Bruder am Kap des Glücks, trainierte Pokémon und schickte ihm jedes Jahr eine Karte. Und Will versank langsam aber sicher in grenzenloser Gleichgültigkeit.
Mit schleppenden Schritten trat Will vor die Tür, schloss sie auf und schob sich langsam hinein. Er sank in das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Während er den Nachrichten lauschte, zog er sich die Schuhe aus. Dann legte er sich längs auf das Sofa und fiel in einen tiefen Schlaf, während sich nur ein Gedanke in seinem Kopf umher wand: Es war kein gutes Leben, aber das beste, was man bekommen konnte, wenn man nicht dafür arbeiten wollte. In solchen Nächten sorgte er sich um nichts mehr, nciht einmal darum, das die Stromrechnung mal wieder viel zu hoch ausfallen würde, weil die ganze Nacht der Fernseher lief.
Der nächste Tag brach an und Will schreckte hoch. Schweiß stand auf seiner Stirn, die Augen waren geweitet. Hektisch wand er seinen Kopf nach rechts und nach links und sank dann urplötzlich wieder in das Sofa. Er zündete eine Zigarette an und starrte an die Decke. Ein Albtraum, nicht worüber er lange nachdenken sollte, aber trotzdem beschäftigte es ihn. Der Traum war seltsam und verwirrend, beinahe so als wolle er ihn vor irgendetwas warnen, das niemals passieren würde.
Nachdem Will den Albtraum abgeschüttelt hatte und die Zigarette am Ende war, richtete er sich auf, schaltete den Fernseher aus und verließ die Wohnung. Auf dem Flur traf er das Vulpix seiner Nachbarin, das ganz allein vor der Tür lag. Er blickte es nur kurz an und ging daran vorbei. Draußen empfing ihn wieder diese grässliche Sonne. "Scheiße." murmelte er.
An diesem Tag ging er ohne Umwege in die Spielhalle und hockte sich vor seinen Automaten. Er hatte keinen Hunger und auch kein Verlangen jetzt etwas zu trinken, er wollte nur spielen und sich entspannen. Gegen Abend hatte er sich von dem Albtraum erholt und schon einige Biere getrunken, was zusätzlich zur Hebung seiner Stimmung beitrug. Allmählich wurde es Zeit zu gehen, schließlich wollte er sich Morgen nach einem neuen Job umsehen. Ein letztes Mal wollte er noch das wohlige Gefühl verspüren, wenn sich die Räder drehten und er auf den großen Gewinn hoffte. In seiner Hosentasche fand er noch eine letzte Münze, die er in den Schlitz des Automaten steckte. Die Räder drehten sich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis das erste Rad stehen blieb, aber dann hielt es bei der großen roten Sieben an. Das zweite stoppte ebenfalls bei der Sieben. Langsam stieg Wills Puls an. Nur noch einmal und er würde endlich einen Preis für sein allwöchentliches Spielen bekommen. Die Finger umklammerten den Automaten. Das dritte Rad verlangsamte sich, eine Traube, eine Zitrone und schließlich hielt es bei der Sieben. Ein schriller, metallischer Ton erklang und rotes Licht blinkte auf. Aus dem Automaten strömten hunderte Münzen. Bevor Will überhaupt realisieren konnte, was geschehen war, hatte er die Hände voller Münzen. Ein schmales Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Endlich hatte er gewonnen und nicht nur das, er hatte den Jackpot gewonnen.
Will ließ genüsslich die Münzen auf den Tresen der Gewinnausgabe prasseln. Sie bildeten einen großen Haufen und als die letzte Münze zwischen seinen Finger hindurch geglitten war, fragte Will: „Was bekomme ich dafür?“
Die Frau hinter dem Tresen lächelte ihn an.
Sie können sich die Münze in bar auszahlen lassen oder sich einen unserer drei großen Hauptgewinne aussuchen.“
Sie deutete auf das oberste Regal hinter ihr. Dort standen drei grüne Kisten mit der großen Aufschrift Hauptpreis.
Will wusste, dass er zwar viele Münzen gewonnen hatte, aber sie würden niemals lange genug reichen, um unabhängig von jedem Job zu sein, aber der Hauptpreis war etwas woran er lange Freude haben könnte. Er wollte etwas haben, womit er sich lange an diesen Triumph erinnern konnte. Und das sollte ein Hauptpreis sein.
„Ich nehme den rechten Hauptpreis!“
Wills Zeigefinger sprang auf die Kiste und sein Mund formte sich zu einem breiten Grinsen. Die Frau nahm sogleich die Kiste von dem Regal und stellte sie auf den Tresen. Danach machte sie sich daran die Münzen einzusammeln. Will riss die Kiste auf und fand…einen Pokéball. Die Freude schlug in Wut um und er stellte das kleine runde Ding auf den Tresen.
„Warum tun sie mir das?“ fragte Will leise.
Er war kurz davor über den Tresen zu springen und die Frau am Hals zu packen. So lange hatte er um den Hauptpreis gekämpft, der nichts weiter als ein Pokéball war, wahrscheinlich auch noch mit einem Pokémon in ihm.
Die Frau sah ihn nur an und lächelte.
Will bändigte seine Wut etwas, schnappte sich übellaunig den Ball und drehte sich um. Er ging aus der Spielhalle, immer noch voller Unverständnis für den vermeintlichen Hauptpreis. Warum musste ausgerechnet er einen Pokéball gewinnen. Nun wollte er das Ding loswerden, am besten zu einem guten Preis.
Wills Suche nach einem Käufer des Balls führte ihn in das Pokémon-Center der Stadt. Ein kleines, fast niedliches Gebäude mit einem etwas schiefen Dach. Obwohl es nicht weit von seiner Wohnung entfernt stand, hatte er es bis jetzt noch nie bemerkt.
Er ging durch die Tür und steuerte zielsicher – jedenfalls so zielsicher wie man mit fünf Bier im Blut sein konnte – auf den Tresen zu. Dort stand eine Krankenschwester, vielleicht an die vierzig Jahre alt, mit langen braunen Haaren und verschlafen dreinblickenden Augen, die ihn gleichgültig ansahen. Will legte den Pokéball auf den Tresen und sah sie an.
„Möchten Sie das Pokémon in Behandlung geben?“ fragte die Schwester gelangweilt.
„Ich möchte es verkaufen.“
„Sie möchten es verkaufen?“
Ihre Langeweile wich Abscheu.
„Ja, das habe ich gesagt.“
„In einem Pokémon-Center können sie ihr Pokémon von Verletzungen heilen lassen oder es mit anderen tauschen, aber es gibt wohl keinen Ort auf dieser Welt, wo sie ihr Pokémon einfach verkaufen können. Was muss ein Pokémon tun, um diese Behandlung verdient zu haben?“
Will fühlte sich wie jemand, der keinen Spaß versteht in einem Haus voller Komiker. Anscheinend wussten alle über die Welt und die Pokémon bescheid, nur er hatte verpasst darüber aufgeklärt zu werden.
„Und was soll ich jetzt damit?“
„Was ist es überhaupt für ein Pokémon?“
„Ich weiß es nicht.“
„Dann lassen Sie es doch heraus und sehen es sich an. Ich bin mir sicher, dass es nicht so schlecht ist, wie Sie glauben. Bestimmt werden Sie sich gut miteinander verstehen.“
„Und wie soll ich das machen?“
Es war schon einige Jahre her, dass er zuletzt einen Pokéball in der Hand gehalten hatte, geschweige denn benutzt. Er nahm den Ball in die Hand und betrachtete ihn genau. Die Schwester seufzte angesichts seines hilflosen Verhaltens. Sie hatte sicher besser zu tun, als einem Idioten die Welt zu erklären. Irgendwann nahm sie ihm den Ball aus der Hand.
„Zuerst müssen Sie ihn aktivieren.“ sagte sie. Sie drückte auf den weißen Knopf an der Vorderseite des Balls worauf dieser sich in ihrer Hand vergrößerte. „Dann müssen Sie den Befehl geben, dass das Pokémon seinen Ball verlassen soll. Pokéball los!“ Der Ball öffnete sich und ein heller Strahl schoss heraus.
Vor Wills Augen erschien ein Evoli auf dem Tresen. Es starrte ihn mit großen Augen an. Will sah es ebenfalls an und kratzte sich am Kopf.
„Und jetzt? Kann ich es nicht irgendwie…loswerden…gegen Geld?“
Die Krankenschwester sah ihn zornig an. Sie hob das Evoli hoch und drückte es ihm zusammen mit dem Pokéball in die Hand. „Sie werden sich mit ihm anfreunden müssen“ sagte sie und schob ihn hinaus.
Regungslos saß Evoli neben Will auf der schmalen Treppe zum Pokémon-Center. Jedes Mal wenn Will fluchte oder die Zigarette zum Mund führte, sah es zu ihm hoch. Nach einiger Zeit sah Will es an. Nun schien es zu lächeln. „Willst du nicht einfach gehen?“ fragte Will leise. Das Pokémon sah ihn weiter stumm an. Will stand auf. „Also ich geh jetzt Nachhause. Du kannst machen was du willst, ist mir egal.“ Er ging zur Straße und drehte sich noch mal. Evoli saß immer noch da. Als er weiter ging, hörte er leise, klappernde Geräusche hinter, zuerst entfernt, dann direkt hinter ihm. Will wand sich um und Evoli setzte sich vor ihn hin. „Scheiße.“ Will wollte sich nicht weiter darum kümmern, was das Pokémon machte. Vor seiner Wohnungstür angekommen blieb er stehen und sah Evoli an – es schien immer noch genauso fröhlich zu sein wie zuvor. „Na gut. Für eine Nacht kannst du bleiben, aber wenn du morgen nicht gehst, schick ich dich mit einem Tritt aus dem Fenster. Hast du das verstanden?“
Will ließ sich langsam auf dem Sofa nieder und Evoli tat es ihm gleich, doch er schubste er wieder auf den Boden. Mit dem finstersten Blick den er in seinem müden Zustand noch zustande bringen konnte, sah er das kleine Wesen an, das sich nun auf dem Boden zusammenrollte.
„Ich weiß, du hast sicher besseres verdient, aber du musstest leider bei dem wahrscheinlich einzigen Menschen auf diesem Planeten landen, der Wesen wie dich nicht leiden kann. Du bist frei und kannst jederzeit gehen, zu einem Kind, das sich über dich freuen würde. Also verschwinde so schnell wie möglich.“
Er legte sich längs auf das Sofa, den Kopf auf der Lehne ruhend, und schloss die Augen.
Mit den üblichen Kopfschmerzen erwachte Will am nächsten Tag. Er hob seinen Kopf von der Lehne und das erste was er sah war Evoli, das neben ihm lag. Sofort stieß er es mit dem Fuß herunter und stand auf. Schleppend stolperte er zur Tür und öffnete sie. „Du warst jetzt lang genug hier. Es wird Zeit, dass du verschwindest, für immer.“
Evoli schaute ihn mit traurigen Augen an.
„Nun geh doch endlich.“
Es sah ihn immer noch an.
Jetzt schloss Will die Tür und ließ sich auf das Sofa fallen. Er rieb sich durch das Gesicht und seufzte laut. Müde sah er das Pokémon an, das nun wieder mehr Zuversicht in seinem Blick trug. Anscheinend wollte es ihm unbedingt dabei helfen seinen Hass gegenüber Pokémon zu bewältigen.
„Was erwartest du denn von mir? Ich kann mit Pokémon nicht umgehen.“
Allmählich kamen immer mehr Erinnerungen aus seiner Kindheit zum Vorschein, die er so lange unterdrückt hatte. Wie gern war er doch mit den Pokémon zusammen gewesen. Er wollte Trainer werden, der beste der Welt, und große Turniere gewinnen. Aber all das täuschte nicht über seine Unzulänglichkeit im Umgang mit Pokémon hinweg. Nach einem Vorfall in der Trainerschule verdrängte er den Wunsch bis er irgendwann vollends vergessen war.
„Ich möchte nur, dass du verstehst, dass ich dir nichts bieten kann. Ich kann dich nicht trainieren, ich kann dich nicht erziehen und nicht dein Freund werden. Das habe ich schon versucht und es hat nur Menschen verletzt.“
Sein Evoli sprang auf seinen Schoß und rollte sich zusammen. Es murrte leise, das erste Geräusch, das es von sich gab seit es aus dem Pokéball gekommen war. Will legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er konnte das Wesen nicht mehr loswerden, also musste er alles versuchen, damit sich die Katastrophe von vor vierzehn Jahren nicht wiederholte. Und jetzt, wo er den warmen Körper auf sich spürte, wusste er, dass er alles versuchen würde.
Als die Sonne schon untergegangen war, wachte Will auf. Verwirrt blickte er auf seine Armbanduhr. Als er die Uhrzeit sah, schloss er sogleich wieder die Augen. Wenige Minuten später schlug er die Augen auf. Evoli schlief immer noch in seinem Schoß und schien sich kein bisschen geregt zu haben. Er weckte es. Evoli öffnete die Augen und sah ihn fröhlich an, dann sprang es zur Tür. Gähnend erhob sich Will und öffnete die Tür. Evoli sprang sogleich hinaus in den Flur und hüpfte in freudiger Erwartung auf und ab.
„Was willst du?“ fragte Will verschlafen.
Evoli sah zur Haustür.
„Es ist mitten in der Nacht. Ich werde jetzt keinen Spaziergang mit dir machen.“ Evoli starrte ihn mit seinen großen Augen an. „Wenn du glaubst, dass ich nur mit dir gehe, weil du mich traurig anschaust, dann liegst du falsch. Meinetwegen kannst du allein gehen.“
Fröhlich stolzierte Evoli durch den Park, schnupperte mal an Bäumen oder kroch durch das Gebüsch. Will blieb immer wieder stehen, um zu sehen, wo sein Pokémon schon wieder hin verschwunden war. Manchmal setzte er sich auch auf eine Parkbank, wurde jedoch jedes Mal wieder durch Evoli aufgeschreckt, das wild an ihm vorbei lief. Irgendwann saßen sie beide auf einer Bank, müde von dem Spaziergang. Sie blickte beide in den Himmel hinauf. Die Sterne waren klar zu sehen und der Mond war ein großer, heller Kreis. Es war die schönste Vollmondnacht, die Will je erlebt hatte – und das auch noch vollkommen nüchtern. Dieser Anblick weckte eine längst verdrängte, sanfte Seite in ihm. Nach einiger Zeit sah er sein Pokémon an.
„Was soll ich nur mit dir machen? Ich sollte dich nicht besitzen. Hoffentlich verstehst du mich.“
Evoli sprang auf und leckte seine Hand. Es sah zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln, das zu sagen schien, dass alles nicht so schlimm war wie er glaubte. Will glaubte zu sehen, dass es ihn wirklich verstand.
„Du verstehst mich...wenigstens ein bisschen.“ Er seufzte hörbar. „Ich hatte mal einen Traum, ich wollte reisen, fremde Orte sehen, Pokémon fangen, Pokémon kennen lernen und ein großer Trainer werden. Aber manchmal reicht ein einziger Moment im Leben aus, um alles zunichte zu machen, alles in Frage zu stellen.“
Mit einem Satz sprang Evoli auf seine Schulter und rieb sein Gesicht an Wills Wange. Es lächelte immer noch und Will verstand nicht warum. Er konnte sich zwar auch ein leichtes Lächeln abringen, doch dann verfiel er wieder in eine nachdenkliche Haltung.
„Wenn ich dich ansehe, erscheint mir alles so einfach, als könnte ich es wirklich schaffen, zumindest in der Welt zu überleben. Sollten wir wirklich unser Glück herausfordern und es wagen, ist es das, was du wirklich willst. Na ja…meinen Trainerpass habe ich noch…irgendwo. Aber das ist ein schwieriger Schritt. Du wirst akzeptieren müssen, dass es ein gewisses Risiko gibt. Willst du es wirklich versuchen?“
Evoli nickte.
„Dann tun wir es. Was haben wir schon zu verlieren.“
Für einen Moment erschien wieder der glückliche kleine Junge vor seinen Augen, der seinen Traum ohne Kompromisse verfolgen wollte. Es machte den Anschein, als würde er endlich aus seiner alltäglichen Lethargie gerissen, und das innerhalb eines kurzen Augenblicks zwischen seinen letzte Worten und einem Blick in die Augen des Pokémons.
Der nächste Morgen brach an und aus Wills Wohnung drangen laute Geräusche nach außen, ungewohnt für diese Zeit. Kisten und Koffer lagen in der kleinen Wohnung verteilt und dazwischen lose Kleidungsstücke und andere Dinge. Will stopfte einige von den Kleidungsstücken notdürftig in seinen großen Rucksack. Der Schlafsack lag schon eingerollt und gut verschnürt daneben. Evoli sprang zwischen all der Unordnung herum und war sichtlich erfreut.
Als alles verstaut war, erhob sich Will, warf den Rucksack auf seinen Rücken, schob den Pokédex und Evolis Pokéball in seine Hosentasche und setzte seine Sonnenbrille auf. Dann drehte er sich zu Evoli um und blickte es entschlossen an.
„Wir werden wahrscheinlich nach einigen Tagen wieder zurückkehren…oder gar nicht. Wir könnten von wilden Pokémon angegriffen werden und sterben. Hoffentlich weißt du, worauf du dich da einlässt, Evoli.“
Evoli stieß einen Laut aus.
„Dann lass uns gehen. Nein…wir brauchen noch Verpflegung und Geld.“ Er ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. „Wir sollten es morgen noch mal versuchen.“
Daraufhin sprang Evoli auf seine Schulter und stieß ihn an.
„Ich habe keine Ahnung, wie du das schon wieder geschafft hast, aber wir werden gehen, heute oder nie. Anscheinend weißt du, was du machen musst. Also lass uns gehen.“
Der Pokémon-Supermarkt hatte gerade neue Ware bekommen, die Regale waren voll gefüllt. Will stand in einem der Gänge, umringt von dem übermäßigen Angebot, und wusste nicht, was er mitnehmen sollte. Schließlich nahm er das einzige mit, an das er sich noch erinnern konnte: zwei Tränke. Er ging zur Kasse und legte sie auf den Tresen.
Der Verkäufer lächelte und fragte: „Darf es noch etwas sein?“
Will dachte einen Moment lang nach. Dann: „Ich möchte noch Pokébälle.“
Es klang bizarr, dass ausgerechnet er noch ein paar Pokébälle brauchte, aber in diesem Moment dachte er nur darüber nach, was ein echter Trainer, einer der wusste was er tat, kaufen würde.
„Und wie viele möchten Sie.“
Der Verkäufer hatte die Hände schon unter dem Tresen und kramte in einer kleinen Schublade herum.
„Vier.“
Seine Antwort klang wie eine Frage. Er wusste nicht, ob es ausreichend war oder zu viel. Vielleicht würde er überhaupt keine Pokébälle gebrauchen, aber vielleicht – und das erschien ihm als unwahrscheinlicher – war er doch besser, als er dachte und das Fangen von Pokémon kein Problem für ihn.
Der Mann hinter dem Tresen legte die vier Bälle neben die Tränke und betätigte die Kasse.
„Das macht dann 5000 Pokédollar.“
Will war abrupt aus jedem Gedanken herausgerissen und starrte den Mann wortlos an. Niemals hätte er gedacht, dass das so viel kosten würde.
„Ist das Ihr ernst? Die Sachen kriege ich woanders bestimmt billiger.“
„Die Supermärkte sind alle Teil der internationalen Pokémon-Liga und unterliegen somit einer wirtschaftlichen Vereinbarung der verschiedenen nationalen Ligen. Die Preise sind überall gleich: in jeder Stadt und in jedem Land. Wenn Sie ein offizieller Trainer sind, bekommen Sie natürlich die üblichen Rabatte auf alle Pokébälle und Tränke. Dann würde das Ganze nur 100 Pokédollar kosten.“
„Ich bin ein offizieller Trainer. Hier ist meine Lizenz.“
Will nahm den Pokédex aus seiner Hosentasche und zeigte ihn dem Mann. Der Verkäufer nahm ihn Will aus der Hand, betrachtete ihn und gab ihm das Gerät zurück.
„Ihre Lizenz ist seit vier Jahren abgelaufen. Sie haben vergessen sie zu erneuern.“
„Aber ich bin ein Trainer. Ich habe die Pokémonschule besucht und besitze einen Pokédex. Machen Sie doch mal eine Ausnahme. Das ist wirklich wichtig.“
„Da kann ich leider nichts machen. Ich habe strikte Anweisungen.“
Will spürte schon wieder diese ungewohnte Anspannung in seinen Muskel und das Gefühl von Wut.
„Vielen Dank dafür, Arschloch.“
Evoli, das auf seiner Schulter saß, murrte leise.
Will wand sich um und wollte gehen, aber in dem Moment sah er einen alten Mann in der Tür stehen, ein bekanntes Gesicht. „Anscheinend hast du Probleme.“ sagte der Mann und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. In seinem faltigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Mischen Sie sich nicht ein.“
Er drängte sich an dem alten Mann vorbei hinaus und beschleunigte seinen Schritt.
„Warte doch.“ rief der Mann ihm hinterher.
Will blieb nicht stehen, doch das hielt den alten Mann nicht davon ab unerwartet leichtfüßig hinter ihm her zu laufen. Als er Will eingeholt hatte, blieb dieser stehen.
„Ich brauche keine Hilfe von Ihnen, Professor Clam.“
„Wie ich sehe, willst du es wieder wagen. Ich wusste, dass du den Vorfall irgendwann verarbeiten würdest. Dein Pokémon sieht zufrieden aus. Das freut mich.“
„Ich habe Ihnen schon damals gesagt, dass ich nichts mehr mit Ihnen oder irgendjemandem aus der Schule zu tun haben will. Also verschwinden Sie. Es gibt nichts, worüber wir reden sollten.“
Professor Clam sah betreten zu Boden. Sein Gesicht wirkte noch mehr von Falten gezeichnet, als zuvor. Er hätte bei Will Mitleid ausgelöst, wenn er noch irgendein Gefühl außer Hass für ihn hegen würde oder für irgendjemand anders.
„Ich kann deine Lizenz erneuern. Das ist keine große Angelegenheit, ich kann es gleich hier machen.“
„Dann tun Sie es.“
Will gab ihm seinen Pokédex und nach wenigen Minuten gab Professor Clam ihn wieder zurück. Er hatte nur auf irgendwelchen Tasten herumgedrückt und schon war es vollbracht.
„Deine Lizenz ist für weitere zehn Jahre gültig. Nimm bitte auch dies von mir.“ Professor Clam überreichte ihm drei Pokébälle und etwas Geld. „Du kannst uns nicht ewig die Schuld daran geben.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren nahm Will die Pokébälle und das Geld und kehrte Professor Clam den Rücken zu. Er wollte sich nicht bei ihm bedanken oder auch noch ein Wort mit ihm wechseln.
„Wir sehen uns wieder, wenn du in der Pokémon-Liga bist!“ rief Professor Clam ihm noch hinterher, bevor Will in einer Seitenstraße verschwand. Kurz darauf setzte auch er seinen Weg fort.
Zusammen mit seinem Evoli stand Will vor dem Ausgang der Stadt, der Grenze zwischen seinem alten Leben und dem Leben, was er sich als Kind gewünscht hatte. Vor ihnen, kurz hinter den weiten Blumenfeldern, sahen sie schon den düsteren Kriechwald. Will sah Evoli an und Evoli sah zu ihm hoch. „Wenn wir da hineingehen, gibt es kein zurück mehr…das gibt es ohnehin schon nicht, weil Professor Clam davon weiß. Er wird es sicher überall herum erzählen. Du kannst immer noch abhauen.“
Evoli sah ihn unvermindert an.
„Dann lass uns den anderen Trainern in den Arsch treten.“
Dann gingen sie los.
Bevor sie an den ersten Bäumen des Kriechwaldes vorbeikamen, blieb Will noch einmal stehen und drehte sich zu der Stadt um. Eigentlich hatte er sie nie verlassen wollen, eigentlich wollte er dort in aller Ruhe sterben, und nun verließ er die Stadt, mit einem Wesen, das er eigentlich hasste.
Er wand sich wieder zu dem Wald um und setzte einen Fuß vor…und lag auch schon mit dem Gesicht auf dem Boden, bevor er überhaupt wusste, was geschehen war. Fluchend hob er seinen Kopf von dem schmutzigen Untergrund und wand seinen Kopf herum. Ein Stein, nichts weiter. Er war über einen einfachen Stein gestolpert.
Aus der Ferne erklang lautes Gelächter. Ein Junge kam auf ihn zu, mit langen roten Haaren und schmalen grünen Augen. Neben ihm lief ein Glutexo, ebenso belustigt wie sein Trainer. Will erhob sich schnell und klopfte den Schmutz von seiner Hose. Der Junge blieb vor ihm stehen. Er war höchstens zehn Jahre alt, hatte wohl gerade seine Lizenz bekommen, aber er wirkte schon wie ein gestandener Trainer.
„Du bist noch nicht mal im Wald und stolperst schon über deine eigenen Füße, das ist wirklich meisterhaft. Du wirst bestimmt der neue Pokémon-Meister.“
Evoli fauchte hörbar und richtete sich neben Will auf.
„Du bist ganz schon frech für eine halben Portion. Ich sollte mal mit deinen Eltern reden.“
„Ja,ja.“ Erwiderte der Junge gelangweilt. „Ich hoffe wirklich, dass ich noch viel von dir sehen werde. Das könnte lustig werden.“
Der Junge lachte erneut und ging an Will vorbei, der sich ohnehin nicht weiter auf eine Diskussion einlassen wollte. Will sah ihm hinterher, wie stolz und selbstsicher er mit seinem starken Pokémon in den Wald hinein stolzierte, als wäre das nur eine kleine Aufgabe. Dieser freche Junge hatte all das, was Will früher gefehlt hatte.
„Ich versteh die Kinder von heute nicht.“ sagte er zu Evoli. Kurz darauf gingen sie ebenfalls in den Wald hinein.
Nur wenige Meter hinter der nördlichen Stadtgrenze erstreckte sich der riesige Kriechwald. Die einzige befestigte Straße ins Landesinnere führte durch ihn hindurch, aber nur wenige verließen die Stadt. Es schien als sei jeder glücklich mit seinem Leben hier, Menschen und Pokémon.
Seit Tagen erstrahlte die Sonne ungehindert vom Himmel. Trotzdem konnte man die Temperaturen weder kühl noch warm nennen, allenfalls allenfalls mittelmäßig mit Höchstgraden von zwanzig Grad. Der Sommer ging allmählich zu Ende, die Touristen zogen sich gemächlich zurück, die ersten Blätter verfärbten sich schon.
Und inmitten dieser Idylle lebte William Sutton, der von jedem nur Will genannt wurde. Will war Vierundzwanzig Jahre alt und gehörte wohl zu den Menschen, die man als große Verlierer des Lebens bezeichnen konnte. Er lebte in einer kleinen Wohnung neben dem Pokémon-Markt. Die Wohnung war nichts großartiges, nur ausgestattet mit dem, was er zum Überleben nötig hatte. Allein um dieses schäbige Nest, das er sein Zuhause nannte, bezahlen zu können, nahm er öfters kleinere Aushilfsjobs an, während der Hochsaison meistens am Strand, weil dort das meiste Trinkgeld zu holen war.
Es war Samstag, ein üblicher Samstagnachmittag. Wie jede Woche um diese Zeit öffnete Will blinzelnd seine Augen. Er wälzte sich langsam herum, um auf dem Rücken zu liegen und kramte in seiner Hosentasche auf der Suche nach einer Zigarettenschachtel. Das einzige was er fand, war eine lose und geknickte Zigarette. Er begradigte sie etwas und steckte sie sich in den Mundwinkel, dann zündete er sie an. Nach dem ersten Zug hievte er seinen Körper an dem Sofa hoch, das unter dem Gewicht knirschte, und ließ sich dann darauf nieder. Durch die Gardinen drang fahles Licht, das schon ausreichte, um bei ihm Kopfschmerzen auszulösen. Dass er auf dem Boden zwischen seinem Sofa und einem großen, runden Fleck Erbrochenem geschlafen hatte, störte ihn mittlerweile nur noch wenig. Ihn störten nur noch die hämmernden Kopfschmerzen, dass er nicht mehr wusste wie viel Geld er für Drinks ausgegeben hatte und dieser kleien Fleck auf seinem Hemdärmel, der entweder Erbrochenes oder Blut war.
Langsam strich er mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare und kratzte sich am Hinterkopf. Er gähnte leise und dachte: „Das wird wieder einer dieser Tage, die sich so anfühlen, als würden sie ewig dauern.“ Dann stand er auf und verließ die Wohnung, beinahe fluchtartig. Im Flur lief er seiner Nachbarin über den Weg: eine stets freundliche ältere Dame, die auch alleine wohnte. Sie war zusammen mit ihrem Vulpix einkaufen gewesen. Sie grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und ihr Vulpix quiekte freudig. Will ging wortlos an ihnen vorbei, hinaus, mitten in das grelle Licht der Sonne. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um, das dröhnen in seinem Kopf wurde wieder stärker. Leise fluchend setzte er seinen Weg fort.
Will hatte nie viel mit Pokémon zu tun haben wollen, er ging ihnen sogar aus dem Weg. Als er zehn, elf Jahren alt gewesen war, sah das natürlich anders aus. Er spielte wie jedes andere Kind gerne mit den Pokémon und meldete sich bei der Trainerschule an, aber irgendwann änderte sich das. Heute mochte er sie nicht einmal mehr anfassen. Ihm fehlte jedes Verständnis dafür, warum Menschen so an ihren Pokémon hingen und sie als Freunde bezeichnen konnten.
Die erste Station war wie immer der Supermarkt. Will kaufte einen kleinen Snack, der erstmal den größten Hunger stillen würde, und ein Getränk. Danach ging er in die Spielhalle, der beste Ort, um einen hartnäckigen Kater auszukurieren. Zwar hatte er dort noch nie mehr als ein paar Münzen am Tag gewonnen, aber das gedämpfte Licht und die leisen Töne der Spielautomaten waren genau das, was ihm an diesem Ort gefiel. Zudem verspürte niemand das Bedürfnis sich mit ihm zu unterhalten, all diese stummen Zombies hockten vor ihren Automaten und hofften auf den großen Gewinn.
Will setzte sich vor seinen üblichen Automaten in einer dunklen Ecke und warf die erste Münze ein. Dort blieb er bis spät in der Nacht, warf Münze um Münze ein und stand nur auf, um sich etwas zu essen oder einen Drink zu kaufen. Gegen Mitternacht verließ Will die Spielhalle. Leicht schwankend nahm er den Weg durch den Park. Es war der kürzeste Weg und er lief nur selten Gefahr jemandem über den Weg zu laufen, der ihn kannte. Nur manchmal gingen Menschen an ihm vorbei, lachend oder sich in den Armen liegend.
Wills Eltern lebten schon seit drei Jahren nicht mehr, sie starben beide bei einem Autounfall. Sein Bruder hatte nach dem Unfall die Stadt verlassen, um ein besserer Trainer zu werden – das war wohl seine Art gewesen, um mit den Vorfällen klar zu kommen. Will verstand ihn noch nie, genau wie sein Bruder ihn nicht. Das war schon immer so gewesen, selbst als sie noch klein waren. Während Will schon Zuhause war und fernsah, nutze sein Bruder jeden Moment, um draußen bei den Pokémon zu sein und sie zu trainieren. Ihre Eltern waren immer diejenigen gewesen, die die beiden zusammengehalten hatten und dafür sorgten, dass auch Will manchmal etwas Zeit mit seinem Bruder verbrachte. Nun jedenfalls lebte sein Bruder am Kap des Glücks, trainierte Pokémon und schickte ihm jedes Jahr eine Karte. Und Will versank langsam aber sicher in grenzenloser Gleichgültigkeit.
Mit schleppenden Schritten trat Will vor die Tür, schloss sie auf und schob sich langsam hinein. Er sank in das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Während er den Nachrichten lauschte, zog er sich die Schuhe aus. Dann legte er sich längs auf das Sofa und fiel in einen tiefen Schlaf, während sich nur ein Gedanke in seinem Kopf umher wand: Es war kein gutes Leben, aber das beste, was man bekommen konnte, wenn man nicht dafür arbeiten wollte. In solchen Nächten sorgte er sich um nichts mehr, nciht einmal darum, das die Stromrechnung mal wieder viel zu hoch ausfallen würde, weil die ganze Nacht der Fernseher lief.
Der nächste Tag brach an und Will schreckte hoch. Schweiß stand auf seiner Stirn, die Augen waren geweitet. Hektisch wand er seinen Kopf nach rechts und nach links und sank dann urplötzlich wieder in das Sofa. Er zündete eine Zigarette an und starrte an die Decke. Ein Albtraum, nicht worüber er lange nachdenken sollte, aber trotzdem beschäftigte es ihn. Der Traum war seltsam und verwirrend, beinahe so als wolle er ihn vor irgendetwas warnen, das niemals passieren würde.
Nachdem Will den Albtraum abgeschüttelt hatte und die Zigarette am Ende war, richtete er sich auf, schaltete den Fernseher aus und verließ die Wohnung. Auf dem Flur traf er das Vulpix seiner Nachbarin, das ganz allein vor der Tür lag. Er blickte es nur kurz an und ging daran vorbei. Draußen empfing ihn wieder diese grässliche Sonne. "Scheiße." murmelte er.
An diesem Tag ging er ohne Umwege in die Spielhalle und hockte sich vor seinen Automaten. Er hatte keinen Hunger und auch kein Verlangen jetzt etwas zu trinken, er wollte nur spielen und sich entspannen. Gegen Abend hatte er sich von dem Albtraum erholt und schon einige Biere getrunken, was zusätzlich zur Hebung seiner Stimmung beitrug. Allmählich wurde es Zeit zu gehen, schließlich wollte er sich Morgen nach einem neuen Job umsehen. Ein letztes Mal wollte er noch das wohlige Gefühl verspüren, wenn sich die Räder drehten und er auf den großen Gewinn hoffte. In seiner Hosentasche fand er noch eine letzte Münze, die er in den Schlitz des Automaten steckte. Die Räder drehten sich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis das erste Rad stehen blieb, aber dann hielt es bei der großen roten Sieben an. Das zweite stoppte ebenfalls bei der Sieben. Langsam stieg Wills Puls an. Nur noch einmal und er würde endlich einen Preis für sein allwöchentliches Spielen bekommen. Die Finger umklammerten den Automaten. Das dritte Rad verlangsamte sich, eine Traube, eine Zitrone und schließlich hielt es bei der Sieben. Ein schriller, metallischer Ton erklang und rotes Licht blinkte auf. Aus dem Automaten strömten hunderte Münzen. Bevor Will überhaupt realisieren konnte, was geschehen war, hatte er die Hände voller Münzen. Ein schmales Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Endlich hatte er gewonnen und nicht nur das, er hatte den Jackpot gewonnen.
Will ließ genüsslich die Münzen auf den Tresen der Gewinnausgabe prasseln. Sie bildeten einen großen Haufen und als die letzte Münze zwischen seinen Finger hindurch geglitten war, fragte Will: „Was bekomme ich dafür?“
Die Frau hinter dem Tresen lächelte ihn an.
Sie können sich die Münze in bar auszahlen lassen oder sich einen unserer drei großen Hauptgewinne aussuchen.“
Sie deutete auf das oberste Regal hinter ihr. Dort standen drei grüne Kisten mit der großen Aufschrift Hauptpreis.
Will wusste, dass er zwar viele Münzen gewonnen hatte, aber sie würden niemals lange genug reichen, um unabhängig von jedem Job zu sein, aber der Hauptpreis war etwas woran er lange Freude haben könnte. Er wollte etwas haben, womit er sich lange an diesen Triumph erinnern konnte. Und das sollte ein Hauptpreis sein.
„Ich nehme den rechten Hauptpreis!“
Wills Zeigefinger sprang auf die Kiste und sein Mund formte sich zu einem breiten Grinsen. Die Frau nahm sogleich die Kiste von dem Regal und stellte sie auf den Tresen. Danach machte sie sich daran die Münzen einzusammeln. Will riss die Kiste auf und fand…einen Pokéball. Die Freude schlug in Wut um und er stellte das kleine runde Ding auf den Tresen.
„Warum tun sie mir das?“ fragte Will leise.
Er war kurz davor über den Tresen zu springen und die Frau am Hals zu packen. So lange hatte er um den Hauptpreis gekämpft, der nichts weiter als ein Pokéball war, wahrscheinlich auch noch mit einem Pokémon in ihm.
Die Frau sah ihn nur an und lächelte.
Will bändigte seine Wut etwas, schnappte sich übellaunig den Ball und drehte sich um. Er ging aus der Spielhalle, immer noch voller Unverständnis für den vermeintlichen Hauptpreis. Warum musste ausgerechnet er einen Pokéball gewinnen. Nun wollte er das Ding loswerden, am besten zu einem guten Preis.
Wills Suche nach einem Käufer des Balls führte ihn in das Pokémon-Center der Stadt. Ein kleines, fast niedliches Gebäude mit einem etwas schiefen Dach. Obwohl es nicht weit von seiner Wohnung entfernt stand, hatte er es bis jetzt noch nie bemerkt.
Er ging durch die Tür und steuerte zielsicher – jedenfalls so zielsicher wie man mit fünf Bier im Blut sein konnte – auf den Tresen zu. Dort stand eine Krankenschwester, vielleicht an die vierzig Jahre alt, mit langen braunen Haaren und verschlafen dreinblickenden Augen, die ihn gleichgültig ansahen. Will legte den Pokéball auf den Tresen und sah sie an.
„Möchten Sie das Pokémon in Behandlung geben?“ fragte die Schwester gelangweilt.
„Ich möchte es verkaufen.“
„Sie möchten es verkaufen?“
Ihre Langeweile wich Abscheu.
„Ja, das habe ich gesagt.“
„In einem Pokémon-Center können sie ihr Pokémon von Verletzungen heilen lassen oder es mit anderen tauschen, aber es gibt wohl keinen Ort auf dieser Welt, wo sie ihr Pokémon einfach verkaufen können. Was muss ein Pokémon tun, um diese Behandlung verdient zu haben?“
Will fühlte sich wie jemand, der keinen Spaß versteht in einem Haus voller Komiker. Anscheinend wussten alle über die Welt und die Pokémon bescheid, nur er hatte verpasst darüber aufgeklärt zu werden.
„Und was soll ich jetzt damit?“
„Was ist es überhaupt für ein Pokémon?“
„Ich weiß es nicht.“
„Dann lassen Sie es doch heraus und sehen es sich an. Ich bin mir sicher, dass es nicht so schlecht ist, wie Sie glauben. Bestimmt werden Sie sich gut miteinander verstehen.“
„Und wie soll ich das machen?“
Es war schon einige Jahre her, dass er zuletzt einen Pokéball in der Hand gehalten hatte, geschweige denn benutzt. Er nahm den Ball in die Hand und betrachtete ihn genau. Die Schwester seufzte angesichts seines hilflosen Verhaltens. Sie hatte sicher besser zu tun, als einem Idioten die Welt zu erklären. Irgendwann nahm sie ihm den Ball aus der Hand.
„Zuerst müssen Sie ihn aktivieren.“ sagte sie. Sie drückte auf den weißen Knopf an der Vorderseite des Balls worauf dieser sich in ihrer Hand vergrößerte. „Dann müssen Sie den Befehl geben, dass das Pokémon seinen Ball verlassen soll. Pokéball los!“ Der Ball öffnete sich und ein heller Strahl schoss heraus.
Vor Wills Augen erschien ein Evoli auf dem Tresen. Es starrte ihn mit großen Augen an. Will sah es ebenfalls an und kratzte sich am Kopf.
„Und jetzt? Kann ich es nicht irgendwie…loswerden…gegen Geld?“
Die Krankenschwester sah ihn zornig an. Sie hob das Evoli hoch und drückte es ihm zusammen mit dem Pokéball in die Hand. „Sie werden sich mit ihm anfreunden müssen“ sagte sie und schob ihn hinaus.
Regungslos saß Evoli neben Will auf der schmalen Treppe zum Pokémon-Center. Jedes Mal wenn Will fluchte oder die Zigarette zum Mund führte, sah es zu ihm hoch. Nach einiger Zeit sah Will es an. Nun schien es zu lächeln. „Willst du nicht einfach gehen?“ fragte Will leise. Das Pokémon sah ihn weiter stumm an. Will stand auf. „Also ich geh jetzt Nachhause. Du kannst machen was du willst, ist mir egal.“ Er ging zur Straße und drehte sich noch mal. Evoli saß immer noch da. Als er weiter ging, hörte er leise, klappernde Geräusche hinter, zuerst entfernt, dann direkt hinter ihm. Will wand sich um und Evoli setzte sich vor ihn hin. „Scheiße.“ Will wollte sich nicht weiter darum kümmern, was das Pokémon machte. Vor seiner Wohnungstür angekommen blieb er stehen und sah Evoli an – es schien immer noch genauso fröhlich zu sein wie zuvor. „Na gut. Für eine Nacht kannst du bleiben, aber wenn du morgen nicht gehst, schick ich dich mit einem Tritt aus dem Fenster. Hast du das verstanden?“
Will ließ sich langsam auf dem Sofa nieder und Evoli tat es ihm gleich, doch er schubste er wieder auf den Boden. Mit dem finstersten Blick den er in seinem müden Zustand noch zustande bringen konnte, sah er das kleine Wesen an, das sich nun auf dem Boden zusammenrollte.
„Ich weiß, du hast sicher besseres verdient, aber du musstest leider bei dem wahrscheinlich einzigen Menschen auf diesem Planeten landen, der Wesen wie dich nicht leiden kann. Du bist frei und kannst jederzeit gehen, zu einem Kind, das sich über dich freuen würde. Also verschwinde so schnell wie möglich.“
Er legte sich längs auf das Sofa, den Kopf auf der Lehne ruhend, und schloss die Augen.
Mit den üblichen Kopfschmerzen erwachte Will am nächsten Tag. Er hob seinen Kopf von der Lehne und das erste was er sah war Evoli, das neben ihm lag. Sofort stieß er es mit dem Fuß herunter und stand auf. Schleppend stolperte er zur Tür und öffnete sie. „Du warst jetzt lang genug hier. Es wird Zeit, dass du verschwindest, für immer.“
Evoli schaute ihn mit traurigen Augen an.
„Nun geh doch endlich.“
Es sah ihn immer noch an.
Jetzt schloss Will die Tür und ließ sich auf das Sofa fallen. Er rieb sich durch das Gesicht und seufzte laut. Müde sah er das Pokémon an, das nun wieder mehr Zuversicht in seinem Blick trug. Anscheinend wollte es ihm unbedingt dabei helfen seinen Hass gegenüber Pokémon zu bewältigen.
„Was erwartest du denn von mir? Ich kann mit Pokémon nicht umgehen.“
Allmählich kamen immer mehr Erinnerungen aus seiner Kindheit zum Vorschein, die er so lange unterdrückt hatte. Wie gern war er doch mit den Pokémon zusammen gewesen. Er wollte Trainer werden, der beste der Welt, und große Turniere gewinnen. Aber all das täuschte nicht über seine Unzulänglichkeit im Umgang mit Pokémon hinweg. Nach einem Vorfall in der Trainerschule verdrängte er den Wunsch bis er irgendwann vollends vergessen war.
„Ich möchte nur, dass du verstehst, dass ich dir nichts bieten kann. Ich kann dich nicht trainieren, ich kann dich nicht erziehen und nicht dein Freund werden. Das habe ich schon versucht und es hat nur Menschen verletzt.“
Sein Evoli sprang auf seinen Schoß und rollte sich zusammen. Es murrte leise, das erste Geräusch, das es von sich gab seit es aus dem Pokéball gekommen war. Will legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er konnte das Wesen nicht mehr loswerden, also musste er alles versuchen, damit sich die Katastrophe von vor vierzehn Jahren nicht wiederholte. Und jetzt, wo er den warmen Körper auf sich spürte, wusste er, dass er alles versuchen würde.
Als die Sonne schon untergegangen war, wachte Will auf. Verwirrt blickte er auf seine Armbanduhr. Als er die Uhrzeit sah, schloss er sogleich wieder die Augen. Wenige Minuten später schlug er die Augen auf. Evoli schlief immer noch in seinem Schoß und schien sich kein bisschen geregt zu haben. Er weckte es. Evoli öffnete die Augen und sah ihn fröhlich an, dann sprang es zur Tür. Gähnend erhob sich Will und öffnete die Tür. Evoli sprang sogleich hinaus in den Flur und hüpfte in freudiger Erwartung auf und ab.
„Was willst du?“ fragte Will verschlafen.
Evoli sah zur Haustür.
„Es ist mitten in der Nacht. Ich werde jetzt keinen Spaziergang mit dir machen.“ Evoli starrte ihn mit seinen großen Augen an. „Wenn du glaubst, dass ich nur mit dir gehe, weil du mich traurig anschaust, dann liegst du falsch. Meinetwegen kannst du allein gehen.“
Fröhlich stolzierte Evoli durch den Park, schnupperte mal an Bäumen oder kroch durch das Gebüsch. Will blieb immer wieder stehen, um zu sehen, wo sein Pokémon schon wieder hin verschwunden war. Manchmal setzte er sich auch auf eine Parkbank, wurde jedoch jedes Mal wieder durch Evoli aufgeschreckt, das wild an ihm vorbei lief. Irgendwann saßen sie beide auf einer Bank, müde von dem Spaziergang. Sie blickte beide in den Himmel hinauf. Die Sterne waren klar zu sehen und der Mond war ein großer, heller Kreis. Es war die schönste Vollmondnacht, die Will je erlebt hatte – und das auch noch vollkommen nüchtern. Dieser Anblick weckte eine längst verdrängte, sanfte Seite in ihm. Nach einiger Zeit sah er sein Pokémon an.
„Was soll ich nur mit dir machen? Ich sollte dich nicht besitzen. Hoffentlich verstehst du mich.“
Evoli sprang auf und leckte seine Hand. Es sah zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln, das zu sagen schien, dass alles nicht so schlimm war wie er glaubte. Will glaubte zu sehen, dass es ihn wirklich verstand.
„Du verstehst mich...wenigstens ein bisschen.“ Er seufzte hörbar. „Ich hatte mal einen Traum, ich wollte reisen, fremde Orte sehen, Pokémon fangen, Pokémon kennen lernen und ein großer Trainer werden. Aber manchmal reicht ein einziger Moment im Leben aus, um alles zunichte zu machen, alles in Frage zu stellen.“
Mit einem Satz sprang Evoli auf seine Schulter und rieb sein Gesicht an Wills Wange. Es lächelte immer noch und Will verstand nicht warum. Er konnte sich zwar auch ein leichtes Lächeln abringen, doch dann verfiel er wieder in eine nachdenkliche Haltung.
„Wenn ich dich ansehe, erscheint mir alles so einfach, als könnte ich es wirklich schaffen, zumindest in der Welt zu überleben. Sollten wir wirklich unser Glück herausfordern und es wagen, ist es das, was du wirklich willst. Na ja…meinen Trainerpass habe ich noch…irgendwo. Aber das ist ein schwieriger Schritt. Du wirst akzeptieren müssen, dass es ein gewisses Risiko gibt. Willst du es wirklich versuchen?“
Evoli nickte.
„Dann tun wir es. Was haben wir schon zu verlieren.“
Für einen Moment erschien wieder der glückliche kleine Junge vor seinen Augen, der seinen Traum ohne Kompromisse verfolgen wollte. Es machte den Anschein, als würde er endlich aus seiner alltäglichen Lethargie gerissen, und das innerhalb eines kurzen Augenblicks zwischen seinen letzte Worten und einem Blick in die Augen des Pokémons.
Der nächste Morgen brach an und aus Wills Wohnung drangen laute Geräusche nach außen, ungewohnt für diese Zeit. Kisten und Koffer lagen in der kleinen Wohnung verteilt und dazwischen lose Kleidungsstücke und andere Dinge. Will stopfte einige von den Kleidungsstücken notdürftig in seinen großen Rucksack. Der Schlafsack lag schon eingerollt und gut verschnürt daneben. Evoli sprang zwischen all der Unordnung herum und war sichtlich erfreut.
Als alles verstaut war, erhob sich Will, warf den Rucksack auf seinen Rücken, schob den Pokédex und Evolis Pokéball in seine Hosentasche und setzte seine Sonnenbrille auf. Dann drehte er sich zu Evoli um und blickte es entschlossen an.
„Wir werden wahrscheinlich nach einigen Tagen wieder zurückkehren…oder gar nicht. Wir könnten von wilden Pokémon angegriffen werden und sterben. Hoffentlich weißt du, worauf du dich da einlässt, Evoli.“
Evoli stieß einen Laut aus.
„Dann lass uns gehen. Nein…wir brauchen noch Verpflegung und Geld.“ Er ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. „Wir sollten es morgen noch mal versuchen.“
Daraufhin sprang Evoli auf seine Schulter und stieß ihn an.
„Ich habe keine Ahnung, wie du das schon wieder geschafft hast, aber wir werden gehen, heute oder nie. Anscheinend weißt du, was du machen musst. Also lass uns gehen.“
Der Pokémon-Supermarkt hatte gerade neue Ware bekommen, die Regale waren voll gefüllt. Will stand in einem der Gänge, umringt von dem übermäßigen Angebot, und wusste nicht, was er mitnehmen sollte. Schließlich nahm er das einzige mit, an das er sich noch erinnern konnte: zwei Tränke. Er ging zur Kasse und legte sie auf den Tresen.
Der Verkäufer lächelte und fragte: „Darf es noch etwas sein?“
Will dachte einen Moment lang nach. Dann: „Ich möchte noch Pokébälle.“
Es klang bizarr, dass ausgerechnet er noch ein paar Pokébälle brauchte, aber in diesem Moment dachte er nur darüber nach, was ein echter Trainer, einer der wusste was er tat, kaufen würde.
„Und wie viele möchten Sie.“
Der Verkäufer hatte die Hände schon unter dem Tresen und kramte in einer kleinen Schublade herum.
„Vier.“
Seine Antwort klang wie eine Frage. Er wusste nicht, ob es ausreichend war oder zu viel. Vielleicht würde er überhaupt keine Pokébälle gebrauchen, aber vielleicht – und das erschien ihm als unwahrscheinlicher – war er doch besser, als er dachte und das Fangen von Pokémon kein Problem für ihn.
Der Mann hinter dem Tresen legte die vier Bälle neben die Tränke und betätigte die Kasse.
„Das macht dann 5000 Pokédollar.“
Will war abrupt aus jedem Gedanken herausgerissen und starrte den Mann wortlos an. Niemals hätte er gedacht, dass das so viel kosten würde.
„Ist das Ihr ernst? Die Sachen kriege ich woanders bestimmt billiger.“
„Die Supermärkte sind alle Teil der internationalen Pokémon-Liga und unterliegen somit einer wirtschaftlichen Vereinbarung der verschiedenen nationalen Ligen. Die Preise sind überall gleich: in jeder Stadt und in jedem Land. Wenn Sie ein offizieller Trainer sind, bekommen Sie natürlich die üblichen Rabatte auf alle Pokébälle und Tränke. Dann würde das Ganze nur 100 Pokédollar kosten.“
„Ich bin ein offizieller Trainer. Hier ist meine Lizenz.“
Will nahm den Pokédex aus seiner Hosentasche und zeigte ihn dem Mann. Der Verkäufer nahm ihn Will aus der Hand, betrachtete ihn und gab ihm das Gerät zurück.
„Ihre Lizenz ist seit vier Jahren abgelaufen. Sie haben vergessen sie zu erneuern.“
„Aber ich bin ein Trainer. Ich habe die Pokémonschule besucht und besitze einen Pokédex. Machen Sie doch mal eine Ausnahme. Das ist wirklich wichtig.“
„Da kann ich leider nichts machen. Ich habe strikte Anweisungen.“
Will spürte schon wieder diese ungewohnte Anspannung in seinen Muskel und das Gefühl von Wut.
„Vielen Dank dafür, Arschloch.“
Evoli, das auf seiner Schulter saß, murrte leise.
Will wand sich um und wollte gehen, aber in dem Moment sah er einen alten Mann in der Tür stehen, ein bekanntes Gesicht. „Anscheinend hast du Probleme.“ sagte der Mann und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. In seinem faltigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Mischen Sie sich nicht ein.“
Er drängte sich an dem alten Mann vorbei hinaus und beschleunigte seinen Schritt.
„Warte doch.“ rief der Mann ihm hinterher.
Will blieb nicht stehen, doch das hielt den alten Mann nicht davon ab unerwartet leichtfüßig hinter ihm her zu laufen. Als er Will eingeholt hatte, blieb dieser stehen.
„Ich brauche keine Hilfe von Ihnen, Professor Clam.“
„Wie ich sehe, willst du es wieder wagen. Ich wusste, dass du den Vorfall irgendwann verarbeiten würdest. Dein Pokémon sieht zufrieden aus. Das freut mich.“
„Ich habe Ihnen schon damals gesagt, dass ich nichts mehr mit Ihnen oder irgendjemandem aus der Schule zu tun haben will. Also verschwinden Sie. Es gibt nichts, worüber wir reden sollten.“
Professor Clam sah betreten zu Boden. Sein Gesicht wirkte noch mehr von Falten gezeichnet, als zuvor. Er hätte bei Will Mitleid ausgelöst, wenn er noch irgendein Gefühl außer Hass für ihn hegen würde oder für irgendjemand anders.
„Ich kann deine Lizenz erneuern. Das ist keine große Angelegenheit, ich kann es gleich hier machen.“
„Dann tun Sie es.“
Will gab ihm seinen Pokédex und nach wenigen Minuten gab Professor Clam ihn wieder zurück. Er hatte nur auf irgendwelchen Tasten herumgedrückt und schon war es vollbracht.
„Deine Lizenz ist für weitere zehn Jahre gültig. Nimm bitte auch dies von mir.“ Professor Clam überreichte ihm drei Pokébälle und etwas Geld. „Du kannst uns nicht ewig die Schuld daran geben.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren nahm Will die Pokébälle und das Geld und kehrte Professor Clam den Rücken zu. Er wollte sich nicht bei ihm bedanken oder auch noch ein Wort mit ihm wechseln.
„Wir sehen uns wieder, wenn du in der Pokémon-Liga bist!“ rief Professor Clam ihm noch hinterher, bevor Will in einer Seitenstraße verschwand. Kurz darauf setzte auch er seinen Weg fort.
Zusammen mit seinem Evoli stand Will vor dem Ausgang der Stadt, der Grenze zwischen seinem alten Leben und dem Leben, was er sich als Kind gewünscht hatte. Vor ihnen, kurz hinter den weiten Blumenfeldern, sahen sie schon den düsteren Kriechwald. Will sah Evoli an und Evoli sah zu ihm hoch. „Wenn wir da hineingehen, gibt es kein zurück mehr…das gibt es ohnehin schon nicht, weil Professor Clam davon weiß. Er wird es sicher überall herum erzählen. Du kannst immer noch abhauen.“
Evoli sah ihn unvermindert an.
„Dann lass uns den anderen Trainern in den Arsch treten.“
Dann gingen sie los.
Bevor sie an den ersten Bäumen des Kriechwaldes vorbeikamen, blieb Will noch einmal stehen und drehte sich zu der Stadt um. Eigentlich hatte er sie nie verlassen wollen, eigentlich wollte er dort in aller Ruhe sterben, und nun verließ er die Stadt, mit einem Wesen, das er eigentlich hasste.
Er wand sich wieder zu dem Wald um und setzte einen Fuß vor…und lag auch schon mit dem Gesicht auf dem Boden, bevor er überhaupt wusste, was geschehen war. Fluchend hob er seinen Kopf von dem schmutzigen Untergrund und wand seinen Kopf herum. Ein Stein, nichts weiter. Er war über einen einfachen Stein gestolpert.
Aus der Ferne erklang lautes Gelächter. Ein Junge kam auf ihn zu, mit langen roten Haaren und schmalen grünen Augen. Neben ihm lief ein Glutexo, ebenso belustigt wie sein Trainer. Will erhob sich schnell und klopfte den Schmutz von seiner Hose. Der Junge blieb vor ihm stehen. Er war höchstens zehn Jahre alt, hatte wohl gerade seine Lizenz bekommen, aber er wirkte schon wie ein gestandener Trainer.
„Du bist noch nicht mal im Wald und stolperst schon über deine eigenen Füße, das ist wirklich meisterhaft. Du wirst bestimmt der neue Pokémon-Meister.“
Evoli fauchte hörbar und richtete sich neben Will auf.
„Du bist ganz schon frech für eine halben Portion. Ich sollte mal mit deinen Eltern reden.“
„Ja,ja.“ Erwiderte der Junge gelangweilt. „Ich hoffe wirklich, dass ich noch viel von dir sehen werde. Das könnte lustig werden.“
Der Junge lachte erneut und ging an Will vorbei, der sich ohnehin nicht weiter auf eine Diskussion einlassen wollte. Will sah ihm hinterher, wie stolz und selbstsicher er mit seinem starken Pokémon in den Wald hinein stolzierte, als wäre das nur eine kleine Aufgabe. Dieser freche Junge hatte all das, was Will früher gefehlt hatte.
„Ich versteh die Kinder von heute nicht.“ sagte er zu Evoli. Kurz darauf gingen sie ebenfalls in den Wald hinein.
Ende der ersten Episode. Sagt mir, was ihr davon haltet, gebt Verbesserungsvorschläge oder ergießt eure philosophischen Gedanken über mich.
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