The Real Pokémon

Hollow Point

Nero VI.
Otaku Veteran
Wie bereits angesprochen veröffentliche ich heute die erste Episode meiner Reihe "The Real Pokémon". Es gibt viel Interessantes zu entdecken, also lasst euch überraschen.


Episode 1: Trainer wider Willen


Die Geschichte begann in einem kleinen Ort namens Luftstadt. Das verschlafene Städtchen lag auf einer Halbinsel im Süden des Landes Areas, weitab von den Großstädten des Inlandes. Luftstadt besaß durch seine alten Häuser und durch das warmen Klima, das man an den weiten Stränden genießen konnte, eine ungemeine Anziehungskraft auf Touristen aus dem ganzen Land und von außerhalb. Doch wenn nicht gerade Sommer war verirrte sich selten jemand dorthin.
Nur wenige Meter hinter der nördlichen Stadtgrenze erstreckte sich der riesige Kriechwald. Die einzige befestigte Straße ins Landesinnere führte durch ihn hindurch, aber nur wenige verließen die Stadt. Es schien als sei jeder glücklich mit seinem Leben hier, Menschen und Pokémon.
Seit Tagen erstrahlte die Sonne ungehindert vom Himmel. Trotzdem konnte man die Temperaturen weder kühl noch warm nennen, allenfalls allenfalls mittelmäßig mit Höchstgraden von zwanzig Grad. Der Sommer ging allmählich zu Ende, die Touristen zogen sich gemächlich zurück, die ersten Blätter verfärbten sich schon.
Und inmitten dieser Idylle lebte William Sutton, der von jedem nur Will genannt wurde. Will war Vierundzwanzig Jahre alt und gehörte wohl zu den Menschen, die man als große Verlierer des Lebens bezeichnen konnte. Er lebte in einer kleinen Wohnung neben dem Pokémon-Markt. Die Wohnung war nichts großartiges, nur ausgestattet mit dem, was er zum Überleben nötig hatte. Allein um dieses schäbige Nest, das er sein Zuhause nannte, bezahlen zu können, nahm er öfters kleinere Aushilfsjobs an, während der Hochsaison meistens am Strand, weil dort das meiste Trinkgeld zu holen war.

Es war Samstag, ein üblicher Samstagnachmittag. Wie jede Woche um diese Zeit öffnete Will blinzelnd seine Augen. Er wälzte sich langsam herum, um auf dem Rücken zu liegen und kramte in seiner Hosentasche auf der Suche nach einer Zigarettenschachtel. Das einzige was er fand, war eine lose und geknickte Zigarette. Er begradigte sie etwas und steckte sie sich in den Mundwinkel, dann zündete er sie an. Nach dem ersten Zug hievte er seinen Körper an dem Sofa hoch, das unter dem Gewicht knirschte, und ließ sich dann darauf nieder. Durch die Gardinen drang fahles Licht, das schon ausreichte, um bei ihm Kopfschmerzen auszulösen. Dass er auf dem Boden zwischen seinem Sofa und einem großen, runden Fleck Erbrochenem geschlafen hatte, störte ihn mittlerweile nur noch wenig. Ihn störten nur noch die hämmernden Kopfschmerzen, dass er nicht mehr wusste wie viel Geld er für Drinks ausgegeben hatte und dieser kleien Fleck auf seinem Hemdärmel, der entweder Erbrochenes oder Blut war.
Langsam strich er mit der Hand durch die dunkelbraunen Haare und kratzte sich am Hinterkopf. Er gähnte leise und dachte: „Das wird wieder einer dieser Tage, die sich so anfühlen, als würden sie ewig dauern.“ Dann stand er auf und verließ die Wohnung, beinahe fluchtartig. Im Flur lief er seiner Nachbarin über den Weg: eine stets freundliche ältere Dame, die auch alleine wohnte. Sie war zusammen mit ihrem Vulpix einkaufen gewesen. Sie grüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln und ihr Vulpix quiekte freudig. Will ging wortlos an ihnen vorbei, hinaus, mitten in das grelle Licht der Sonne. Mit zusammengekniffenen Augen sah er sich um, das dröhnen in seinem Kopf wurde wieder stärker. Leise fluchend setzte er seinen Weg fort.
Will hatte nie viel mit Pokémon zu tun haben wollen, er ging ihnen sogar aus dem Weg. Als er zehn, elf Jahren alt gewesen war, sah das natürlich anders aus. Er spielte wie jedes andere Kind gerne mit den Pokémon und meldete sich bei der Trainerschule an, aber irgendwann änderte sich das. Heute mochte er sie nicht einmal mehr anfassen. Ihm fehlte jedes Verständnis dafür, warum Menschen so an ihren Pokémon hingen und sie als Freunde bezeichnen konnten.

Die erste Station war wie immer der Supermarkt. Will kaufte einen kleinen Snack, der erstmal den größten Hunger stillen würde, und ein Getränk. Danach ging er in die Spielhalle, der beste Ort, um einen hartnäckigen Kater auszukurieren. Zwar hatte er dort noch nie mehr als ein paar Münzen am Tag gewonnen, aber das gedämpfte Licht und die leisen Töne der Spielautomaten waren genau das, was ihm an diesem Ort gefiel. Zudem verspürte niemand das Bedürfnis sich mit ihm zu unterhalten, all diese stummen Zombies hockten vor ihren Automaten und hofften auf den großen Gewinn.
Will setzte sich vor seinen üblichen Automaten in einer dunklen Ecke und warf die erste Münze ein. Dort blieb er bis spät in der Nacht, warf Münze um Münze ein und stand nur auf, um sich etwas zu essen oder einen Drink zu kaufen. Gegen Mitternacht verließ Will die Spielhalle. Leicht schwankend nahm er den Weg durch den Park. Es war der kürzeste Weg und er lief nur selten Gefahr jemandem über den Weg zu laufen, der ihn kannte. Nur manchmal gingen Menschen an ihm vorbei, lachend oder sich in den Armen liegend.

Wills Eltern lebten schon seit drei Jahren nicht mehr, sie starben beide bei einem Autounfall. Sein Bruder hatte nach dem Unfall die Stadt verlassen, um ein besserer Trainer zu werden – das war wohl seine Art gewesen, um mit den Vorfällen klar zu kommen. Will verstand ihn noch nie, genau wie sein Bruder ihn nicht. Das war schon immer so gewesen, selbst als sie noch klein waren. Während Will schon Zuhause war und fernsah, nutze sein Bruder jeden Moment, um draußen bei den Pokémon zu sein und sie zu trainieren. Ihre Eltern waren immer diejenigen gewesen, die die beiden zusammengehalten hatten und dafür sorgten, dass auch Will manchmal etwas Zeit mit seinem Bruder verbrachte. Nun jedenfalls lebte sein Bruder am Kap des Glücks, trainierte Pokémon und schickte ihm jedes Jahr eine Karte. Und Will versank langsam aber sicher in grenzenloser Gleichgültigkeit.

Mit schleppenden Schritten trat Will vor die Tür, schloss sie auf und schob sich langsam hinein. Er sank in das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Während er den Nachrichten lauschte, zog er sich die Schuhe aus. Dann legte er sich längs auf das Sofa und fiel in einen tiefen Schlaf, während sich nur ein Gedanke in seinem Kopf umher wand: Es war kein gutes Leben, aber das beste, was man bekommen konnte, wenn man nicht dafür arbeiten wollte. In solchen Nächten sorgte er sich um nichts mehr, nciht einmal darum, das die Stromrechnung mal wieder viel zu hoch ausfallen würde, weil die ganze Nacht der Fernseher lief.

Der nächste Tag brach an und Will schreckte hoch. Schweiß stand auf seiner Stirn, die Augen waren geweitet. Hektisch wand er seinen Kopf nach rechts und nach links und sank dann urplötzlich wieder in das Sofa. Er zündete eine Zigarette an und starrte an die Decke. Ein Albtraum, nicht worüber er lange nachdenken sollte, aber trotzdem beschäftigte es ihn. Der Traum war seltsam und verwirrend, beinahe so als wolle er ihn vor irgendetwas warnen, das niemals passieren würde.
Nachdem Will den Albtraum abgeschüttelt hatte und die Zigarette am Ende war, richtete er sich auf, schaltete den Fernseher aus und verließ die Wohnung. Auf dem Flur traf er das Vulpix seiner Nachbarin, das ganz allein vor der Tür lag. Er blickte es nur kurz an und ging daran vorbei. Draußen empfing ihn wieder diese grässliche Sonne. "Scheiße." murmelte er.
An diesem Tag ging er ohne Umwege in die Spielhalle und hockte sich vor seinen Automaten. Er hatte keinen Hunger und auch kein Verlangen jetzt etwas zu trinken, er wollte nur spielen und sich entspannen. Gegen Abend hatte er sich von dem Albtraum erholt und schon einige Biere getrunken, was zusätzlich zur Hebung seiner Stimmung beitrug. Allmählich wurde es Zeit zu gehen, schließlich wollte er sich Morgen nach einem neuen Job umsehen. Ein letztes Mal wollte er noch das wohlige Gefühl verspüren, wenn sich die Räder drehten und er auf den großen Gewinn hoffte. In seiner Hosentasche fand er noch eine letzte Münze, die er in den Schlitz des Automaten steckte. Die Räder drehten sich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern bis das erste Rad stehen blieb, aber dann hielt es bei der großen roten Sieben an. Das zweite stoppte ebenfalls bei der Sieben. Langsam stieg Wills Puls an. Nur noch einmal und er würde endlich einen Preis für sein allwöchentliches Spielen bekommen. Die Finger umklammerten den Automaten. Das dritte Rad verlangsamte sich, eine Traube, eine Zitrone und schließlich hielt es bei der Sieben. Ein schriller, metallischer Ton erklang und rotes Licht blinkte auf. Aus dem Automaten strömten hunderte Münzen. Bevor Will überhaupt realisieren konnte, was geschehen war, hatte er die Hände voller Münzen. Ein schmales Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Endlich hatte er gewonnen und nicht nur das, er hatte den Jackpot gewonnen.
Will ließ genüsslich die Münzen auf den Tresen der Gewinnausgabe prasseln. Sie bildeten einen großen Haufen und als die letzte Münze zwischen seinen Finger hindurch geglitten war, fragte Will: „Was bekomme ich dafür?“
Die Frau hinter dem Tresen lächelte ihn an.
Sie können sich die Münze in bar auszahlen lassen oder sich einen unserer drei großen Hauptgewinne aussuchen.“
Sie deutete auf das oberste Regal hinter ihr. Dort standen drei grüne Kisten mit der großen Aufschrift Hauptpreis.
Will wusste, dass er zwar viele Münzen gewonnen hatte, aber sie würden niemals lange genug reichen, um unabhängig von jedem Job zu sein, aber der Hauptpreis war etwas woran er lange Freude haben könnte. Er wollte etwas haben, womit er sich lange an diesen Triumph erinnern konnte. Und das sollte ein Hauptpreis sein.
„Ich nehme den rechten Hauptpreis!“
Wills Zeigefinger sprang auf die Kiste und sein Mund formte sich zu einem breiten Grinsen. Die Frau nahm sogleich die Kiste von dem Regal und stellte sie auf den Tresen. Danach machte sie sich daran die Münzen einzusammeln. Will riss die Kiste auf und fand…einen Pokéball. Die Freude schlug in Wut um und er stellte das kleine runde Ding auf den Tresen.
„Warum tun sie mir das?“ fragte Will leise.
Er war kurz davor über den Tresen zu springen und die Frau am Hals zu packen. So lange hatte er um den Hauptpreis gekämpft, der nichts weiter als ein Pokéball war, wahrscheinlich auch noch mit einem Pokémon in ihm.
Die Frau sah ihn nur an und lächelte.
Will bändigte seine Wut etwas, schnappte sich übellaunig den Ball und drehte sich um. Er ging aus der Spielhalle, immer noch voller Unverständnis für den vermeintlichen Hauptpreis. Warum musste ausgerechnet er einen Pokéball gewinnen. Nun wollte er das Ding loswerden, am besten zu einem guten Preis.

Wills Suche nach einem Käufer des Balls führte ihn in das Pokémon-Center der Stadt. Ein kleines, fast niedliches Gebäude mit einem etwas schiefen Dach. Obwohl es nicht weit von seiner Wohnung entfernt stand, hatte er es bis jetzt noch nie bemerkt.
Er ging durch die Tür und steuerte zielsicher – jedenfalls so zielsicher wie man mit fünf Bier im Blut sein konnte – auf den Tresen zu. Dort stand eine Krankenschwester, vielleicht an die vierzig Jahre alt, mit langen braunen Haaren und verschlafen dreinblickenden Augen, die ihn gleichgültig ansahen. Will legte den Pokéball auf den Tresen und sah sie an.
„Möchten Sie das Pokémon in Behandlung geben?“ fragte die Schwester gelangweilt.
„Ich möchte es verkaufen.“
„Sie möchten es verkaufen?“
Ihre Langeweile wich Abscheu.
„Ja, das habe ich gesagt.“
„In einem Pokémon-Center können sie ihr Pokémon von Verletzungen heilen lassen oder es mit anderen tauschen, aber es gibt wohl keinen Ort auf dieser Welt, wo sie ihr Pokémon einfach verkaufen können. Was muss ein Pokémon tun, um diese Behandlung verdient zu haben?“
Will fühlte sich wie jemand, der keinen Spaß versteht in einem Haus voller Komiker. Anscheinend wussten alle über die Welt und die Pokémon bescheid, nur er hatte verpasst darüber aufgeklärt zu werden.
„Und was soll ich jetzt damit?“
„Was ist es überhaupt für ein Pokémon?“
„Ich weiß es nicht.“
„Dann lassen Sie es doch heraus und sehen es sich an. Ich bin mir sicher, dass es nicht so schlecht ist, wie Sie glauben. Bestimmt werden Sie sich gut miteinander verstehen.“
„Und wie soll ich das machen?“
Es war schon einige Jahre her, dass er zuletzt einen Pokéball in der Hand gehalten hatte, geschweige denn benutzt. Er nahm den Ball in die Hand und betrachtete ihn genau. Die Schwester seufzte angesichts seines hilflosen Verhaltens. Sie hatte sicher besser zu tun, als einem Idioten die Welt zu erklären. Irgendwann nahm sie ihm den Ball aus der Hand.
„Zuerst müssen Sie ihn aktivieren.“ sagte sie. Sie drückte auf den weißen Knopf an der Vorderseite des Balls worauf dieser sich in ihrer Hand vergrößerte. „Dann müssen Sie den Befehl geben, dass das Pokémon seinen Ball verlassen soll. Pokéball los!“ Der Ball öffnete sich und ein heller Strahl schoss heraus.
Vor Wills Augen erschien ein Evoli auf dem Tresen. Es starrte ihn mit großen Augen an. Will sah es ebenfalls an und kratzte sich am Kopf.
„Und jetzt? Kann ich es nicht irgendwie…loswerden…gegen Geld?“
Die Krankenschwester sah ihn zornig an. Sie hob das Evoli hoch und drückte es ihm zusammen mit dem Pokéball in die Hand. „Sie werden sich mit ihm anfreunden müssen“ sagte sie und schob ihn hinaus.

Regungslos saß Evoli neben Will auf der schmalen Treppe zum Pokémon-Center. Jedes Mal wenn Will fluchte oder die Zigarette zum Mund führte, sah es zu ihm hoch. Nach einiger Zeit sah Will es an. Nun schien es zu lächeln. „Willst du nicht einfach gehen?“ fragte Will leise. Das Pokémon sah ihn weiter stumm an. Will stand auf. „Also ich geh jetzt Nachhause. Du kannst machen was du willst, ist mir egal.“ Er ging zur Straße und drehte sich noch mal. Evoli saß immer noch da. Als er weiter ging, hörte er leise, klappernde Geräusche hinter, zuerst entfernt, dann direkt hinter ihm. Will wand sich um und Evoli setzte sich vor ihn hin. „Scheiße.“ Will wollte sich nicht weiter darum kümmern, was das Pokémon machte. Vor seiner Wohnungstür angekommen blieb er stehen und sah Evoli an – es schien immer noch genauso fröhlich zu sein wie zuvor. „Na gut. Für eine Nacht kannst du bleiben, aber wenn du morgen nicht gehst, schick ich dich mit einem Tritt aus dem Fenster. Hast du das verstanden?“
Will ließ sich langsam auf dem Sofa nieder und Evoli tat es ihm gleich, doch er schubste er wieder auf den Boden. Mit dem finstersten Blick den er in seinem müden Zustand noch zustande bringen konnte, sah er das kleine Wesen an, das sich nun auf dem Boden zusammenrollte.
„Ich weiß, du hast sicher besseres verdient, aber du musstest leider bei dem wahrscheinlich einzigen Menschen auf diesem Planeten landen, der Wesen wie dich nicht leiden kann. Du bist frei und kannst jederzeit gehen, zu einem Kind, das sich über dich freuen würde. Also verschwinde so schnell wie möglich.“
Er legte sich längs auf das Sofa, den Kopf auf der Lehne ruhend, und schloss die Augen.

Mit den üblichen Kopfschmerzen erwachte Will am nächsten Tag. Er hob seinen Kopf von der Lehne und das erste was er sah war Evoli, das neben ihm lag. Sofort stieß er es mit dem Fuß herunter und stand auf. Schleppend stolperte er zur Tür und öffnete sie. „Du warst jetzt lang genug hier. Es wird Zeit, dass du verschwindest, für immer.“
Evoli schaute ihn mit traurigen Augen an.
„Nun geh doch endlich.“
Es sah ihn immer noch an.
Jetzt schloss Will die Tür und ließ sich auf das Sofa fallen. Er rieb sich durch das Gesicht und seufzte laut. Müde sah er das Pokémon an, das nun wieder mehr Zuversicht in seinem Blick trug. Anscheinend wollte es ihm unbedingt dabei helfen seinen Hass gegenüber Pokémon zu bewältigen.
„Was erwartest du denn von mir? Ich kann mit Pokémon nicht umgehen.“
Allmählich kamen immer mehr Erinnerungen aus seiner Kindheit zum Vorschein, die er so lange unterdrückt hatte. Wie gern war er doch mit den Pokémon zusammen gewesen. Er wollte Trainer werden, der beste der Welt, und große Turniere gewinnen. Aber all das täuschte nicht über seine Unzulänglichkeit im Umgang mit Pokémon hinweg. Nach einem Vorfall in der Trainerschule verdrängte er den Wunsch bis er irgendwann vollends vergessen war.
„Ich möchte nur, dass du verstehst, dass ich dir nichts bieten kann. Ich kann dich nicht trainieren, ich kann dich nicht erziehen und nicht dein Freund werden. Das habe ich schon versucht und es hat nur Menschen verletzt.“
Sein Evoli sprang auf seinen Schoß und rollte sich zusammen. Es murrte leise, das erste Geräusch, das es von sich gab seit es aus dem Pokéball gekommen war. Will legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Er konnte das Wesen nicht mehr loswerden, also musste er alles versuchen, damit sich die Katastrophe von vor vierzehn Jahren nicht wiederholte. Und jetzt, wo er den warmen Körper auf sich spürte, wusste er, dass er alles versuchen würde.

Als die Sonne schon untergegangen war, wachte Will auf. Verwirrt blickte er auf seine Armbanduhr. Als er die Uhrzeit sah, schloss er sogleich wieder die Augen. Wenige Minuten später schlug er die Augen auf. Evoli schlief immer noch in seinem Schoß und schien sich kein bisschen geregt zu haben. Er weckte es. Evoli öffnete die Augen und sah ihn fröhlich an, dann sprang es zur Tür. Gähnend erhob sich Will und öffnete die Tür. Evoli sprang sogleich hinaus in den Flur und hüpfte in freudiger Erwartung auf und ab.
„Was willst du?“ fragte Will verschlafen.
Evoli sah zur Haustür.
„Es ist mitten in der Nacht. Ich werde jetzt keinen Spaziergang mit dir machen.“ Evoli starrte ihn mit seinen großen Augen an. „Wenn du glaubst, dass ich nur mit dir gehe, weil du mich traurig anschaust, dann liegst du falsch. Meinetwegen kannst du allein gehen.“

Fröhlich stolzierte Evoli durch den Park, schnupperte mal an Bäumen oder kroch durch das Gebüsch. Will blieb immer wieder stehen, um zu sehen, wo sein Pokémon schon wieder hin verschwunden war. Manchmal setzte er sich auch auf eine Parkbank, wurde jedoch jedes Mal wieder durch Evoli aufgeschreckt, das wild an ihm vorbei lief. Irgendwann saßen sie beide auf einer Bank, müde von dem Spaziergang. Sie blickte beide in den Himmel hinauf. Die Sterne waren klar zu sehen und der Mond war ein großer, heller Kreis. Es war die schönste Vollmondnacht, die Will je erlebt hatte – und das auch noch vollkommen nüchtern. Dieser Anblick weckte eine längst verdrängte, sanfte Seite in ihm. Nach einiger Zeit sah er sein Pokémon an.
„Was soll ich nur mit dir machen? Ich sollte dich nicht besitzen. Hoffentlich verstehst du mich.“
Evoli sprang auf und leckte seine Hand. Es sah zu ihm auf und schenkte ihm ein Lächeln, das zu sagen schien, dass alles nicht so schlimm war wie er glaubte. Will glaubte zu sehen, dass es ihn wirklich verstand.
„Du verstehst mich...wenigstens ein bisschen.“ Er seufzte hörbar. „Ich hatte mal einen Traum, ich wollte reisen, fremde Orte sehen, Pokémon fangen, Pokémon kennen lernen und ein großer Trainer werden. Aber manchmal reicht ein einziger Moment im Leben aus, um alles zunichte zu machen, alles in Frage zu stellen.“
Mit einem Satz sprang Evoli auf seine Schulter und rieb sein Gesicht an Wills Wange. Es lächelte immer noch und Will verstand nicht warum. Er konnte sich zwar auch ein leichtes Lächeln abringen, doch dann verfiel er wieder in eine nachdenkliche Haltung.
„Wenn ich dich ansehe, erscheint mir alles so einfach, als könnte ich es wirklich schaffen, zumindest in der Welt zu überleben. Sollten wir wirklich unser Glück herausfordern und es wagen, ist es das, was du wirklich willst. Na ja…meinen Trainerpass habe ich noch…irgendwo. Aber das ist ein schwieriger Schritt. Du wirst akzeptieren müssen, dass es ein gewisses Risiko gibt. Willst du es wirklich versuchen?“
Evoli nickte.
„Dann tun wir es. Was haben wir schon zu verlieren.“
Für einen Moment erschien wieder der glückliche kleine Junge vor seinen Augen, der seinen Traum ohne Kompromisse verfolgen wollte. Es machte den Anschein, als würde er endlich aus seiner alltäglichen Lethargie gerissen, und das innerhalb eines kurzen Augenblicks zwischen seinen letzte Worten und einem Blick in die Augen des Pokémons.

Der nächste Morgen brach an und aus Wills Wohnung drangen laute Geräusche nach außen, ungewohnt für diese Zeit. Kisten und Koffer lagen in der kleinen Wohnung verteilt und dazwischen lose Kleidungsstücke und andere Dinge. Will stopfte einige von den Kleidungsstücken notdürftig in seinen großen Rucksack. Der Schlafsack lag schon eingerollt und gut verschnürt daneben. Evoli sprang zwischen all der Unordnung herum und war sichtlich erfreut.
Als alles verstaut war, erhob sich Will, warf den Rucksack auf seinen Rücken, schob den Pokédex und Evolis Pokéball in seine Hosentasche und setzte seine Sonnenbrille auf. Dann drehte er sich zu Evoli um und blickte es entschlossen an.
„Wir werden wahrscheinlich nach einigen Tagen wieder zurückkehren…oder gar nicht. Wir könnten von wilden Pokémon angegriffen werden und sterben. Hoffentlich weißt du, worauf du dich da einlässt, Evoli.“
Evoli stieß einen Laut aus.
„Dann lass uns gehen. Nein…wir brauchen noch Verpflegung und Geld.“ Er ließ sich wieder auf dem Sofa nieder. „Wir sollten es morgen noch mal versuchen.“
Daraufhin sprang Evoli auf seine Schulter und stieß ihn an.
„Ich habe keine Ahnung, wie du das schon wieder geschafft hast, aber wir werden gehen, heute oder nie. Anscheinend weißt du, was du machen musst. Also lass uns gehen.“

Der Pokémon-Supermarkt hatte gerade neue Ware bekommen, die Regale waren voll gefüllt. Will stand in einem der Gänge, umringt von dem übermäßigen Angebot, und wusste nicht, was er mitnehmen sollte. Schließlich nahm er das einzige mit, an das er sich noch erinnern konnte: zwei Tränke. Er ging zur Kasse und legte sie auf den Tresen.
Der Verkäufer lächelte und fragte: „Darf es noch etwas sein?“
Will dachte einen Moment lang nach. Dann: „Ich möchte noch Pokébälle.“
Es klang bizarr, dass ausgerechnet er noch ein paar Pokébälle brauchte, aber in diesem Moment dachte er nur darüber nach, was ein echter Trainer, einer der wusste was er tat, kaufen würde.
„Und wie viele möchten Sie.“
Der Verkäufer hatte die Hände schon unter dem Tresen und kramte in einer kleinen Schublade herum.
„Vier.“
Seine Antwort klang wie eine Frage. Er wusste nicht, ob es ausreichend war oder zu viel. Vielleicht würde er überhaupt keine Pokébälle gebrauchen, aber vielleicht – und das erschien ihm als unwahrscheinlicher – war er doch besser, als er dachte und das Fangen von Pokémon kein Problem für ihn.
Der Mann hinter dem Tresen legte die vier Bälle neben die Tränke und betätigte die Kasse.
„Das macht dann 5000 Pokédollar.“
Will war abrupt aus jedem Gedanken herausgerissen und starrte den Mann wortlos an. Niemals hätte er gedacht, dass das so viel kosten würde.
„Ist das Ihr ernst? Die Sachen kriege ich woanders bestimmt billiger.“
„Die Supermärkte sind alle Teil der internationalen Pokémon-Liga und unterliegen somit einer wirtschaftlichen Vereinbarung der verschiedenen nationalen Ligen. Die Preise sind überall gleich: in jeder Stadt und in jedem Land. Wenn Sie ein offizieller Trainer sind, bekommen Sie natürlich die üblichen Rabatte auf alle Pokébälle und Tränke. Dann würde das Ganze nur 100 Pokédollar kosten.“
„Ich bin ein offizieller Trainer. Hier ist meine Lizenz.“
Will nahm den Pokédex aus seiner Hosentasche und zeigte ihn dem Mann. Der Verkäufer nahm ihn Will aus der Hand, betrachtete ihn und gab ihm das Gerät zurück.
„Ihre Lizenz ist seit vier Jahren abgelaufen. Sie haben vergessen sie zu erneuern.“
„Aber ich bin ein Trainer. Ich habe die Pokémonschule besucht und besitze einen Pokédex. Machen Sie doch mal eine Ausnahme. Das ist wirklich wichtig.“
„Da kann ich leider nichts machen. Ich habe strikte Anweisungen.“
Will spürte schon wieder diese ungewohnte Anspannung in seinen Muskel und das Gefühl von Wut.
„Vielen Dank dafür, Arschloch.“
Evoli, das auf seiner Schulter saß, murrte leise.
Will wand sich um und wollte gehen, aber in dem Moment sah er einen alten Mann in der Tür stehen, ein bekanntes Gesicht. „Anscheinend hast du Probleme.“ sagte der Mann und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. In seinem faltigen Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab.
„Mischen Sie sich nicht ein.“
Er drängte sich an dem alten Mann vorbei hinaus und beschleunigte seinen Schritt.
„Warte doch.“ rief der Mann ihm hinterher.
Will blieb nicht stehen, doch das hielt den alten Mann nicht davon ab unerwartet leichtfüßig hinter ihm her zu laufen. Als er Will eingeholt hatte, blieb dieser stehen.
„Ich brauche keine Hilfe von Ihnen, Professor Clam.“
„Wie ich sehe, willst du es wieder wagen. Ich wusste, dass du den Vorfall irgendwann verarbeiten würdest. Dein Pokémon sieht zufrieden aus. Das freut mich.“
„Ich habe Ihnen schon damals gesagt, dass ich nichts mehr mit Ihnen oder irgendjemandem aus der Schule zu tun haben will. Also verschwinden Sie. Es gibt nichts, worüber wir reden sollten.“
Professor Clam sah betreten zu Boden. Sein Gesicht wirkte noch mehr von Falten gezeichnet, als zuvor. Er hätte bei Will Mitleid ausgelöst, wenn er noch irgendein Gefühl außer Hass für ihn hegen würde oder für irgendjemand anders.
„Ich kann deine Lizenz erneuern. Das ist keine große Angelegenheit, ich kann es gleich hier machen.“
„Dann tun Sie es.“
Will gab ihm seinen Pokédex und nach wenigen Minuten gab Professor Clam ihn wieder zurück. Er hatte nur auf irgendwelchen Tasten herumgedrückt und schon war es vollbracht.
„Deine Lizenz ist für weitere zehn Jahre gültig. Nimm bitte auch dies von mir.“ Professor Clam überreichte ihm drei Pokébälle und etwas Geld. „Du kannst uns nicht ewig die Schuld daran geben.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren nahm Will die Pokébälle und das Geld und kehrte Professor Clam den Rücken zu. Er wollte sich nicht bei ihm bedanken oder auch noch ein Wort mit ihm wechseln.
„Wir sehen uns wieder, wenn du in der Pokémon-Liga bist!“ rief Professor Clam ihm noch hinterher, bevor Will in einer Seitenstraße verschwand. Kurz darauf setzte auch er seinen Weg fort.

Zusammen mit seinem Evoli stand Will vor dem Ausgang der Stadt, der Grenze zwischen seinem alten Leben und dem Leben, was er sich als Kind gewünscht hatte. Vor ihnen, kurz hinter den weiten Blumenfeldern, sahen sie schon den düsteren Kriechwald. Will sah Evoli an und Evoli sah zu ihm hoch. „Wenn wir da hineingehen, gibt es kein zurück mehr…das gibt es ohnehin schon nicht, weil Professor Clam davon weiß. Er wird es sicher überall herum erzählen. Du kannst immer noch abhauen.“
Evoli sah ihn unvermindert an.
„Dann lass uns den anderen Trainern in den Arsch treten.“
Dann gingen sie los.
Bevor sie an den ersten Bäumen des Kriechwaldes vorbeikamen, blieb Will noch einmal stehen und drehte sich zu der Stadt um. Eigentlich hatte er sie nie verlassen wollen, eigentlich wollte er dort in aller Ruhe sterben, und nun verließ er die Stadt, mit einem Wesen, das er eigentlich hasste.
Er wand sich wieder zu dem Wald um und setzte einen Fuß vor…und lag auch schon mit dem Gesicht auf dem Boden, bevor er überhaupt wusste, was geschehen war. Fluchend hob er seinen Kopf von dem schmutzigen Untergrund und wand seinen Kopf herum. Ein Stein, nichts weiter. Er war über einen einfachen Stein gestolpert.
Aus der Ferne erklang lautes Gelächter. Ein Junge kam auf ihn zu, mit langen roten Haaren und schmalen grünen Augen. Neben ihm lief ein Glutexo, ebenso belustigt wie sein Trainer. Will erhob sich schnell und klopfte den Schmutz von seiner Hose. Der Junge blieb vor ihm stehen. Er war höchstens zehn Jahre alt, hatte wohl gerade seine Lizenz bekommen, aber er wirkte schon wie ein gestandener Trainer.
„Du bist noch nicht mal im Wald und stolperst schon über deine eigenen Füße, das ist wirklich meisterhaft. Du wirst bestimmt der neue Pokémon-Meister.“
Evoli fauchte hörbar und richtete sich neben Will auf.
„Du bist ganz schon frech für eine halben Portion. Ich sollte mal mit deinen Eltern reden.“
„Ja,ja.“ Erwiderte der Junge gelangweilt. „Ich hoffe wirklich, dass ich noch viel von dir sehen werde. Das könnte lustig werden.“
Der Junge lachte erneut und ging an Will vorbei, der sich ohnehin nicht weiter auf eine Diskussion einlassen wollte. Will sah ihm hinterher, wie stolz und selbstsicher er mit seinem starken Pokémon in den Wald hinein stolzierte, als wäre das nur eine kleine Aufgabe. Dieser freche Junge hatte all das, was Will früher gefehlt hatte.
„Ich versteh die Kinder von heute nicht.“ sagte er zu Evoli. Kurz darauf gingen sie ebenfalls in den Wald hinein.


Ende der ersten Episode. Sagt mir, was ihr davon haltet, gebt Verbesserungsvorschläge oder ergießt eure philosophischen Gedanken über mich.
 
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Hollow Point

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Die zweite Episode ist da!

Episode 2: Das kleine Survival-Handbuch


Schmale Sonnenstrahlen drangen durch das Laubwerk des dicht bewachsenen Kriechwaldes, die erste Wärme des Tages drang in den Wald ein. Die eisigen Temperaturen, die noch in der Nacht geherrscht hatten, sollten bald der Vergessenheit angehören. Dünner, tief hängender Nebel zog durch den Wald.
Einige der wärmenden Strahlen trafen Will, der an einem Baumstamm lehnte. Er war durchgefroren, die Lippen blau. Sein Schlafsack hatte ihn nur dürftig vor der Kälte geschützt. Er lag die halbe Nacht lang wach. Niemals hätte er gedacht, dass es um diese Zeit des Jahres nachts schon so kalt werden konnte. In seinem Schoß, verdeckt von dem Schlafsack und seinen zitternden Händen, lag Evoli. Das Fell des Pokémons war wüst, die Augen hinter den geschlossenen Lidern zuckten bei jedem Atemzug.
„Scheiße.“ Das Wort schoss zornig und zugleich matt aus seinem Mund. „Ich hätte auf diesen Jungen hören und einfach Zuhause bleiben sollen. Was hat mich nur zu dieser Wahnsinnsidee gebracht?“
Gerade in diesem Moment öffnete Evoli die Augen und sah Will an. Ein Lächeln huschte über das Gesicht des Pokémons, dann sprang es mit einem Satz auf, stemmte seine Vorderpfoten gegen Wills Brust und leckte ihm die Wange. Es hatte die Nacht besser überstanden als Will und nicht nur das, es hatte auch seine unerschütterliche Zuversicht behalten.
Will schob es von sich und krabbelte mühsam aus dem Schlafsack. Als er sich befreit hatte, lag er noch einige Zeit im Gras und verschnaufte, dann erhob er sich, mühevoll aber stetig. In einer stark gekrümmten Haltung lehnte er an dem Baumstamm, die Hände zitterten immer noch vor Kälte.
„Ich habe in meinem Rucksack noch etwas, das wir jetzt sehr gut gebrauchen können.“ sagte Will leise.
Er stapfte zu seinem Rucksack, fiel auf seine Knie und öffnete ihn. Vorsichtig hob er eine Glasflasche, in der eine klare Flüssigkeit schwamm, heraus.
„Komm her.“
Evoli folgte seiner Aufforderung und ließ sich neben ihm nieder.
„Ich wusste, dass ich das irgendwann gebrauchen würde. Das wird die Wärme wieder zurück in unsere Körper bringen. Der beste Schnaps, den es in ganz Luftstadt gibt, also trink mit Genuss.“
Nun holte Will noch eine kleine Plastikschale aus dem Rucksack und stellte sie vor Evoli in das noch feuchte Gras. Er gab einen kleinen Schwall von dem Getränk in die Schale, dann nahm er selbst einen großen Schluck aus der Flasche.
„Du musst trinkfest werden, wenn du mit mir unterwegs sein willst.“ Dann trank er erneut aus der Flasche.
Als Evoli sah, dass sein Trainer die Flüssigkeit mit dem seltsamen und zugleich abstoßenden Geruch trank, nahm es auch einen Schluck davon. Evoli verzog das Gesicht und ein helles Husten erklang aus seinem Mund. Ein Gefühl der Taubheit machte sich auf der Zunge breit. Es sah zu Will auf und er nickte, daraufhin trank es seine Schale leer.

Nur unweit, annähernd zwei Kilometer, von dem Ort an dem Evoli notgedrungen übernachtet hatten, schlug sich eine Gestalt durch das Dickicht. Als die Person eine Lichtung erreichte, blieb sie stehen und blickte durch die Baumkronen hindurch in den blauen Himmel. Die Person war eine junge Frau, siebzehn Jahre alt, mit dem Namen Sarah Lovell. Sie kam gerade aus Luftstadt, wo sie vor einigen Tagen mit dem kleinen Flugzeug aus Tramia City angekommen war.
Wind strich sanft durch ihre blonden, schulterlangen Haare. Es war ein schöner Tag, um durch einen unheimlichen Wald zu wandern: viel Licht drang durch das Laubwerk, der Nebel hatte sich verzogen.
Ein Abra steckte zögerlich den Kopf aus der großen Umhängetasche, die schwer auf Sarahs Schultern lastete. Es sah zu ihr hinauf.
Sarah entging der Blick nicht, den sie schon oft bei ihrem Pokémon gesehen hatte. „Hast du Hunger?“ fragte Sarah, obwohl sie die Antwort schon kannte.
Das Abra wurde nun ganz unruhig, was eigentlich ungewöhnlich war, da es um diese Zeit meistens noch schlief oder wieder schlief. Es stieß einen hohen Laut aus und trommelte mit dem Schwanz gegen die Innenseiten der Tasche.
Sarah setzte sich auf einen großen Stein, inmitten der Lichtung, und stellte die Tasche neben sich ab. Sogleich kroch das Abra hinaus und machte es sich auf ihrem Schoß bequem. Es schien schon wieder so müde zu sein.
„Du musst dich noch einen Moment gedulden.“ ermahnte sie Abra.
Sarah nahm ihre Tasche zur Hand und zog zuerst einen Pokéball hinaus. Sie entließ ihr zweites Pokémon, das Hunduster, ins Freie und machte sich dann daran, das Frühstück zuzubereiten.
Ihr Hunduster besaß sie noch nicht so lange, weswegen es noch etwas eigenwillig und ablehnend gegenüber seinem neuen Trainer war. Es hielt sich meist ein Stück weit von ihr und Abra entfernt auf und knurrte, wenn Sarah es anfassen wollte. Sarah hatte es in Luftstadt von einem Bekannten geschenkt bekommen. Der hatte ihr zwar gesagt, dass es schwer zu erziehen war, aber sie hatte sich schon seit sie ein kleines Kind war so ein Pokémon gewünscht. Deswegen versuchte sie es.
Als Sarah das Frühstück für alle fertig hatte, stellte sie die Schale mit Futter für Hunduster auf den Boden, eine für Abra neben sich und aß dann selbst eine Kleinigkeit.

Will erhob sich von dem Gras, das noch feucht von dem Tau war. Er stopfte seinen Schlafsack in den großen Rucksack und schleifte ihn zu dem Baum an dem er geschlafen hatte. Dort lehnte er an dem massigen Stamm und nahm einen Schluck aus der halbleeren Flasche.
„Wir müssen jetzt gehen, wenn wir diesen Wald irgendwann wieder verlassen wollen. Komm, Evoli.“
Nun warf er den Rucksack auf seinen Rücken taumelte voran. Evoli blieb hinter ihm sitzen und kläffte leise. Will wand sich um. Er sah Evoli kurz an, dann seufzte er.
„Ist das dein ernst.“
Evoli kläffte erneut.
Nun hob Will es hoch und setzte es auf seine Schulter. So setzte er gemächlich seinen Gang fort.

Nachdem Will ungefähr eine Stunde gewandert war, kamen sie an einem kleinen Bach vorbei, fast völlig verdeckt von wild wachsenden Büschen und großen Steinen. Will kletterte über ein paar Steine und erreichte das vollkommen klare Wasser des Bachs. In diesem Augenblick sprang Evoli von seiner Schulter und trank hastig aus dem Bachlauf. Zunächst sah Will seinem Pokémon nur zu, unfähig sich zu bewegen, dann jedoch brachte er die Kraft auf, um seine Hände in das Wasser zu tauchen und das kühle Nass zu seinem Mund zu führen. Und es schmeckte gar nicht so schlecht, wie er erwartet hatte.
Es war bereits warm geworden, beinahe heiß, viel wärmer als in all den Wochen zuvor. Für manche Menschen wäre es der perfekte Tag gewesen, um durch den Kriechwald zu wandern oder am Strand zu liegen, aber nicht für jemanden, der bereits eien ganze Flasche Branntwein geleert hatte. Will wusste nicht einmal mehr, ob er überhaupt in die richtige Richtung lief und nicht wieder zurück nach Luftstadt. Eigentlich ging er immer grob gesehen in die gleiche Richtung, aber so richtig glaubte er auch nicht mehr daran. Will kam allmählich der Gedanke, dass er verloren war und das noch bevor seine Reise überhaupt angefangen hatte. Wenn er keine Hilfe fand, würde er niemals wieder einen Ausweg aus diesem Wald finden.
Als die beiden sich an dem Wasser des Bachs erfrischt hatten, hatten sie wieder etwas Kraft zurück gewonnen, nicht viel, aber genug um den nächsten Teil der Strecke in Angriff zu nehmen. Wie lange es noch dauern würde, wusste keiner so genau.

Die Mittagszeit brach an und der Tag erreichte seine höchsten Temperaturen. Eine schwüle Welle war über die Halbinsel gezogen und heizte den Wald nun noch mehr auf. Das Wetter vermittelte das Gefühl, das der Hochsommer kurz und heftig zurückgekehrt war.
Sarah war schon lange auf der Suche nach einem kühlen Fleck, wo sie sich ausruhen konnte, aber selbst im Schatten der Bäume drückte die schwüle Hitze ihr jeden Schweißtropfen aus den Poren. Doch ihr blieb nichts anderes übrig als unter einem tief gewachsenen Baum zu rasten, um wenigstens der größten Hitze zu entkommen. Notdürftig fächelte sie sich kühle Luft zu. Abra war schon längst wieder eingeschlafen und hatte sich in der Tasche eingerollt.
„Warum zum Teufel muss das so…“
Ein Knacken und Knirschen ertönte im Wald hinter Sarah. Erschrocken drehte sie ihren Kopf herum, doch da war nichts außer Schatten und Baumstämme. Schnell überflogen ihre Augen jeden Punkt, der verdächtig erschien. Da fielen ihr wieder die Geschichten ein, die sie von diesem Wald gehört hatte. Schon oft sollen ahnungslose Frauen, die durch den Kriechwald gingen von einem seltsamen Typen, der im Wald wohnte, überfallen und vergewaltigt worden sein…und noch schlimmer. Alle diese Fälle sollen auf solchen Lichtungen passiert sein und bis jetzt hatte noch niemand den Täter gefasst. „Warum bin ich nur zu Fuß gegangen?“ fragte sie sich.
Sarahs Blick blieb noch einige Minuten lang nach hinten gewandt, aber als sie nichts weiter hörte, versuchte sie sich wieder zu entspannen. Sie machte sich positive Gedanken: dachte an den Strand von Luftstadt, an die unbegrenzten Möglichkeiten, die sie haben wird wenn sie erstmal in Megaton City ist.
„Mir kann nichts passieren. Ich habe Pokémon, niemand würde eine Frau angreifen, die so starke Pokémon besitzt.“ Sie sah auf ihre Tasche herab in der Abra immer noch schlief. Dann fügte sie hinzu: „Außerdem habe ich Pfefferspray.“
Schnell griff sie nach der Dose, die in ihrer Tasche lag.
„Mir kann nichts passieren.“ wiederholte sie leise.

Will taumelte nur noch durch das Unterholz. Während Evoli schon längst von seiner Schulter gesprungen war, aus Sorge, dass er fallen und es mitreißen würde. Aber Will hielt sich hartnäckig auf den Beinen. Er wollte den Wald verlassen, so schnell er konnte. Sein Körper war dehydriert, kurz vor dem Kollaps, aber das ignorierte er. Zwischenzeitlich stützte er sich an einem Baum ab. Vor ihm verschwamm seine ganze Umwelt, überall wo er hinsah waren nur noch dunkle Striche und seltsame Lichtpunkte zu erkennen. Nun ging er langsam, hielt sich in der Nähe von den dunklen Strichen, die augenscheinlich Bäume waren. Irgendwann erschien ein großer, heller Kreis vor ihm. War das der Ausgang? Nein, er konnte noch nicht am Ende des Waldes angekommen sein. Aber was war dort – das grelle Licht besaß eine ungewohnte Anziehungskraft auf ihn, wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels.
Die leere Flasche glitt aus seiner Hand, die Schritte wurden schneller. Nur noch ein paar Meter. Dann stand er inmitten des hellen Kreises, umgeben von einer Wand aus Licht. Sein Blick wurde klarer, er sah Umrisse von Bäumen und die eines…Menschen. Die Person saß da, regungslos, stumm. Er näherte sich. Plötzlich zuckte die Person hoch und streckte die Arme nach ihm aus. Eine freundliche Geste? Er fühlte sich gerettet.
Will war nur noch zwei Armlängen von der verschwommenen Person entfernt und erkannte allmählich Einzelheiten im Gesicht des anderen. Eine Frau…nein, ein Mädchen, nicht älter als sechzehn Jahre, mit strahlend hellen, grünen Augen. Sie war fast einen ganzen Kopf kleiner als er.
Er näherte sich weiterhin. Doch jetzt zuckte das Mädchen zusammen, wand das Gesicht von ihm ab, aber die Arme blieben ausgestreckt.
Ein unbeschreibliches Stechen durchzog Wills Augen. Er stöhnte vor Schmerz, riss die Arme hoch und rieb sich durch die Augen. Aber das machte alles nur noch schlimmer. Tränen stiegen ihm in die Augen und ließen sein Sichtfeld abermals verschwimmen. Kraftlos sank er auf die Knie. Das hatte ihm den Rest gegeben. Bevor er mit dem Gesicht auf dem weichen Gras landete, flüsterte er noch: „Ich brauche doch nur Hilfe.“

Schockiert starrte Sarah den ohnmächtigen Mann an. Jetzt, wo sie ihn genauer betrachtete, sah er nicht aus wie ein Vergewaltiger, der im Wald wohnte, eher wie ein Landstreicher. Und er besaß ein Pokémon, ein Evoli, das verzweifelt versuchte, seinen Trainer zu wecken. Und aus seiner Hosentasche sah sie den Pokédex herauslugen. Und…sie hatte eindeutig einen Fehler gemacht, jegliche Beweise sprachen gegen ihre erste Vermutung, dass er sie vergewaltigen wollte. Aber nun war sie völlig hilflos und überfordert. Vorsichtig beugte sie sich herunter und tippte dem Mann auf den Hinterkopf. Das Gras neben seiner Nase wiegte sich durch seinen Atem hin und her, also war er noch am Leben – das beruhigte sie schon ein wenig. Aber trotzdem regte er sich nicht und von einer Ladung Pfefferspray konnte man doch nicht ohnmächtig werden. Sie beugte sich weiter herunter, um ihn genauer zu betrachten, doch da stieg ihr der penetrante Alkoholgeruch, der von dem Mann ausging, in die Nase.
„Welcher Trainer läuft den betrunken durch einen Wald?“ fragte sie überrascht und zugleich angewidert.

Es vergingen einige Stunden bis Will sein Bewusstsein zurück erlangte. Als er die Augen aufschlug, wurde es bereits dunkel. Er lag auf dem Rücken, mitten auf einer Lichtung, und konnte direkt in den Himmel schauen. Die Sonne war fast völlig untergegangen, sie hinterließ nur noch einen purpurnen Streifen am Himmel. Dazwischen standen die ersten Sterne. In diesem Augenblick fiel ihm wieder ein, dass er ohnmächtig war…und da war dieses Mädchen. Hastig richtete er seinen Oberkörper auf und fasste sich an den schmerzenden Kopf. Fast im selben Moment ertönte eine helle Stimme: „Du bist wach.“
Will wandte seinen Blick zur Seite. Das Mädchen saß vor einem munter knisternden Feuer und neben ihr ein Abra, fest eingeschlafen. Knapp zwei Meter von ihnen entfernt lag ein Hunduster im Gras und schlief. Erst jetzt spürte Will, dass er in seinen Schlafsack eingewickelt war. Neben ihm lagen alle seine Sachen, nur Evoli war nirgends zu sehen.
„Wo…“
Er brachte nicht mehr hervor, sein Mund war staubtrocken.
„Dein Pokémon ist in seinen Pokéball zurückgekehrt, als es wusste, dass es sich keine Sorgen machen muss. Ihr seid wirklich sehr gute Freunde.“ sagte das Mädchen.
Nun strampelte sich Will von dem Schlafsack frei und stand auf. Er näherte sich dem Feuer und dem Mädchen, doch er blieb auf der anderen Seite stehen und blickte sie über die lodernden Flammen hinweg an.
„Ich bin Sarah.“
Will setzte sich auf den Boden, wortlos und uninteressiert. Das hielt Sarah aber keineswegs davon ab weiter zu reden.
„Ich muss mich wegen dem Angriff mit dem Pfefferspray entschuldigen. Ich bin zum ersten Mal in diesem Wald unterwegs und dachte, du willst mir etwas antun. Während du ohnmächtig warst, habe ich deine Augen ausgewaschen. Es müsste nicht mehr lange wehtun.“
„Hast du etwas zu essen?“ fragte Will und gähnte mit weit offenem Mund.
„Ja, hier in meiner Tasche. Hast du Hunger?“
„Sonst würde ich nicht fragen.“
Will stand auf und ging um das Feuer herum. Er nahm die Tasche, die neben Sarah stand, öffnete sie und kramte darin herum.
„Es…es ist in der Seitentasche.“
Er riss den Reißverschluss der Seitentasche auf, kramte noch einen Moment lang darin herum und bekam dann einen großen Schokoriegel zu fassen. Das war besser als nichts und das Einzige, was er auf die schnelle essen konnte. Er warf die Tasche ins Gras und setzte sich wieder auf die andere Seite des Feuers. Schnell riss er die Verpackung des Riegels auf und biss davon ab. Nachdem er heruntergeschluckt hatte und kurz darauf einen weiteren Bissen davon genommen hatte, begann er zu sprechen: „Nur damit du es weißt: ich rede nicht gerne und…“
„Du bist also schüchtern.“ fuhr sie ihm dazwischen.
Wills Blick wurde finster und er fuhr fort.
„Nein, ich rede einfach nicht gerne, weil es mir lästig ist mit Menschen wie dir zu sprechen. Außerdem…“ Er biss von dem Schokoriegel ab. „Außerdem habe ich nicht nach deiner Hilfe gefragt und wollte ganz sicher nicht, dass du mich wie ein kleines Kind wäschst und mich zu Bett bringst. Und, nur um das klar zu stellen, dieses Pokémon ist nicht mit mir befreundet, das ist nichts von Belang. Hast du das soweit verstanden?“
Sarah nickte sprachlos.
„Es wundert mich, dass du auch mal den Mund halten kannst.“
Will kaute und schluckte den letzten Bissen des Schokoriegels herunter, dann warf er das Papier neben sich auf den Boden. Danach erhob er sich und ging zu seinem Schlafsack. Er rollte ihn zusammen und stopfte ihn in seinen Rucksack. Er nahm den Rucksack und den Pokéball von Evoli und drehte sich zu Sarah um.
„Was sollte das mit dem Pfefferspray überhaupt? Dachtest du wirklich, ich will dich überfallen?“
„Wie gesagt, ich war zuvor noch nie in diesem Wald und ich hatte gehört, dass ein Vergewaltiger sich hier herumtreiben soll.“
„Du dachtest also, ich will dich vergewaltigen?“
Sarah nickte, erneut sprachlos. Die ganze Situation war ihr so peinlich und sie hatte mit einer viel heftigeren Reaktion des Mannes gerechnet, wenn er aufwachte. Aber er fragte nur nach dem Warum, als würde er bei sich selbst die Schuld suchen oder damit rechnen, dass nur ihm so etwas passieren konnte. Er war merkwürdig und das machte ihn interessant. Er war wahrscheinlich jemand, über den man sich immer wieder wundern und den man niemals richtig verstehen konnte.
Eine minutenlange Pause trat ein. Schließlich stand Sarah auf.
„Und was hast du jetzt vor?“ fragte sie.
„Keine Ahnung. Ich wollte erstmal diesen verfluchten Wald verlassen.“
„Die nächste Stadt ist Megaton City, nur zwei Kilometer hinter dem Wald. Wahrscheinlich willst du dahin. Und ich will auch nach Megaton City, also kann ich dich doch begleiten…vielleicht.“
Will seufzte.
„Anscheinend hast du mir nicht zugehört, als ich dir gesagt habe, dass ich nichts mit dir zu tun haben will. Dann sage ich es dir jetzt noch mal und ganz langsam: Ich will, dass du mich in Ruhe lässt, verdammt!“
Sie richtete ihren Blick auf den Boden.
„Du bist aufgeschmissen ohne Hilfe.“
„Verflucht! Was willst du von mir?“
„Ich will dir nur meine Hilfe anbieten.“
Will sah sie an, musterte sie fast schon. Ihre Augen waren abgewandt, aus Angst vor einem erneuten Widerspruch. Die Hilfe, die sie anbot, war nicht hauptsächlich dafür verantwortlich, dass sie ihn aufhielt. Nein, sie erhoffte sich irgendeinen Nutzen. Aber was wollte sie wirklich? Und warum war er fast schon bereit sich darauf einzulassen? Diese beiden Fragen schwammen in seinem noch vom Alkohol betäubten Gehirn umher. Irgendwann kam er zu dem simplen Entschluss, dass er ihre Hilfe wirklich brauchen würde, um durch den Wald zu kommen.
„Hast du genug zu essen?“ fragte er und warf den Rucksack schon ab.
„Ja.“
„Gut, ich nämlich nicht.“
Dann setzten sie sich hin, jeder auf seine Seite des Feuers. Nach dieser hitzigen Diskussion kehrte nun eine unheimliche Stille ein. Will hatte die Zigarettenschachtel wieder gefunden, die er für Notfälle in eine Hosentasche gesteckt hatte. Er nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. Dann studierte er gelangweilt die Aufdrucke der Schachtel. Währenddessen streichelte Sarah ihr Abra. Doch irgendwann wurde die Ruhe für Sarah unerträglich.
„Also…“
„Sei still.“
Bevor sie womöglich wieder einen Wortschwall über in ergießen konnte, entzog er sich dem lieber. Will stand auf, ging zu seinem Rucksack und packte seinen Schlafsack wieder aus. Er kroch hinein und drehte Sarah den Rücken zu. Das verwunderte Mädchen sah ihn noch einige Zeit an. Dann: „Ich habe ein Zelt. Du musst nicht auf dem Boden schlafen.“
Zuerst murmelte Will ein paar unverständliche Sätze in den Saum des Schlafsacks, dann erwiderte er: „Du hast nicht zufällig vor, mich zu vergewaltigen, oder?“ fragte er herablassend.
„Nein.“ erwiderte Sarah kleinlaut.
„Trotzdem werde ich nicht in deinem Zelt schlafen.“

Mitten in der Nacht, es war schon fast drei Uhr morgens, wachte Will auf. Ein verspürte einen starken Druck auf der Blase, also erhob er sich notgedrungen. Mühsam versuchte er die Umgebung zu erfassen. Der Himmel war wolkenlos geblieben, sodass Will mithilfe des Mondscheins die wichtigsten Umrisse erkennen konnte. Ungefähr einen Meter weiter glimmten noch Reste von dem Feuer, das Sarah gemacht hatte, dahinter stand das Zelt – ein kleines Dreieck, das von seiner Größe wohl für zwei Personen ausreichte.
Will tappte durch die Dunkelheit, hielt die Hände ausgestreckt, um Baumstämmen auszuweichen, die er übersah. Nachdem er sich ein paar Meter von seinem Schlafsack entfernt hatte, stoppte er an einem Baum und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. Dann entleerte er seine volle Blase.
Aus dem Unterholz drangen knackende Geräusche an sein Ohr. Für Will waren es nur die üblichen Geräusche, die er auch in der letzten Nacht, die er unter freiem Himmel verbrachte, gehört hatte. Doch dann mischte sich ein Knurren, eines das nicht von den vielen Käfer-Pokémon stammen konnte, unter die idyllische Kulisse. Will riss den Kopf zur Seite und erblickte einen dunklen Schatten, der sich klar von den umliegenden Schatten der Bäume abhob. Der Schatten überragte ihn bei weitem. Das Knurren war zu einem unerträglichen Gebell angeschwollen. Will glaubte, Worte aus dem Bellen herauszuhören…oder war es nur Einbildung? Er schlief nicht, soviel war klar. Aber wer oder was war dieser Schatten?



Fortsetzung folgt in der nächsten Episode
 
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Hollow Point

Nero VI.
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Episode 3: Flucht!


Will stolperte aus dem Wald. Hinter ihm ertönten die düsteren Laute des Wesens. Er hatte nicht erkannt, was es gewesen war, aber wusste mit Sicherheit, dass es nichts Gutes wollte. Er hatte diesen Ausdruck von Wut in den Augen gesehen. Noch im Lauf schnappte Will seinen Rucksack und warf den Schlafsack über seine Schulter. Dann rannte er zu dem Zelt von Sarah. Der Reißverschluss war schnell geöffnet, schneller, als er erwartet hätte.
„Steh auf!“ rief er in das Zelt hinein.
Hinter Will fielen Bäume wie Streichhölzer, Blätter wirbelten durch die Luft, die Erde erbebte unter den breiten Füßen. Ein Lichtstrahl schoss nur wenige Meter von Will entfernt vorbei und pulverisierte mehrere Bäume. Die Lage war ernster, als Will gedacht hatte.
„Was ist los?“
Verschlafen blickte Sarah aus dem Zelt. Schwache Ansätze von Verwirrung waren in ihrem Gesicht zu erkennen.
„Beweg dich!“
Ein weiterer Strahl schoss aus dem Mund des Wesens, dieses Mal nur wenige Meter an Wills Kopf vorbei. Er konnte schon die Hitze spüren, die einige seiner Haare versengte. Nun riss er Sarah aus dem Zelt. Das arme Mädchen, das nur in ihrer Unterwäsche hinaus in die kühle Nacht gezogen wurde, verstand immer noch nicht, was passierte. Als sie dann aber den düsteren und bedrohlichen Schatten hinter Will aufsteigen sah, wurde ihr abrupt der ganze Ernst der Lage bewusst. Sie wand sich aus dem schmerzhaften Griff von Will heraus, griff nach ihrer Tasche und rannte in das dichte Unterholz hinein. Von dieser Reaktion war Will zuerst überrascht, dann lief er ihr hinterher. Aber er hatte es schwer ihren flinken Schritten zu folgen, die obwohl sie barfuss lief, geschickt über jeden Baumstumpf sprang und über jeden vertrockneten Ast lief.
Will blickte nicht mehr nach hinten, spürte aber, dass das unheimliche Monster immer noch hinter ihnen war. Es schien sich auf ihn fixiert zu haben, verfolgte seine Schritte wie besessen. Will wusste, dass es allein hinter ihm her war, also wollte er wenigstens Sarah eine Überlebenschance geben. Er wusste nicht, warum er das tun wollte, aber der Gedanke hatte sich schon so sehr verfestigt, dass er ihn nicht mehr anfechten konnte. Er konnte ihr ohnehin nicht mehr lange folgen, sie war zu schnell für ihn.
An einer günstigen Stelle, durch seinen spärlichen Bewuchs gut sichtbar für das Wesen, drehte Will nach rechts ab.

Nach einem schier endlosen Lauf durch den Wald, blieb Sarah stöhnend und schnaufend an einem Baum stehen. Sie krallte sich vollkommen erschöpft an die Rinde. Ihre Füße brannten wie Feuer, es fühlte sich an, als hätte sie eine starke Entzündung an ihren Fußsohlen. Aber das war in einem solchen Moment eher Nebensache. Sarah sah sich um, aber Will war nirgends zu sehen. Alles war ruhig, nirgends das Geräusch eines knackenden Astes oder das von Füßen, die über den Boden stampften. Sarah war allein, ängstlich, halbnackt und frierend. Wenigstens hatte sie ihre Tasche und ihre Pokémon, dachte sie. Zitternd griff sie nach ihrer großen, braunen Umhängetasche.
Sarah ging langsam weiter. Nun spürte sie jeden Holzsplitter, der sich in ihre Fußsohlen bohrte, jedes scharfkantige Blatt, das auf dem Boden lag. Immer wieder knickte sie vor Schmerzen fast ein.
Ihr Irrweg führte sie an einer großen Felsformation vorbei, die weit aus dem üblichen Gestrüpp heraus ragte, aber nicht höher, als die kleinsten Bäume war. Sie wollte die Felsen umkreisen, um vielleicht eine kleine Höhle zu finden, wo sie Schutz suchen konnte. Aber in der Dunkelheit sah sie nichts außer den dunklen Umrissen der Felsen. Dann jedoch, als sie die Formation zur Hälfte umrundet hatte, sah sie ein fahles Glimmen zwischen zwei weit hinauf ragenden Felsbrocken. Es schien einen Spalt zwischen den Felsen zu geben, vielleicht gerade einmal so groß, dass sie hinein schlüpfen konnte. Das war die Rettung. Aber woher kam das seltsame Glimmen?

Will hatte bereits seinen Schlafsack abgeworfen und sein Tempo erhöht, doch auch seine Kräfte schwanden allmählich. Er hatte lange genug durchgehalten, länger als er jemals gedacht hätte. Aber nun blieb er stehen, drehte sich um und wartete auf das Ungeheuer. Es wurde Zeit, sich dem Unausweichlichen zu stellen, dem Schicksal in die Augen zu sehen. Er wollte sich kampflos ergeben und hoffte, dass es schnell vorbei ging.
Eine unbeschreiblich grauenvolle Zeit des Wartens brach an. Das Wesen war zurück gefallen – es hatte anscheinend schon bemerkt, dass Will stehen geblieben war. Diese Zeit reichte aber aus für Will, um dass alles noch mal zu überdenken. Er wollte nicht sterben, noch nicht, nicht wegen eines Pokémons. Warum sollte er sich auch kampflos ergeben? Er wollte wieder weiter rennen, doch seine Beine versagten gerade in diesem Augenblick ihren Dienst. Irgendwas musste ihm doch einfallen. Verzweifelt blickte er sich um, irgendetwas musste doch da sein, das ihm helfen konnte. Ein abgebrochener Ast vielleicht?
„Scheiße!“
Will schnallte seinen Rucksack fest und hängte sich dann an den erstbesten Ast, der aus dem erstbesten Baum wuchs. Langsam und ein wenig unbeholfen zog er sich daran hoch und hielt sich schnaufend daran fest. Danach kroch er behäbig den Stamm hinauf, Ast für Ast, bis er fast drei Meter über dem Boden auf einem kräftigen Ast saß und hinunter auf den düsteren Boden des Waldes starrte. In der Ferne waren schon die umfallenden Bäume und das Gebrüll des Pokémons zu hören. Es wusste ganz genau, wo er war, nur wusste es nicht, dass er mehrere Zentimeter über seinem Kopf sein würde, wenn es ankommt.
Eine Hand wanderte nach hinten, öffnete den Reißverschluss des Rucksacks und kramte langsam ein Taschenmesser hinaus. Ein kleines Messer, höchstens zum schnitzen geeignet oder um einen Fisch auszunehmen, aber nicht um ein zweieinhalb Meter großes Untier zu töten. Das war ihm bewusst, doch er kannte keine andere Lösung.

Sarah kroch durch die den schmalen Höhlengang, immer dem kleinen Licht hinterher. Es schien, als liefe das Licht vor ihr davon, wolle sich ständig vor ihr verstecken. Manchmal hörte sie ein ängstliches Fiepen vor ihr. Wie weit sie schon gekrochen war, wusste Sarah nicht, nur, dass es ein endloser Gang zu sein schien. Ihre Knie waren schon aufgescheuert, die Füße schmerzten immer noch so stark, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Aber das Licht hatte eine hypnotisierende Wirkung auf sie.

Finsteres Glitzern in den Augen des Pokémons blitzte vor Will auf. Es war nun nah genug. Es wurde Zeit, dem Schicksal in die Augen zu spucken. Ein Schrei tief aus dem Magen drang aus Wills Mund, dann ließ er sich von dem Ast fallen. Der Fall schien ewig anzudauern, obwohl er glaubte schon auf dem Kopf des Wesens zu liegen. Mit einem erneuten Schrei, dieses Mal aus Schmerz, weil das Pokémon einen äußerst harten Schädel hatte, und einem leisen Klatschen, landete Will auf dem Wesen. Er fing sich sofort und rammte dem Monster sein kleines Messer in den Kopf. Ein ohrenbetäubendes Brüllen dröhnte in Wills Ohren, unter ihm schwankte der unheimliche Riese, aber er fiel nicht. Wie verrückt versuchte das Pokémon ihn abzuschütteln, schlug mit seinem langen Schwanz Bäume um und schoss gleißend helle Strahlen aus seinem Mund. Will stach weiter auf es ein, bis seine Hände vor Erschöpfung kaum noch das Messer halten konnten.
Das Wesen war geheimnisvoll ruhig, schnaufte nur leise und stand regungslos zwischen umgeknickten Bäumen. Will rappelte sich ein wenig auf, sein ganzes Hemd, seine Arme und sein Gesicht waren mit kleinen und großen Blutsprenkeln bedeckt. Es war wie die große Stille nach dem Duell zweier legendärer Cowboys. Aber niemand wusste, wer gewonnen hatte.
Langsam zog Will die verbogene Klinge seines Taschenmessers aus dem Kopf des Monsters. Es zuckte zusammen und brüllte wieder. Dann ging es ganz schnell. Das wilde Pokémon schlug wieder um sich und schüttelte sich. Mit einem starken Ruck hatte es Will von sich geschüttelt. Er flog durch die Luft, wusste nicht genau, ob er gegen einen Baum prallen würde oder einfach nur auf dem Boden. Doch dann krachte es.

Ungläubig starrte Sarah auf den bewegungslosen Körper von Will. Sein Körper schien ramponiert, vielleicht war er auch tot. Das wäre aber auch nicht verwunderlich, da er gerade durch die Decke der kleinen Höhle gebrochen war. Das Erdreich über dem Höhlengang war nicht dicht genug gewesen, um ihn aufzuhalten, im besten Falle hatte es seinen Fall sogar gebremst.
Vorsichtig näherte sich Sarah. Sie berührte ihn an der Schulter und in dem Moment zuckte Will hoch und hielt ihr das fest umklammerte Messer an die Kehle. Dann ließ er es wieder sinken und fragte sogleich: „Was tust du hier?“
„Das könnte ich dich auch fragen.“ erwiderte Sarah. „Du bist…“
Blendendes Licht erhellte den Gang. Sarah schaffte es gerade noch Will zu sich zu ziehen, bevor der Lichtstrahl ihn erwischte. Brummen war über der Einsturzstelle von Will zu hören. Will sah verträumt zu ihr auf, starrte ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick. Dann öffnete Will seinen Mund. Zuerst kamen keine Worte heraus, dann jedoch sagte er: „“Du hast…“
„Ja.“
„Du hast mir deine Titten ins Gesicht gedrückt. Warum zum Teufel bist du eigentlich halbnackt?“
Sie stieß ihn von sich und bedeckte ihren Körper notdürftig mit ihrer Tasche.
„Du hast mich doch aus meinem Zelt gezogen, bevor ich mir etwas anziehen konnte.“
„Und was machst du hier.“
„Ich folge dem Licht.“
Sie deutete auf das immer noch glimmende Licht, das hinter den Trümmern lag. Es hatte Sarah zu dieser Höhle geführt, deswegen glaubte sie, dass ihr irgendjemand helfen wollte. Und natürlich wollte sie herausfinden, wer der freundliche Helfer war. Sie kroch an Will vorbei, dann über die Trümmer des Einsturzes. Will blickte ihr hinterher.
„Ist es nicht besser, wenn ich vor dir gehe.“
„Schau einfach nicht hin.“ entgegnete Sarah gereizt.

Minutenlang krochen sie hinter dem Licht her. Sarah hatte bereits das Tempo erhöht, doch sie schienen nicht näher zu kommen. Will hoffte immer noch, dass Sarah es irgendwann aufgeben würde und zurück zum Ausgang gehen wollte, doch sie blieb hartnäckig. Und aus irgendeinem Grund folgte er ihr – ob es nun das knappe Höschen war, das hypnotisch vor ihm wippte oder die Tatsache, dass er nicht allein nach draußen gehen wollte, wusste er nicht.
Vor Sarah und Will erschien allmählich ein großer Raum, so groß, dass man darin stehen konnte. Das Licht wurde schwächer, schien sich auch nicht mehr zu bewegen. Als Sarah den Raum erreichte, richtete sie sich auf. Gebannt starrte sie an die Wände, die von dem fahlen Licht erhellt wurden. Überall waren Malereien zu sehen, von großen, primitiven Bildern von Pokémon, bis hin zu kleinen Jagdszenen auf denen Menschen zu sehen waren.
Will drängte sich an dem wie versteinert da stehenden Mädchen vorbei und richtete sich ebenfalls auf. Er blickte sich für einen Moment um. Dann: „Und deswegen sind wir kilometerweit gekrochen. Na gut, viel habe ich ohnehin nicht erwartet.“
Sarah hielt den Zeigefinger vor ihren Mund. Sie sah, wie die Bilder langsam Geschichten entwickelten, zum Leben erweckt wurden allein durch ihre Gedanken. An jeder Ecke der Wände entdeckte sie wieder etwas neues, das sie ins Gesamtbild einfügen konnte. Will pfiff nur abfällig.
Plötzlich drang ein piepsendes Geräusch an Sarahs Ohren. Sie riss sich von den Bildern los und sah wieder das kleine Licht. Doch dieses Mal konnte sie mehr erkennen, es war ein Pokémon, das in seinem Schnabel einen kleinen brennenden Ast hielt. Es hockte hinter einem Felsen und starrte Sarah mit großen Augen an.
„Hallo, Kleines.“ flüsterte Sarah dem kleinen Wesen zu.
Will wand sich zu ihr um.
„Jetzt fängst du schon an mit Steinen zu reden.“
In dem Augenblick sprang das kleine Pokémon hinter dem Felsen hervor und legte den brennenden Ast vor sich auf den Boden. Piepsend und wild mit dem Kopf wackelnd deutete es auf die Malereien an den Wänden.
„Das ist ein Flemmli. Es will uns irgendetwas sagen und es hat mit den Wandmalereien zu tun.“
„Das ist ja alles schön und gut. Und ich finde es toll, dass du dich als Pokémon-Flüsterin versuchst, aber wir sollten jetzt wieder in die andere Richtung verschwinden.“
Sie warf ihm einen Blick zu, der alles sagte. Zum ersten Mal seit Will sie getroffen hatte, schien sie wirklich wütend zu sein. Sarah biss sich auf die Unterlippe und machte einen Schritt in die Richtung von Will. Sie hob ihren Zeigefinger, der Blick war zornig.
„Wie kannst du es wagen, mich ständig so mies zu behandeln. Ich habe dir geholfen, als es dir nicht gut ging, und du hast mich nur ausgenutzt. Du hast mein Essen gegessen, du hast dich an meinem Feuer gewärmt und ohne zu Fragen in meiner Tasche gewühlt. Ich habe nur versucht, nett zu sein.“
Dieser kleine Wutausbruch von Sarah, schien Will eher zu belustigen. Das passte nicht zu einem Menschen wie ihr, das sah Will sofort. Ihre Stimme war viel zu hoch, ihre Bewegungen verkrampft und ihre Wortwahl mehr als lächerlich. Er sah sie nur an, lächelte leicht, und erwiderte dann: „Schließlich hast du mich angegriffen.“
„Das war doch keine Absicht!“
Sie wand sich wieder von ihm ab und hockte sich auf einen Stein, das Gesicht unter den Händen vergraben.
„Du willst doch jetzt nicht etwa weinen, oder?“
Leises, gedämpftes Schluchzen ertönte aus Sarahs Richtung.
„Ich wollte doch nur eine kleine Reise mit meinen Pokémon unternehmen, mal die Welt sehen. Aber seitdem ich dich kenne, ist alles nur noch schwierig. Ich versuche doch nur, alles richtig zu machen, niemanden zu verärgern.“
Nun war Will zum ersten Mal wirklich sprachlos. Er wusste nicht, was er tun sollte, wenn jemand weinte, und dass auch noch wegen ihm. Er hatte keine Ahnung, was er sagen oder tun sollte. Aber er dachte sich, dass er ohnehin nicht mehr viel falsch machen konnte. Also setzte Will sich neben sie und sah sie an. Doch nun fielen ihm nicht die richtigen Worte ein, die zur Besserung der Situation beitragen könnten. „Du…“ begann er langsam.
„Was?“
„Du…“
„Was ist denn? Habe ich schon wieder irgendetwas falsch gemacht? Soll ich dir etwas zu essen geben?“ Sie riss ihre Tasche auf und warf den gesamten Inhalt auf den Boden. „Nimm dir, was du brauchst und lass mich ihn Ruhe.“
Sei doch endlich still, verdammt!“ Er hielt ihr die Hand vor den Mund, die sie aber sofort wieder wegstieß. „Verdammt, ich weiß nicht, was ich machen soll. Scheiße! Warum machst du das so schwer? Es ist nicht deine Schuld. Ich kann es einfach nicht besser. Und jetzt möchte ich, dass du deine Sachen wieder einpackst und wir diese Höhle wieder verlassen. Wenn wir aus diesem Wald sind, dann werde ich dich allein lassen.“
„Warum?“
„Wie meinst du das?“
„Warum willst du mich durch den Wald begleiten? Warum gehst du nicht einfach allein weiter? Das ist es doch, was du von Anfang an wolltest.“
Will verstand nicht, warum sie plötzlich mit ihm redete, als wären sie alte Bekannte. Aber sie hatte Recht. Plötzlich stellte er sich selbst diese Frage und fand nur schwer eine Antwort. Vielleicht, weil er es alleine nicht schaffte und sich nur an sie hängen wollte, um mit ihrer Hilfe den Wald zu verlassen. Aber auch nach genauerem Nachdenken, blieb das eine schlechte Begründung.
„Wahrscheinlich weil ich Spaß daran gefunden habe, dich zu quälen.“
Stumm und geschockt sah sie ihn an. Am liebsten hätte sie ihre Hand gehoben und ihn geschlagen. Aber er sagte einfach nur die Wahrheit. Und es war nicht so, dass ein Mensch war, der nicht leicht zu piesacken war. Sie wusste es ja selbst am besten. Ständig wurde sie von anderen Menschen verletzt, weil sie so verdammt naiv und freundlich war. Nur verstand sie nicht, warum es ihr ausgerechnet jetzt etwas ausmachte.
„Ich glaube, ich habe mich verliebt.“ sagte sie leise.
„Hoffentlich nicht in mich.“
Plötzlich waren alle ihre Gefühle wieder dahin. Sie schluckte die letzte Bemerkung und die Tränen herunter, dann packte sie ihre Sachen wieder in die Tasche. Sie erhob sich.
„Dort vorne ist ein Ausgang. Es ist nicht weit. Aber diese Malereien an den Wänden erzählen eine Geschichte. Sie warnen jeden Menschen davor, den Herrscher des Waldes zu erzürnen oder sich seinem Urteil zu entziehen. Denn dann wird der ganze Wald brennen und mit ihm alle Pokémon. Ich glaube, damit ist das unheimliche Wesen, das wir gesehen haben, gemeint. Wenn es nach den Malereien geht, schläft der Herrscher für viele Jahre und alle hundert Jahre wacht er auf, um etwas zu essen. Wenn er dann Menschen in seinem Wald sieht, erregt das seinen Zorn.“
„Aber die Malereien sind tausende von Jahren alt.“ entgegnete Will gelangweilt.
„Es gibt einige Pokémon die über zweitausend Jahre alt werden können.“
„Dann sollten wir hier verschwinden, bevor der ganze Wald abbrennt.“
„Wir können nicht gehen. Wir müssen den grausamen Herrscher des Waldes töten, damit die Pokémon in Frieden leben können.“
„Ist das dein Ernst?“
Das Flemmli, das sie die ganze Zeit verwundert beobachtet hatte, nahm nun wieder den Ast in den Mund und lief zum Ausgang der Höhle.
„Es braucht unsere Hilfe, jedes Pokémon in diesem Wald braucht unsere Hilfe.“ sagte Sarah, dann folgte sie dem Pokémon.
Will seufzte nur und kroch ihnen hinterher.

„Der Herrscher des Waldes wird uns töten.“ flüsterte Will Sarah ins Ohr, die neben ihm auf dem Baum saß. Sie beobachteten schon seit mehreren Minuten das Pokémon unter ihnen. Mittlerweile hatte sich herausgestellt, dass es sich bei dem Wesen um ein überdimensional großes Despotar handelte. Es überragte jedes normale Despotar mindestens um fünfzig Zentimeter. Aber das war nicht das Furcht einflößende an dem Pokémon, es war viel mehr die absolute Gier nach Tod und Zerstörung, die in seinen Augen zu erkennen war. Das Blut rann ihm bereits über das zornig verzerrte Gesicht. Anscheinend hatte Will es doch mehr verletzt, als er gedacht hatte.
Das kleine Flemmli neben Sarah versuchte den beiden durch leise, piepsende Laute etwas mitzuteilen, doch keiner verstand, was es wollte.
„Und was schlägst du vor, außer nutzlosem Piepen?“ fragte Will ratlos.
„Ich habe keine Ahnung.“
„Wir könnten es natürlich wie die Ewoks machen und ihm eine Falle stellen. Genau! Ich habe eine Idee. Aber du musst es ablenken.“
„Wie stellst du dir das vor. Ich kann kaum noch laufen.“
„Dann erklär ich dir, was du machen sollst und ich locke ihn weg.“
„Was hast du vor?“
Er beugte sich zu ihr herüber und flüsterte ihr seinen Plan ins Ohr.

Will stand vor dem riesigen Wesen, Auge in Auge mit dem Herrscher des Waldes. Er wollte sich erst bewegen, wenn das Despotar irgendwelche Anstrengungen unternahm, sich zu rühren. Dann war es soweit, der Herrscher des Waldes bewegte einen Fuß nach vorne. Das war das Zeichen für Will zum Rennen. Er warf Sarah, die sich sorgenvoll an den Baumstamm geklammert hatte, noch einen Blick zu, dann verschwand er zwischen den Bäumen. Der Herrscher folgte ihm. Nun war es an Sarah, alles für das große Finale vorzubereiten.

Eine halbe Stunde später erschien Will wieder vor dem Baum. Er taumelte, rannte aber immer noch. Einige Meter zuvor hatte er sich noch übergeben, doch sein Überlebenswille trieb ihn weiter voran. An dem Baum, auf dem Sarah und das Flemmli saßen, blieb er stehen, übergab sich abermals und sank auf die Knie. Er starrte zu den beiden hinauf, als suche er Hilfe. Weiter hinten im Wald waren schon die umstürzenden Bäume zu hören. Der Herrscher kam langsam näher. Wenn Will jetzt nicht aufstand, würde er ihn nicht in die Falle locken können. Sarah hoffte inständig, dass er noch etwas Kraft aufbringen konnte. Aber Will war am Ende seiner Kräfte. Er versuchte sich aufzurappeln, doch seine Beine gaben den Dienst auf. Der Herrscher des Waldes näherte sich weiter. Nur noch wenige Meter trennten Will von dem schrecklichen Tod. Aber Will war völlig abwesend, wusste nicht mehr in was für einer Situation er sich befand.
„Beweg dich endlich, du Vollidiot!“
Will richtete sich überrascht auf.
„Red nicht so mit mir, verdammt!“ rief er nach oben. Dann wurde er sich wieder der Lage bewusst und bewegte sich auf die Falle von Sarah zu. Er erkannte schon die Stelle, die Sarah für ihn markiert hatte, das war sein Platz, um das Ungeheuer anzulocken. Er setzte sich auf die beiden Äste, die wie ein X auf dem Boden lagen und wartete. Gebrüll dröhnte aus dem Wald, dann erschienen wieder diese vor Wut glitzernden Augen vor ihm. Will schloss die Augen.
Das wilde Despotar rannte in die Falle, genauso, wie Will es berechnet hatte, verfing sich mit dem Hals in den Seilen, die zwischen den Bäumen gespannt waren – Will wusste, dass ihm die Seile noch mal nützlich werden konnten, deswegen hatte er sie auch mitgenommen auf seine Reise. Langsam wickelten sich die Seile enger um den Hals des Pokémons. Gurgelnde Geräusche kamen nun aus dem weit aufgerissenen Mund. Dann fiel es. Jetzt kam es darauf an, dass Sarah die Position der äste nicht falsch bedacht hatte und Will somit unter dem riesigen Monster begraben wurde. Das Despotar schlug auf den Boden und brachte ihn zum Beben.
Will riss die Augen wieder auf und erblickte das aufgerissene Maul des leblosen Pokémons direkt vor seinen Füßen.
„Scheiße, das war knapp.“
Sarah und das Flemmli kletterten von dem Baum und rannten zu Will. Sarah wollte ihm auf die Beine helfen, doch er lehnte ab. Immer noch vor Erschöpfung schwer atmend griff er in seine Hosentasche, nahm die Zigarettenschachtel heraus und zündete sich eine Zigarette an.
„Du hättest mich umbringen können.“
„Ich wollte das Kreuz weiter hinten hinlegen, aber Flemmli wollte es unbedingt hier haben.“
„Dann wollte das Pokémon mich umbringen? Wir sollten es braten.“
„Nein!“ Sarah hob es hoch und streichelte das Flemmli. „Es hat mir geholfen, die Falle zu bauen. Ohne es, wäre ich nie rechtzeitig fertig geworden.“
„Dann soll ich dem Pokémon dankbar sein?“
Nun erhob sich Will und sah das kleine Wesen in Sarahs Armen an.
„Es will, dass du sein Trainer bist.“ sagte Sarah leise.
„Woher weißt du das so genau. Ich meine, es kann nicht sprechen und außer dämlich zu piepsen ist es nicht besonders nützlich. Warum fängst du es nicht? Ihr würdet gut zusammenpassen.“
„Bitte.“
„Na gut.“
Er wollte nicht schon wieder einen Streit vom Zaun brechen, weil er ungern wieder miterleben wollte, dass Sarah weinte. Mit diesem Mittel hatte sie ihn im Griff und er wusste nicht, wie er dagegen angehen sollte. Manchmal dachte er, dass er in dem Moment in dem sie geweint hatte, sie einfach hätte schlagen sollen. Aber ein anderer Teil in ihm wollte nicht, dass sie weinte. Es war eine verzwickte Situation und er hasste die Situation.
Will griff nach dem Reißverschluss seines Rucksack, öffnete ihn und nahm einen Pokéball heraus. Zögernd streckte er die Hand mit dem Pokéball aus und fing das Pokémon. Es war ein trockener Moment, innerhalb von wenigen Sekunden war alles vorbei. Will und Sarah standen da, sahen sich an. Die Dämmerung war inzwischen schon angebrochen.
„Ich hasse dich.“ flüsterte Will.
Kurz darauf nahm er eine dicke Winterjacke aus seinem Rucksack und warf sie Sarah zu. Dann drehte er sich um und ging. Sarah legte die Jacke um ihre Schultern und folgte ihm.
„Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt.“
„Will Sutton. Und jetzt sei verdammt noch mal ruhig.“
Hinter den beiden krochen die ersten Pokémon aus ihren Verstecken und empfingen die Dämmerung. Eine leise Kulisse aus Zirpen und Jaulen entstand, fast so, als wollten sich die Pokémon für die Rettung ihres Waldes bedanken.
 
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Nero VI.
Otaku Veteran
Episode 4: Team Destruction


Ein Sonnenstrahl traf Wills Gesicht, der erste des Tages. Das blendend helle Licht und die wohlige Wärme ließen ihn bald wach werden. Er streckte die Arme aus dem Schlafsack, der Sonne entgegen. Seinen Schlafsack hatte er letzte Nacht noch wieder gefunden, aber Sarahs Zelt war von dem riesigen Despotar völlig zerstört worden. Das bekam Will auch abrupt wieder zu spüren, als eine Hand klatschend in seinem Gesicht landete. Es hatte ihm schon gereicht, dass das Mädchen nur noch in Unterwäsche herumlief, weil sie keine Kleidung mehr besaß, aber warum musste sie nun auch noch den Schlafsack mit ihm teilen.
Mühsam versuchte Will sich frei zu wühlen, gab es aber irgendwann auf. Alles, was er geschafft hatte, war die Arme bis zu den Schultern in Freiheit zu bringen. Mit einem Arm stieß er Sarah an, sie regte sich aber nicht. Er stieß sie kräftiger an. Sarah stöhnte nur leise und drehte sich um. Das war nicht gut. Jetzt lag sie auf der Seite, drückte ihn gegen die Wand des Schlafsacks. Wo war der verfluchte Reißverschluss von dem Schlafsack? Da! Auf der anderen Seite.
Will wühlte sich herum, schaffte es irgendwann auf der Seite zu liegen. Dann schwang er den Arm über Sarah und griff nach dem Reißverschluss. Aber in dem Moment, in dem sein Arm auf ihrer Schulter landete, zuckte Sarah zusammen. Sie wand ihren Kopf herum und sah Will überrascht und erschrocken an.
„Das sieht jetzt vielleicht blöd aus, aber es ist nicht das, wonach es aussieht.“
„Ich habe nichts gesagt.“
„Kannst du den Reißverschluss öffnen?“
Sarah blickte ihn mit immer größer werdender Verwunderung an.
„Was?“
„Von…dem Schlafsack.“
„Ach so.“
Sie öffnete den Reißverschluss bis unten hin. Will kroch sogleich hinaus und setzte sich in das Gras. Dort zündete er sich eine Zigarette an und sah Sarah an. Sarah im Gegenzug blieb im Schlafsack liegen, stützte den Kopf auf die Arme und erwiderte seinen Blick. Viele Minuten verstrichen, fast eine Viertelstunde regte sich keiner. Irgendwann wand Will seinen Blick von ihr ab. Er wusste, worauf das wieder hinauslaufen würde. Will stand auf und sah von dem Hügel, auf dem sie geschlafen hatten, über den Wald hinweg. Jetzt stand Sarah auch auf und stellte sich neben ihn.
„Kannst du Megaton City schon sehen?“ fragte Will leise und ein wenig heiser.
„Nein.“
Dann drehte Will sich um und sah nach Süden. Da lag Luftstadt, er konnte die Dächer der Häuser in der Ferne erkennen. Das hieß, sie waren näher an Luftstadt, als an Megaton City, und das wiederum bedeutete, dass er noch nicht weit gekommen war. Will musste einen lauten Seufzer loswerden, der Sarah dazu brachte, sich umzudrehen und zu fragen, was passiert ist.
„Scheiße. Nichts.“ sagte Will nur.
„Ach so.“
Nun setzet Sarah sich auf den Schlafsack und betrachtete ihre wunden und aufgerissenen Füße. Jedes Mal, wenn sie die Splitter und Risse berührte, zuckte sie mit einem schmerzverzerrten Gesicht zusammen. Das machte Sarah mehrere Male, versuchte die Splitter herauszuziehen, doch sie zuckte jedes Mal wieder zurück. Irgendwann drehte sich Will zu ihr um und setzte sich vor ihr ins Gras. Er sah sich das noch eine Zeit lang an, dann stieß er ihre Hände weg und legte Sarahs Füße auf seine verschränkten Beine.
„Wenn du so weiter machst, wird das nie was.“ sagte er. Dann zog er ohne Vorwarnung den größten Splitter heraus.
Sarah schrie kurz vor Schmerz auf, versuchte sich aber zu beherrschen. Währenddessen nahm Will eine kleine schwarze Tasche aus seinem Rucksack. Er öffnete den Klettverschluss seiner Notfalltasche und nahm eine große Pinzette heraus. Nach und nach zog er einen Splitter nach dem anderen heraus, so konzentriert, wie sonst nur ein Arzt arbeiten würde. Als er jeden Splitter hinaus gezogen hatte, nahm er eine kleine Sprayflasche aus der Tasche und sprühte ihre Fußsohlen großflächig ein. Danach wickelte er nur noch einen dicken Verband um die Füße und stieß sie wieder von seinen Beinen.
„Im Gegensatz zu dir bin ich wenigstens etwas vorbereitet.“ sagte Will. Er warf ihr ein Paar Schuhe zu, die er ebenfalls für den Notfall eingepackt hatte. „Die müssten eigentlich zu groß sein, aber der Verband wird sie halten.“
„Okay.“
Sarah war beinahe sprachlos. Für einen Moment hatte Will so gewirkt, als wäre er ein ganz normaler, freundlicher Mensch. Er hatte diesen Ausdruck im Gesicht gehabt, der zu sagen schien, dass er sich sorgte. Natürlich würde er es nie sagen, aber Sarah glaubte, dass er sich wirklich um sie kümmerte und sie nicht nur als Dreck unter seinen Schuhen ansah. Sie hatte sich wohl doch nicht getäuscht, er konnte auch sanftere Seiten zeigen. Es war nur verdammt schwer die aus ihm herauszuholen.
„Dann lass uns gehen.“
Will stieß Sarah von den Schlafsack herunter und stopfte ihn in seinen Rucksack.
„Wollen wir nicht erst was essen?“ fragte Sarah, während sie schon die dicke Winterjacke von Will anzog.
„Na gut.“
Er setzte sich neben seinen Rucksack und wartete darauf, dass Sarah ihr Essen auspackte. Während Will wartend dasaß, sah Sarah ihn immer noch an, dann nahm sie eine kleine Box aus ihrer Umhängetasche und stellte sie ins Gras. Vorsichtig nahm sie den Deckel ab und enthüllte den Inhalt: ein Stück Brot.
Will sah sie an.
„Das ist alles?“
„Ich wusste nicht genau, was ich mitnehmen sollte oder wie viel, deswegen habe ich einfach alles mitgenommen, was lange genug haltbar ist. Das wird doch reichen.“ erwiderte Sarah beschämt.
Nun öffnete Will seinen Rucksack und nahm eine Glasflasche heraus.
„Vielleicht sieht es besser aus, wenn ich was getrunken habe.“
Gleich darauf öffnete er die Flasche und nahm einen Schluck daraus, dann hielt er Sarah die Flasche hin, die aber ablehnte.
„Die Pokémon sollten jetzt auch etwas essen.“ sagte Sarah und entließ ihre Pokémon.
„Da hast du wohl Recht. Du hast nicht zufällig Pokémon-Futter?“
„Daran habe ich gedacht.“ erwiderte sie lächelnd.
Nun entließ auch Will seine Pokémon.
„Kümmere dich mal darum.“ sagte Will, dann brach er ein Stück von dem Brot ab.

Bald nach dem ungewöhnlichen Frühstück nahm Will seinen Rucksack und stand auf. Evoli und Flemmli, die ein wenig müde neben ihm gesessen hatten, erhoben sich nun auch. Will sah Sarah an und deutete ihr an, dass sie endlich aufstehen sollte. Sie folgte seiner wortlosen Aufforderung nur zögerlich und schwerlich, aber irgendwann stand sie vor ihm und war bereit.
„Willst du deine Pokémon nicht wieder in die Pokébälle lassen?“ fragte Sarah.
„Mir ist egal, was die machen.“ erwiderte er und drehte sich um.
Genau in dem Augenblick ertönten Schrei aus dem Wald hinter ihnen. Sarah zuckte zusammen. Die Schreie waren Hilferufe, helle Laute, die voller Verzweiflung und Angst waren. Die Ruhe auf dem Hügel fand jäh ein Ende. Sarah sah Will an, Will drehte sich nur um. Jetzt schoss Sarah zur südlichen Seite des Hügels. Nichts war zu sehen. Doch da. Ein kleines gelbes Wesen rannte aus dem dichten Gebüsch und steuerte auf den Hügel zu. Ein Traumato, anscheinend von seinem Trainer getrennt.
Sarah lief dem Traumato entgegen. Sie fing es auf, als es vor Erschöpfung fast stolperte und auf dem Boden landete. Es keuchte und stieß verwirrte Laute aus. Schwächlich hielt es eine Hand ausgestreckt und berührte Sarahs Arm.
„Will! Wir müssen ihm helfen!“ rief Sarah.
Er sah nur vom Hügel herunter und erwiderte: „Nein.“
Jetzt drangen erneut laute Geräusche aus dem Wald. Trampelnde Füße, Rufe von Menschen und Pokémon. Wie gebannt starrte Sarah in das Gebüsch. Dann erschien Panik in ihrem Gesicht. Sie hievte das Pokémon hoch und schleppte es den Hügel hoch, dann auf der anderen Seite wieder herunter. Will sah ihr nur mit einem Blick voller Gleichgültigkeit hinterher. Er nahm ihre Tasche und folgte ihr gemächlich, aber er wusste, er würde niemals eine Hand an dieses Pokémon legen.
An einer geschützten Stelle, verdeckt von Büschen, legte Sarah das Pokémon hin und setzte sich neben es. Will kniete neben Sarah und betrachtete das Wesen.
„Warum bist du geflohen?“ fragte er schließlich.
„Team Destruction.“
„Und kannst du mir auch sagen, wer das ist. Aber nicht in zwei Worten.“
„Schaust du keine Nachrichten?“ Sie sah ihn an, aber sein Blick deutete auf ein klares Nein hin - er nutzte die Nachrichten nur zu einschlafen. „TD ist eine Gruppe von Terroristen, die mithilfe von Pokémon Macht in Areas erlangen wollen. Sie sind rücksichtslos und kennen keine Gnade. Wer sich ihnen widersetzt, wird aus dem Weg geräumt.“
„Und warum widersetzt du dich dann ihnen?“
„Dieses Pokémon braucht unsere Hilfe. Sein Trainer ist wahrscheinlich getötet worden, weil TD irgendetwas mit diesem Traumato vorhat.“
„Vielleicht wollen sie ihn als Braten haben. Denn dieses Pokémon scheint nicht besonders nützlich oder stark zu sein.“
„Da muss ich Ihnen widersprechen, werter Herr.“ Das Traumato richtete sich auf und sah Will an, immer noch keuchend. „Mein…Name ist Harry und ich besitze keinen Trainer. Ich bin ein freiheitsliebendes Pokémon, das alleine reist. Diese Menschen sind hinter mir her, weil ich ihnen sehr nützlich sein kann.“
„Das kann doch nicht wahr sein.“ stöhnte Will. Er ließ sich in das Gras fallen und starrte das sprechende Pokémon an. „Warum muss ausgerechnet ich auf ein Pokémon treffen, das glaubt ein Mensch zu sein.“
„Da muss ich sie erneut korrigieren: Ich bin ein Pokémon, das wie ein mit dem Menschen gleich gestelltes Pokémon behandelt werden möchte.“
„Gut, dann lassen wir dich jetzt alleine.“
Will zog Sarah am Arm hoch und drängte sie zum Gehen. Aber Sarah riss sich los und setzte sich wieder neben das Traumato. Sie sah es lange an. Dann stand sie auf und wand sich an Will.
„Wir helfen ihm.“ sagte sie.
Will seufzte nur und ging voran. Bald folgten ihm Sarah und das Traumato namens Harry.

Nicht weit von Will und Sarah entfernt standen zwei düstere Gestalten im Wald. Eine Frau und ein Mann. Die Frau war in den Dreißigern, schön, aber mit einem gefährlichen Blick in ihren Augen. Sie hatte lange schwarze Haare, die zu einem Zopf gebunden waren. Auf der Brust ihres schwarzen Hosenanzugs trug sie die Initialen TD. Ihre braunen Augen funkelten düster in den Schatten der Baumkrone. Der Mann neben ihr war schlank, ein wenig schlaksig. Seine blonden Haare endeten kurz unter seinen Ohrläppchen, die Augen waren ebenso finster und starr.
„Das Ziel ist geortet. Es ist jetzt mit zwei Wanderern zusammen auf der Flucht. Wie sollen wir weiter vorgehen?“ fragte die Frau in ein kleines Funkgerät.
Aus dem Gerät drang eine verzerrte, rauchige Stimme. „Search and destroy. Ihr habt sämtliche Befugnisse.“
„Alles klar, Chef.“ erwiderte die Frau. Dann steckte sie das Funkgerät in die Hosentasche. „Du hast ihn gehört. Wir sollen jeden töten, der dem Traumato hilft.“

Auf einem freien Stück Wiese blieb Will stehen. Sarah und das Traumato drehten sich zu ihm um und drängten ihn weiter zu gehen. Aber Will setzte sich ins Gras und nahm seinen Rucksack ab.
„Ich mache jetzt eine Pause.“ sagte er und nahm seinen Rucksack ab.
„Wir haben keine Zeit!“ rief Harry. „Wenn sie uns finden, werde nicht nur ich sterben. Ihr habt mir geholfen, also seid ihr genauso in Gefahr.“
„Und wem haben wir das zu verdanken?“
„Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen so viele Probleme bereite. Es war nicht meine Absicht gewesen, andere da mit hinein zu ziehen. Ich muss mich dafür entschuldigen. Aber wenn wir jetzt nicht weiter gehen, werden wir sterben.“
„Dann…“
Plötzlich rief Sarah: „Du suchst doch nur nach einem Grund mit ihm zu streiten!“
Will stand wieder auf und setzte behäbig seinen Gang fort. Sarah ging neben ihm und sah ihn an. Sie tippte ihn vorsichtig an.
„Was sollte das?“ fragte Sarah.
Doch Will schwieg und ging schneller.
Harry betrachtete die beiden seltsamen Reisenden. Er konnte sich nicht vorstellen, warum sie zusammen unterwegs waren oder warum sie überhaupt miteinander sprachen. In seinen Augen war Will ein grober Ignorant, der nichts von der Welt in der er lebte verstand. Und Sarah war für ihn ein unschuldiges, wenngleich naives Mädchen, das zu gutmütig war, um Will mal richtig die Meinung zu sagen. Aber Harry war froh, dass er sie getroffen hatte.
„Da vorne sind wir wieder unter Bäumen.“ rief Sarah.
Will stapfte mürrisch und ebenso wortlos auf die Bäume zu, blieb dann aber stehen. Er drehte sich um und sah Sarah an. Sarah blickte an ihm vorbei. Dort, wo die Bäume waren, tat sich ein großer Abgrund auf. Die Bäume, die von unten hinaufragten, waren so groß, dass es wirkte, als würde man einfach wieder in den Wald hinein gehen. Sarah sah wieder von dem Abgrund auf.
„Dann müssen wir…“
„…stehen bleiben!“ dröhnte eine Stimme an ihr Ohr.
Erschrocken drehte Sarah sich um. Sie starrte direkt in die Gesichter der beiden finsteren Gestalten, deren Augen von Sonnenbrillen verdeckt waren. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, als sie das Symbol von TD sah. Dieses Zeichen konnte nichts Gutes bedeuten.
„Das…das sind sie.“ stammelte Sarah.
Ängstlich drängte Harry sich an sie und versteckte sich hinter ihren Beinen. Sarah hingegen klammerte sich an Will. Stille trat ein. Nun hatten sie Harry doch gefunden und schienen entschlossener zu sein als je zuvor. Es schien alles aus zu sein, Harry sah schon das Ende für sich gekommen.
„Was wollt ihr denn?“ fragte Will.
„Gebt uns das Traumato, dann wird euch nichts passieren.“ sagte die Frau.
„Also erstmal möchte ich wissen, wer ihr überhaupt seid und was ihr für ihn bezahlen wollt. Umsonst werde ich ihn natürlich nicht hergeben.“
Die beiden dunklen Gestalten sahen sich an, dann wieder Will.
„Wir werden nicht mit dir verhandeln.“ erwiderte die Frau gereizt. „Entweder gibst du uns das Pokémon oder wir holen es uns mit Gewalt.“
„Mit Gewalt…“ wiederholte Will ruhig.
Er sah seine beiden Pokémon an, die sofort verstanden, was er wollte. Sarah blickte ihn schockiert an, ihre Unterlippe zitterte leicht.
„Du willst doch nicht wirklich kämpfen, oder?“
Will schwieg und entfernte sich langsam von Sarah. Seine Pokémon folgten ihm treu. Sie gingen auf die seltsamen Gestalten zu und blieben vor ihnen stehen. Wortlos und entschlossen blickte Will sie an. Dann, ohne jegliche Vorwarnung, schlug Will die Frau mit seiner Faust nieder und stieß den Mann um.
„Verschwindet von hier!“ rief Will.
Die Frau wischte sich das Blut von der Wange und griff nach einem Pokéball, der an ihrem Gürtel hing. „Du legst dich mit den falschen Leuten an.“ fauchte sie. Dann schoss auch schon das Pokémon aus dem Ball. „Dodu! Schnabel!“
Das zweiköpfige Wesen stieß Will die Schnäbel in die Bauchgegend. Aber bevor sie tiefer eindringen konnte packte er die langen Schnäbel und stieß sie zurück. Der Schmerz zog quer durch seinen Bauch, bis hin in seine Brust. Blut tropfte aus den Wunden, stöhnend sank er ins Gras. Das war nicht das, was er erwartet hatte. Er dachte, er könne sie verjagen, aber er hätte nie daran gedacht, dass sie auch Pokémon besaßen.
„Gebt uns jetzt das Traumato!“ rief der blonde Mann.
Das Dodu war bereit, erneut zuzuschlagen. Die Spannung war beinahe zum Greifen. Sarah hatte die Luft angehalten, als Will von den Schnäbeln getroffen wurde. Harry zitterte am ganzen Körper. Evoli und Flemmli saßen nur ängstlich neben Will, unfähig ihn zu verteidigen.
„Ihr wollt also nicht hören. Dann wird er sterben. Dodu! Schlag zu!“
Es erhob seinen Kopf und ging auf Will zu. Kurz vor ihm blieb es stehen. Doch dann. Rauschen drang aus der Hosentasche der Frau. Hastig griff sie in die Tasche und nahm das Funkgerät heraus.
„Zieht euch zurück. Ein anderer Agent ist an der Sache dran.“ drang es aus dem Gerät.
Die Frau steckte das Funkgerät wieder in die Tasche, rief ihr Dodu zurück und sah Will an.
„Wir werden euch beobachten. Ich werde mich irgendwann für diesen Schlag rächen.“
Dann drehten sich die beiden um und gingen in den Wald hinein. Kurz darauf rannten Sarah und Harry zu Will, der immer noch wie versteinert dasaß.
„Das war wirklich mutig.“ sagte Harry.
Will sank mit dem Kopf in das Gras und zündete sich eine Zigarette an.
„Ich dachte, wir sterben.“ sagte Will trocken. „Was wollten die überhaupt von dir?“
Harry schwieg einen Moment.
„Ich besitze Informationen, die wichtig für sie sind. Mehr kann ich euch nicht sagen.“
„Ist auch egal.“
Jetzt stand Will auf und ging in einiger Entfernung von Sarah und Harry auf und ab. Er wäre vor Todesangst fast gestorben und dann nahm das alles so ein glückliches Ende. Das konnte er nicht so leicht verdauen.
Sarah beugte sich zu Harry herunter.
„Und woher kommst du?“ fragte sie.
„Ich bin auf der Reise nach Adenburg.“
„Wir könnten dich bis Megaton City begleiten, wenn du willst. Wir wollten sowieso dahin. Es ist also kein großer Umweg.“
Als Will das hörte, packte er Sarah am Kragen, zog sie hoch und zerrte sie von dem äußerst ungewöhnlichen Traumato weg. An einem Baum ließ er sie los und drückte sie gegen den Stamm.
„Seit wann triffst du die Entscheidungen?“
„Er wollte…“
„Ich habe dir eine Frage gestellt.“
„Es tut mir leid.“ erwiderte sie kleinlaut.
„Und jetzt sag dem Pokémon, dass wir ihn leider nicht begleiten können. Es tut uns leid, aber wir sind zu beschäftigt, um uns um ein Pokémon zu kümmern, dass glaubt, es könnte gleichberechtigt sein. Kannst du das wiederholen?“
Sie strich sich mit der freien Hand eine blonde Strähne aus dem Gesicht.
„Wir können ihn doch mitnehmen. Er ist sicher keine Belastung für uns. Es ist doch nicht mehr weit, bis Megaton City. Bitte.“
Er schwieg und nahm die Hände von ihren Schultern. Kurze Zeit später legte er seinen Kopf auf ihre linke Schulter und hustete.
„Wenn…du das noch mal machst, werde ich dich und jedes Pokémon, dem du helfen willst, an einen Baum binden und hier im Wald verhungern lassen. Hoffentlich habe ich mich klar genug ausgedrückt.“
„Du kannst kaum noch stehen. Ich werde mich um deine Verletzungen kümmern.“
Sarah stieß sich von dem Baum und griff nach seiner Hand. Langsam zog sie ihn zu Harry und half ihm, sich hinzusetzen. Während sie sein Hemd öffnete, sagte sie Harry, dass er sie begleiten kann. Glücklich und erleichtert bedankte sich das Traumato höflich bei ihr. Für Will hatte er nur einen misstrauischen Blick übrig.
 
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Nero VI.
Otaku Veteran
Episode 5: Ein Schlag ins Gesicht


Es war Nachmittag, fast fünfzehn Uhr. Die Sonne strahlte, wie in den letzten Tagen auch, ungehindert von jeglichen Wolken vom Himmel. Einige Autos fuhren über die kleine Hauptstraße, die durch den Kriechwald nach Luftstadt führte und in die andere Richtung nach Megaton City. Dies war der Hauptknotenpunkt für Pendler und Reisende aus beiden Richtungen. Wer weiter ins Land hinein wollte, musste diese Straße benutzen oder sich durch den Wald schlagen.
So kam es, dass ein Reisebus der Poképower Reisegesellschaft aus Luftstadt kommend die letzten Touristen, die sich noch an den Stränden erholt hatten, beförderte. Kurz vor einer niedlichen Kleinstadt hielt der Bus auf einem Rastplatz. Die Kleinstadt lag direkt an der Hauptstraße, war somit perfekt an das Netz angebunden und bezog daher wohl auch seinen kleinen Reichtum. Aber ein Halt bei der Stadt war nicht vorgesehen, deswegen stoppten sie lieber auf dem Rastplatz.
Einige der Touristen nutzten die Gelegenheit, um die letzten Fotos von dieser malerischen Gegend zu schießen, sich zur Erleichterung der Blase in die Büsche zu schlagen oder sich einfach die Beine zu vertreten.
Inmitten dieser illustren Reisegruppe befand sich ein älteres Ehepaar. Sie hatten in ihrem mittlerweile langem Rentnerdasein schon viele Reisen gemacht und waren weit herum gekommen. Die Strände von Luftstadt waren ihr letztes großes Ziel gewesen, bevor sie sich für den Herbst wieder in ihrer gemütlichen Eigentumswohnung verkrochen. Während die Frau einige Worte mit dem Reiseleiter wechselte, schoss ihr Mann Fotos von dem Wald. Genau in dem Moment kroch jemand aus dem Gebüsch. Der Mann verharrte erschrocken, verfolgte alles durch die Kamera.
„Ich habe dir tausendmal gesagt, dass ich etwas gehört habe. Aber du willst ja nicht auf mich hören, du bist ja der lebende Kompass. Verdammter Idiot.“ rief die Gestalt, die aus dem Busch kroch. Der unbekannte Mann schleppte sich auf den Rastplatz, neben ihm liefen ein Evoli und ein Flemmli als treue Begleiter. Das Hemd des Mannes war zerrissen, die Hände aufgeschürft. Direkt hinter ihm sprang ein junges Mädchen aus dem Gebüsch, lediglich in ihre rosafarbene Unterwäsche und eine dicke Winterjacke gehüllt. Die Schuhe, die das Mädchen trug, waren viel zu groß für ihre Füße, wurden aber von einem dicken Verband, der bis zu ihren Fußknöcheln hoch gewickelt war, gehalten.
„Harry hat gesagt, dass wir immer nach Norden gehen müssen.“ rief das Mädchen nun.
„Das ist auch richtig, wenn wir nach Megaton City wollen.“ drang nun eine Stimme aus dem Busch. Kurze Zeit später kroch ein Traumato heraus.
„Sei still, Harry.“ rief der Mann nun.

Langsam und gähnend stapfte Will an der verwirrt dreinblickenden Reisegesellschaft vorbei. Er winkte ihnen zu, dann wanderte er weiter. Sarah ging direkt hinter ihm, versuchte sich mit der Jacke zu bedecken. Hinter ihr trottete Harry, ebenso müde, ebenso genervt. Sie waren den halben Tag lang fast nur im Kreis gelaufen, bis Will irgendwann den Straßenlärm gehört hatte. Jetzt waren sie müde, erschöpft von der langen Reise. Keiner war ohne Blessuren geblieben, überall hatten sie Kratzer oder andere Wunden. Jetzt wollte sie nur noch einen Schlafplatz finden und da bot sich die nahe gelegene Kleinstadt an.

„Wer war das, Klaus?“ fragte die Frau, die ihr Gespräch mit dem Reiseleiter völlig vergessen hatte.
„Ich glaube, das waren Wilde.“ erwiderte ihr Mann und ließ die Kamera sinken.
„Ach so.“
Gemeinsam trottete das Ehepaar wieder in den Bus.

Sarah blieb stehen, ihre Augen glänzten.
„Ein Hotel!“ rief sie.
Will blickte an der Fassade hoch. Die Niederkunft stand auf einem großen Neonschild. Er hätte sich über den Namen aufgeregt, wenn er nicht so müde gewesen wäre. Er wäre sogar weitergegangen und hätte sich ein anderes Hotel gesucht, wenn, ja wenn er nicht so müde gewesen wäre.
Sie betraten das Hotel und gingen zum Empfang. Ein Mann, Mitte dreißig, kurzes braunes Haar, sah sie mit einem Blick der Überraschung und auch Abscheu an. So seltsame Gestalten hatte er in der wohlbehüteten Kleinstadt noch nie gesehen.
Will stützte die Hände auf den Tresen und sah den Mann an, als fordere er Geld zurück, dass er verliehen hatte.
„Wir möchten zwei Zimmer.“
„Drei.“ fügte Harry hinzu.
„Ihr beide könnt euch eines teilen.“ versetzte Will daraufhin.
Harry schwieg nun.
„Also, wir möchten gerne zwei Zimmer haben, am besten die billigsten.“
Während er mit dem Mann sprach, rief Will seine Pokémon zurück in ihre Bälle. Er glaubte, dass frei laufende Pokémon in diesem Hotel nicht gern gesehen waren.
Der Mann am Empfang sah sie immer noch an. Schließlich riss er sich von den fahlen Gesichtern los und blickte auf seinen Computer. Dann kratzte er sich am Kopf.
„Das billigste, was wir zur Verfügung haben, kostet pro Nacht und pro Zimmer 100 Pokédollar.“
Will strich sich durch das Gesicht, verzerrte es und murmelte etwas Unverständliches. Dann sah er wieder zu dem Mann hinter dem Tresen auf und starrte ihm in die Augen.
„Das ist viel zu teuer. Wir möchten nur zwei einfache Zimmer, nichts besonderes. Aber wenn das so ist, dann finden wir in dieser Stadt sicher auch noch ein billigeres Hotel.“ brach es aus Will heraus. Er wollte für seine beiden Anhängsel nicht auch noch einen Hunderter bezahlen, soviel waren die ihm nicht wert.
„Okay.“
Der Mann sah wieder auf seinen Computer, als wäre nichts gewesen.
Nun erhob sich Will von dem Tresen auf dem er schon fast gelegen hatte, so müde war er, und verließ das Hotel. Sarah und Harry, die die ganze Zeit verwundert zugehört hatten, liefen ihm nun hinterher. Sie wollten seine Beweggründe nicht weiter hinterfragen, das artete jedes Mal in ein riesiges Chaos aus. Also folgten sie ihm, sahen über seine Sturheit hinweg.

Eine Stunde und vier Zigaretten später stand Will wieder vor dem Mann, der nun noch gelangweilter aussah, aber trotzdem ein widerliches Grinsen im Gesicht hatte. Er starrte den Mann an, fast schon wütend.
„Sie wussten, dass dies das einzige Hotel in der Stadt ist.“ sagte Will leise.
„Ja.“ erwiderte der Mann.
Nun drehte sich Will zu Sarah und Harry um.
„Wie viel Geld habt ihr?“ fragte er.
Sarah kramte ihre Geldbörse heraus und öffnete sie. Langsam und ein bisschen zögerlich zog sie insgesamt vierzig Pokédollar aus ihrer Börse. Sie gab Will das Geld, ohne auch nur ein Wort zu sagen.
„Ich habe noch sechzig Pokédollar übrig. Gut, das reicht für ein Zimmer.“ Er sah Sarah nachdenklich an. „Würde es dir etwas ausmachen, heute draußen zu schlafen? Du kannst auch meinen Schlafsack haben.“
„Will!“ rief sie schockiert.
„Ist ja gut. Es war nur eine Frage.“
Er drehte sich wieder um und legte das Geld auf den Tresen.

Es war schwer zu verstehen, eigentlich gar nicht, dass das Zimmer 100 Pokédollar die Nacht wert war. Das Zimmer war klein, allerhöchstens neun Quadratmeter, das Badezimmer nicht mit einberechnet. Wenn man aus dem Fenster sah, blickte man auf eine kleine Gasse und eine Hauswand, mehr war nicht zu sehen. In einer Ecke des Raumes stand das kleine Bett, dessen Matratze schon durchgelegen und alt war. Davor stand auf einem kleinen Schrank ein uralter Fernseher. Das einzige, was einigermaßen in Ordnung war, war das Badezimmer, das zu Wills Verwunderung nicht von einer dicken Schicht Schimmel befallen war. Auf der ersten Blick schien das Badezimmer recht sauber zu sein, bei genauerem hinsehen konnte Will auch nichts Gravierendes finden.
Sarah und Harry standen in der Tür, schockiert über den Zustand des Zimmers, und sahen dabei zu, wie Will es inspizierte. Irgendwann überwand Sarah die Abscheu und setzte sich auf das Bett. Will stand einige Zeit vor ihr und sah sie an, dann verschwand er mit seinem Rucksack in dem Badezimmer. Jetzt setzte sich auch Harry auf das Bett.
Zwanzig Minuten später kam Will wieder aus dem Badezimmer, sauber und in neuen Klamotten. Er warf seinen Rucksack neben das Bett und sagte: „Steht auf.“
Harry tat, was er sagte, aber Sarah blieb sitzen und fragte - wie immer - nach dem Warum.
„Du sollst aufstehen, damit ich mich hinlegen kann. Ist das so schwer zu verstehen. Du kannst meinetwegen auf dem Boden schlafen.“
„Du willst jetzt schon schlafen? Ich dachte, wir gehen alle zusammen einkaufen. Ich brauche neue Sachen zum Anziehen und ich habe Hunger.“
„Und von welchem Geld sollen wir das bezahlen. Hast du etwa schon vergessen, dass wir unsere letzten Pokédollar für dieses Zimmer hergegeben haben.“
„Also ich habe noch 200 Pokédollar.“
„Aber du hast doch vorhin gesagt, dass du nur vierzig hast.“
„Ich hatte nur vierzig für die Übernachtung übrig. Den Rest wollte ich mir natürlich aufheben für neue Klamotten.“
Er sah sie mit einem müden und zugleich wütenden Blick an.
„Manchmal würde ich dich gerne schlagen.“

Will wusste nicht, wie er sich wieder dazu hatte überreden lassen. Seit zwei Stunden folgte er Sarah in jedes Geschäft, war es auch noch so klein und schäbig. Er hatte sie schon in mindestens zwanzig verschiedenen Sweatshirts, dreißig Blusen, zehn T-Shirts und vierzig verschiedenen Hosen gesehen. Und es schien kein Ende zu nehmen, überall entdeckte sie noch etwas und war dann doch nicht zufrieden damit.
Nun saß er in diesem Kaufhaus fest, direkt vor der Umkleidekabine. Harry saß neben ihm, ebenso ausgezehrt. Vor kurzem erst war Sarah mit ein paar Klamotten unter dem Arm in die Kabine verschwunden, jetzt wartete Will darauf, dass es wieder losging.
„Bitte sag dieses Mal nichts Falsches.“ wiederholte Harry zum dritten Mal.
„Ich sage nur das, was ich auch meine.“
„Das ist ja das Problem. Sei einfach nett und sag ihr, dass sie gut in den Sachen aussieht, sonst dauert das nur noch länger.“
„Ich werde es versuchen.“
Sarah sprang aus der Umkleidekabine und blieb vor den beiden stehen. Sie trug einen grauen Kapuzenpullover mit dieser schrecklichen Beuteltasche vorne und eine simple Jeans. Die Turnschuhe hatte sie schon vor mindestens einer Stunde gekauft und waren auch das einzige bis jetzt. Sie drehte sich herum und fragte, was sie davon hielten. Will und Harry sahen sich an, Harry sah flehend aus. Dann sahen sie wieder Sarah an.
„Du siehst wunderschön aus.“ sagte Harry.
„Du siehst nur noch fetter aus in dem Pullover.“
„Will!“ riefen Harry und Sarah gleichzeitig.
„Nein, es stimmt. Sieh dir das doch an.“ Er stand auf, ging auf Sarah zu, dann legte er die Hände an ihre Hüften. „Hier sitzen die kleinen Fettpolster. Und mit dem schlabberigen Pullover versuchst du das vielleicht zu verdecken, aber das macht es nur noch schlimmer.“
„Das sind keine Fettpolster.“ erwiderte Sarah mit einer aufgeregten, hohen Stimme.
Will kniff ihr in die Seiten und lachte leise. Um ihn herum drehten sich die Menschen schon um und starrten ihn an. Sarah lächelte nur und erwiderte die Blicke der Menschen, als wolle sie sagen, dass das nicht so schlimm sei. Aber in ihr überschlugen sich die Gefühle, sie war nicht wütend, nur zutiefst beschämt. Sie stieß Wills Hände weg und rannte zurück in die Umkleidekabine.
Jetzt stand Harry auf.
„Ich habe Freunde in der Stadt bei denen ich übernachten kann. Sie mögen keine Menschen, deswegen habe ich dir auch nichts von ihnen erzählt. Und ich hatte gehofft, dass ich einen Besuch bei ihnen umgehen könnte, aber ich möchte diese Nacht wirklich nicht in eurer Nähe sein. Das könnte noch gefährlich werden.“
Er drehte sich um und ging auf die Tür zu.
Will sah ihm nur hinterher und sagte: „Was soll den passieren.“
Kurz darauf kam Sarah aus der Umkleidekabine. Sie hatte ihren Kopf gesenkt und hielt den Kapuzenpullover und die Jeans in den Händen. Damit ging sie zur Kasse und bezahlte sie. Wortlos verließ sie dann das Kaufhaus und setzte sich draußen auf den Bürgersteig. Will folgte ihr nur langsam, ließ sich dann aber auch auf dem Bürgersteig nieder. Er zündete sich eine Zigarette an und sah den Menschen zu, die noch ihre letzten Einkäufe vor Ladenschluss tätigten.
„Will, das war zu viel.“ flüsterte Sarah nach einiger Zeit.
„Was meinst du?“
„Du hast es übertrieben mit deinen Späßen. Ich meine, es ist noch okay, wenn du manchmal in deiner Wortwahl ein bisschen derbe Töne anschlägst und mich beleidigst, aber du hast mich vor allen anderen Menschen bloßgestellt und gedemütigt.“
„Das waren keine Späße. Du hast wirklich diese Fettpolster an der Hüfte. Das wundert mich auch nicht, wenn du auf deine Reise trockenes Brot und Schokoriegel mitnimmst. Außerdem wollte ich dir nur wieder klar machen, dass ich dich nicht leiden kann.“
„Wenn das so ist…bring mich wieder zum Hotel.“
Sie stand auf und ging los. Will seufzte nur und folgte ihr.

Sarah setzte sich auf den Boden, warf ihre neuen Klamotten und die Winterjacke in die Ecke und griff nach Wills Schlafsack. Währenddessen ging Will zum Bett und ließ sich darauf fallen. Müde streifte er die Schuhe ab. Er drehte sich auf die Seite und sah dabei zu, wie Sarah versuchte, den Schlafsack innerhalb des spärlichen Raums zu platzieren. Dann griff er nach der Flasche, die in seinem Rucksack lag und nahm einen kräftigen Schluck daraus. Er leerte die Flasche innerhalb kürzester Zeit und ließ sie dann neben dem Bett auf den Boden fallen.
„Du dachtest wirklich, das ist alles nur Spaß?“ fragte er.
„Ich dachte, du wärst ein normaler Mensch, der seine unzulänglichen sozialen Fähigkeiten nur hinter Beleidigungen und einer unnötigen Alkoholsucht versteckt. Aber du bist nur ein widerliches Monster.“
So direkt war sie während der ganzen Reise durch den Kriechwald nicht gewesen. Aus irgendeinem Grund traf ihn diese Anschuldigung schwer, obwohl beide Meinungen nicht besonders freundlich waren.
„Ich bin kein Monster. Schließlich habe ich dir geholfen vor dem Herrscher des Waldes zu fliehen. Ich mag dich einfach nicht, das ist alles.“
„Aber warum?“
Sarah stand auf, kniete neben dem Bett und legte die Arme auf die Matratze. Sie sah ihn mit einem hilflosen und zugleich flehentlichen Blick an. Irgendwas sagte Will, dass sie doch nicht so leicht zufrieden zu stellen sei, wie er dachte. Er hatte gehofft, dass sie nicht mehr weiter nachbohrte, wenn er ihr einfach sagte, dass er sie hasst. Aber es spornte sie scheinbar nur noch mehr an, je mehr er sie abwies.
„Du bist siebzehn Jahre alt und benimmst dich manchmal wie ein Kind, du redest zu viel, du hast mich gezwungen ein Pokémon zu fangen, du hast mich mit dem Pfefferspray außer Gefecht gesetzt und da gibt es noch viele Gründe, warum ich dich nicht mögen sollte. Es ist nicht deine Schuld, vielleicht mögen dich andere Menschen, aber ich tue es nicht. Versuch das einfach zu verstehen und lass mich in Ruhe.“
„Das kann ich nicht verstehen.“
Sie erhob sich langsam, kroch an der Matratze hoch, bis sie auf dem Bett lag, direkt neben Will. Aussichtslos versuchte sie sich an Will festzuklammern, aber er stieß sie jedes Mal wieder zurück. Irgendwann schaffte sie es sich auf ihn zu rollen und mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte, seine Arme festzuhalten. Dann küsste sie ihn. Es war ein kurzer Moment, weil Will seinen Kopf zur Seite wegdrehte, aber es war ein sonderbar angenehmer Moment. Will versuchte nicht mehr, sich zu befreien, er ließ sie einfach auf sich sitzen, bis sie von alleine wieder von ihm herunter kam und sich neben ihn legte. Vorsichtig schlang sie ihre Arme um seinen Oberkörper. Sie atmete heftig. Und Will wusste nicht, was er machen sollte - er war verwirrt.
„Du bist wahnsinnig.“ sagte Will und berührte eine ihrer Hände mit seiner.
„Ich will es aber.“
Will drehte sich überrascht zu ihr um und sah in ihre blauen Augen, die von einsetzenden Tränen wässrig waren. Sie war wirklich verrückt nach ihm, egal was er machte.
„Du bist siebzehn.“
Sie küsste ihn erneut, dieses Mal ließ er es zu. Kurz darauf lag er über ihr, hatte das Hemd schon ausgezogen. Vorsichtig küsste er ihren Hals und versuchte nebenbei ihren BH zu öffnen. Doch Sarah stoppte ihn, drückte ihn von sich weg.
„Hast du das schon mal gemacht?“ fragte sie. Ihre Lippen zitterten leicht, als sie die Frage stellte.
„Es ist schon länger her, dass ich das letzte Mal Sex hatte. Und du?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich…ah verdammt…ich werde versuchen, vorsichtig zu sein. Aber beschwer dich nicht, wenn es wehtut.“
„Das werde ich nicht.“
Jetzt ließ sie Will wieder an sich heran. Er öffnete ihren BH und streifte ihn über ihre zittrigen, blassen Arme. Langsam berührte er ihre kleinen, runden Brüste, die durch das Licht des Vollmondes silbrig glänzten, mit seinen kühlen Händen. Er berührte ihre Brustwarzen mit seiner Zunge, spielte mit ihnen. Sarah stöhnte leise. Will küsste ihre rechte Brust, fuhr dann langsam herunter, bis zu ihrem Bauchnabel, die Hände immer an ihrer Hüfte, bereit ihr rosa Höschen auszuziehen. Doch er zögerte, hielt inne und sah in ihr Gesicht.
„Du weißt aber, dass ich sieben Jahre älter bin als du.“ sagte er leise.
„Das ist okay. Hör nicht auf.“
Er tat, was sie sagte. Behutsam schob er ihren Slip herunter, zunächst bis zu den Knien, dann, nach einem weiteren Blick in ihr Gesicht, streifte er es über ihre Füße und warf es weg. Damit war das Vorspiel aus seiner Sicht beendet. Innerhalb von wenigen Sekunden und mit einer Behändigkeit, die ihn selbst überraschte, hatte er seine Jeans, die Boxershorts und die Socken ausgezogen und hockte neben Sarahs Körper. Sein Penis war bereits steif.
„Hast du Kondome?“ fragte Will.
„Nein.“
„Na ja, ich habe noch eins, das ich schon seit Jahren mit mir herumtrage.“
Schnell kramte er das Kondom aus der Tasche seiner Hose, die neben dem Bett lag. Er öffnete die Verpackung und streifte das Kondom über. Dann begann für ihn der schwierigste Teil. Unbeholfen versuchte er sich über Sarah zu platzieren, wälzte sich immer wieder von ihr herunter. Bis Sarah irgendwann seine Arme ergriff, die er links und rechts von ihr auf die Matratze stützte, und ihre Beine leicht anwinkelte.
„Ist es so besser?“ fragte sie unsicher.
„Ja, das müsste gehen. Warte…“
Er legte eine Hand an sein Glied und führte es vorsichtig zu ihrer Vagina. Erneut hielt er inne und sah sie an. Sie wirkte so ruhig und doch so unsicher, beinahe ausgelassen verwirrt. Das Mädchen hatte überhaupt keine Ahnung, was passierte und schien doch zu versuchen, alles richtig zu machen. Das war etwas, das Will so anziehend fand, aber vielleicht war es auch nur der Alkohol, der ihn dazu trieb. Er wusste es nicht.
„Ich fang jetzt an, okay?“ sagte er.
„Okay.“
Bedächtig drückte er seinen Penis in sie hinein, versuchte nicht allzu grob vorzugehen. Sarah stöhnte nun lauter, krallte sich an seinen Armen fest. Will versuchte langsamer vorzugehen, machte immer wieder kleine Pausen, doch dann hatte er ihr Jungfernhäutchen durchbrochen und war vollends in sie hinein geglitten, vielleicht ein wenig zu heftig und schnell. Er lag auf ihr, hatte die Arme um ihren Hals gewickelt und versuchte das leise weinende Mädchen zu beruhigen. Währenddessen bewegte er seinen Penis langsam hinein und heraus. Schließlich hatte er ihr gesagt, dass sie sich nicht beschweren solle, wenn er zu grob war.
„Warte, Will.“ stöhnte Sarah.
„Was ist?“
„Bitte nicht so schnell.“
Er stoppte und zog eine Hand unter ihrem Kopf hervor, um ihr eine Träne aus dem Gesicht zu wischen.
„Ich habe dir gesagt, du sollst dich nicht beschweren. Ich weiß, was ich tue…glaube ich.“

Der Morgen brach an. Eine laute Stimme riss Will aus seinem geruhsamen Schlaf. So gut hatte er nicht mehr geschlafen, seitdem er das erste Mal betrunken gewesen war. Langsam tastete er nach seinem Rucksack, doch er fand ihn nicht. Ganz vorsichtig, nicht zu weit, öffnete er seine Augen, sodass er ein wenig sehen konnte. Der Rucksack war wirklich nicht da.
„Seid ihr da!“ hörte Will jetzt wieder die Stimme sagen. Es war Harry
Mühselig kroch Will aus dem Bett und ging leicht benommen und immer noch verwirrt zur Tür. Er öffnete sie und sah auf Harry herunter.
„Mein Gott! Zieh dir etwas an!“ rief Harry erschrocken und wand sich ab.
Will sah langsam an sich herunter. Das hatte er ja ganz vergessen. Dann drehte er sich zu dem Bett um, Sarah war nicht da. Erneut blickte er auf den Platz, wo sein Rucksack sein sollte, er war auch nicht da. allmählich ergab sich bei ihm im Kopf ein Bild.
„Wo ist Sarah?“ fragte Will.
„Ich dachte, sie wäre hier. Was ist denn passiert?“ entgegnete Harry, die Augen waren immer noch abgewandt.
„Und wo sind meine und ihre Taschen…verfluchte Scheiße…“
Will stürmte in das Zimmer, griff nach seinen Klamotten und streifte sie schnell über. Als er sein Hemd noch nicht richtig angezogen hatte, war er auch schon aus der Tür gerannt. Harry blieb verdutzt in dem schmalen Flur stehen und blickte Will hinterher.

Sarah sah ein letztes Mal zurück auf die Kleinstadt. Sie hatte nicht gewollt, dass diese Nacht so einen bitteren Nachgeschmack bei Will hinterlassen würde, aber er hatte sie sowieso nie gemocht. Schließlich vertrauten viele Leute auf sie, Leute, die wirklich viel von ihr hielten. Megaton City war das Ziel, nichts anderes durfte zählen. Dennoch blieb dieses ungute Gefühl in der Magengegend. Sie wand sich von der Stadt ab, nein, sie wand sich von dem Mann ab, dem sie ihre Jungfräulichkeit anvertraut hatte. Das war es, was bei ihr so ein schlechtes Gefühl verursachte. Sie wollte ihn nicht verlassen.
Sarah drehte sich von der Stadt weg, Tränen drängten in ihre Augen. Nur verschwommen nahm sie eine Gestalt vor sich wahr, aber sie erkannte Will. Er stand da, völlig außer Atem, mit einem wütenden Blick. Wie hatte er sie so schnell gefunden?
Erschrocken ließ Sarah Wills Rucksack von der Schulter sinken. Sie starrte in die finsteren Augen von Will, unfähig wegzulaufen.
„Wie…“
„Du wolltest nach Megaton City. Die Hauptstraße ist der schnellste Weg dahin.“ erklärte Will und richtete seinen Oberkörper auf. Er hatte sich von dem Sprint allmählich erholt.
„Ich…ich…“
„Hör auf zu stottern!“
Er ging auf sie zu und schlug ihr mit der Handfläche ins Gesicht. Mit der Faust wollte er sie nicht schlagen, dazu waren die Eindrücke der letzten Nacht noch zu präsent. Doch seine Wut kochte fast über, er wusste nicht, wie lange er sich noch beherrschen konnte.
Sarah legte eine Hand auf ihre rote Wange.
„Bitte steh mir nicht im Weg. Es ist besser für uns beide, wenn du nicht weiter nachfragst.“
„Das hast du die ganze Zeit geplant. Du hast mein Vertrauen erschlichen indem du bereit warst mit mir Sex zu haben. Du bist nichts weiter als eine billige Hure, die ihren Körper verkauft, um an ihr Ziel zu kommen. Ich würde dich gerne noch mal schlagen, aber ich weiß nicht, ob ich dann noch aufhören kann.“
„Warum versuchst du es nicht?“
Er schlug sie erneut mit der flachen Hand.
„Sei nicht so frech.“
Sarah sank auf den Boden und hielt sich an seinen Beinen fest. Sie brach in Tränen aus, bitteren Tränen. Laut schluchzend blickte sie zu Will auf, doch er hatte nur Verachtung für sie übrig. Sie liebte ihn doch, aber sie konnte nicht so weiter machen, vieles stand auf dem Spiel.
„Ich wollte das nicht tun. Lass es mich bitte erklären.“
„Ich will deine Geschichten nicht hören. Ich will nur wissen, ob du es bereust.“
„Das tue ich. Ich liebe dich.“
„Wenn du das wirklich tust, dann bring meinen Rucksack zurück zum Hotel. Ich werde dort auf dich warten. Wenn du nicht kommst, werde ich dich irgendwann finden und dir deine süßen blauen Augen herausreißen.“
Er stieß sie von sich weg, um zu gehen, doch Sarah klammerte sich immer noch an ihm fest. Jetzt hob er sie auf ihre Füße und schlug sie erneut, dann stieß er sie in das Gras und ging.
„Ich kann das nicht tun!“ rief Sarah verzweifelt.

Will und Harry saßen auf dem Bett in dem schäbigen Hotelzimmer. Keiner sagte ein Wort, keiner konnte etwas sagen. Sarah war die Art von Mensch gewesen, von denen man nie eine böse Tat erwarten könnte. Dass sich jetzt heraus gestellt hatte, dass sie nicht mehr war als ein Dieb, der sich das Vertrauen anderer erschlich und sie dann beklaute, stellte Will vor ein großes Problem. In der letzten Nacht hatte er sich ihr auf eine Weise genähert, die er nie für möglich gehalten hatte, er hatte sich mit ihr verbunden. Deswegen konnte er sie jetzt nicht einfach so loslassen und hoffte sogar, dass sie zurückkam.
„Wirst du bald gehen?“ fragte Harry irgendwann.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht warte ich noch eine Stunde, vielleicht gehe ich mich auch einfach betrinken. Wenn sie nicht zurückkommt, ist meine Reise ohnehin zu Ende, in dem Rucksack war alles, was ich brauchte.“ entgegnete Will abwesend. Sein Blick war starr zu Boden gerichtet, er griff schon wieder nach einer Zigarette.
Die Tür öffnete sich langsam, Sarah stand in der Tür. Sie warf Wills Rucksack auf den Boden und sah die beiden an.
„Ich möchte dir folgen, Will.“ sagte sie entschlossen.
Will schwieg, steckte die Zigarette wieder in die Schachtel und stand auf. Er blieb vor ihr stehen und sah ihr in die Augen.
„Du weißt hoffentlich, dass ich kein Vertrauen mehr zu dir habe. Und ich will auch nciht wissen, warum du das getan hast.“ sagte er.
„Will…“
Sei einfach ruhig.“ Er nahm seinen Rucksack und ging an ihr vorbei. „Ich hoffe nur, ich muss dir für die letzte Nacht nichts bezahlen.“ Dann verließ er das Zimmer.
Eine einzelne Träne lief über Sarahs Wange, wenig später wischte Sarah sie aus ihrem Gesicht und folgte ihm.
„Das wird noch eine lange Reise.“ stöhnte Harry und erhob sich von dem Bett.
 

Hollow Point

Nero VI.
Otaku Veteran
Episode 6: Bis aufs Blut

Will blickte auf Megaton City herab. Er setzte einen Fuß an den Rand des Abhangs, auf dem er sich befand, und starrte auf die Stadt. Dort waren die Wolkenkratzer, die Autos, die sich auf den engen Straßen in die Stadt drängten, der unglaubliche Lärm, der aus der Stadt kam. Er hatte Megaton City schon immer gehasst. All diese verwinkelten Straßen, die vielen Menschen, das fand er so abstoßend.
Langsam näherte sich Sarah von hinten. Sie stellte sich neben ihn, lehnte ihren Kopf gegen seinen Arm und griff nach seiner Hand. Aber Will stieß sie von sich.
„Nicht.“ flüsterte er.
Daraufhin zog sich Sarah wieder zurück.
„Wann darf ich mich denn wieder dir nähern?“ fragte sie unsicher.
„Das wird noch lange dauern, vielleicht niemals. Versuch einfach mir nicht im Weg zu stehen und mich nicht zu nerven. Dann werde ich auch versuchen, dich nicht zu schlagen.“
Das Verhältnis zwischen Will und Sarah war immer noch unverändert angespannt. Auf dem ganzen Weg von der Kleinstadt nach Megaton City hatten sie nicht ein Wort miteinander gewechselt und wenn Sarah versuchte, ihm irgendwie näher zu kommen, stieß er sie zur Seite. Es war für alle drei schwerer geworden, sogar für Harry, der sich nicht mehr traute, sie anzusprechen, weil dann irgendeine Bemerkung von Will dazu führte, dass Sarah sich wieder schlecht fühlte.

Allesamt saßen sie in einem kleinen Imbiss, schlürften ihre Getränke und aßen ihr Frühstück. Will blickte ständig aus dem Fenster. Nur um einen Löffel voll der Suppe, die vor ihm stand, in den Mund zu schieben, sah er auf den Tisch. Manchmal sah er auch Sarah an, wenn er einen Schluck aus der Bierflasche nahm. Aber sie bemerkte das gar nicht, sondern starrte nur auf ihre Suppe und seufzte leise.
Irgendwann begann Harry zu sprechen: „Und was hast du jetzt vor, Will? Willst du zur Arena?“ fragte er leise.
„Vielleicht. Erstmal will ich etwas essen und dann werde ich noch mehr Biere trinken, bis ich nicht mehr weiß wo ich bin. Dann vielleicht.“
Harry seufzte laut.
„Ihr könnt doch nicht ewig schweigen. Es ist passiert, also warum sprecht ihr nicht darüber. Warum macht ihr es euch denn so schwer?“
„Du hast damit nichts zu tun, also misch dich nicht ein.“ entgegnete Will brummig.
Kurz nachdem er das gesagt hatte, stand Will auf, legte sein letztes Geld auf den Tisch und nahm seine Bierflasche. Er nahm seinen Rucksack und verließ das kleine Häuschen, das an einer viel befahrenen Straße lag. Als er draußen auf dem Gehweg stand, zündete sich Will eine Zigarette an und sah sich um. Harry und auch Sarah beobachteten ihn die ganze Zeit durch das große, zur Straße liegende Fenster.
Nach einiger Zeit sah Harry Sarah an.
„Mich würde mal interessieren, warum du das getan hast, Sarah.“
Sarah sah ihn erschrocken an. Sie hatte sich so daran gewöhnt, dass niemand darüber sprach, weil Will es nicht tat. Aber Harry hatte sich vorher nicht dafür interessiert, also dachte sie auch, dass er nicht darüber sprechen würde. Diese Frage überrumpelte sie.
„Darüber kann ich nicht sprechen. Es tut mir Leid.“
Nun erhob sie sich ebenfalls und ging hinaus.

Mühsam drängte sich die kleine Gruppe durch die Masse von Menschen, die sich auf den Gehwegen befand. Sie waren auf der Suche nach einem Platz, wo sie sich ausruhen konnten, nachdem sie den ganzen Tag sinnlos durch die Stadt geirrt waren. Diese Stadt bot wirklich viel, sehr viel, fast schon zu viel. Überall standen Geschäfte, überall wollte einem jemand etwas verkaufen, ob nun an den vielen Sehenswürdigkeiten, an einfachen Ständen oder in den Geschäften. Es war Hauptbetriebszeit, das konnte man überall sehen und auch riechen. Sarah und Harry hielten manchmal an, um zu sehen, was verkauft wurde und zu welchem Preis, aber Will ging nur stur durch die Menge, rempelte hier und da jemanden an, mit einem Gesicht wie aus Stein. Irgendwann hatten sie den freien Platz gefunden, den sie so verzweifelt gesucht hatten: eine Bank am Rande eines schönen Parks umrahmt von zwei Bäumen. Will ließ sich darauf nieder und zündete sich eine Zigarette an, dann starrte er in den Himmel, ebenso in Gedanken versunken wie schon den ganzen Tag, wie eigentlich seit Tagen. Harry saß neben ihm und studierte eine Karte, während Sarah auf irgendwelche Orte tippte und ihm erklärte, was es dort gab. Sie kannte sich in der Stadt aus, jedenfalls genug, um kluge Anmerkungen zu machen. Sie wollte ja eigentlich auch nach Megaton City, um etwas zu erledigen, aber das war jetzt völlig in den Hintergrund geraten seitdem sie sich dazu entschieden hatte, bei Will zu bleiben.
„Und wo ist die Arena?“ fragte Harry.
„Die müsste da sein. Es ist schwierig sich hier zurechtzufinden, manche sagen, dass die Straßen angeordnet sind wie in einem verworrenen Spinnennetz.“
Sarah tippte auf die Karte, dort wo die Arena sein sollte.
„Nun gut.“ Harry drehte sich Will zu. „Du willst ein Trainer sein, also musst du in den Arenen kämpfen. Hast du das überhaupt schon einmal gemacht.“
Langsam blies Will den Rauch durch die Nase hinaus. Dann flüsterte er: „Ich habe schon mal gegen die Dummheit von Sarah gekämpft, aber verloren, selbst mit Prügel ist ihr nicht mehr zu helfen.“
„Will!“ rief Sarah und sprang auf.
„Das mit dem Kämpfen sollten wir klären, wenn wir bei der Arena sind.“ seufzte Harry und stand auf. Er hatte ein unglaubliches Talent dafür, etwas zu ignorieren. Er wollte auch gar nicht als Schlichter fungieren, allenfalls dafür sorgen, dass die beiden sich vertrugen bis er sein Ziel erreicht hatte. Danach konnten sie machen, was sie wollten.
„Das ist eine sehr gute Idee. Ich gehe zur Arena.“ sagte Will und stand auf.
Will ging voran. Sarah und Harry sahen ihm hinterher, verwundert über seine unerwartete Unternehmungslust und Entschlossenheit. Doch sie liefen ihm hinterher, denn sie wollten sich auf keinen Fall den ersten Kampf von Will entgehen lassen. Wahrscheinlich würde er verlieren und dann wieder so wie vorher sein: zynisch, schlecht gelaunt und betrunken. Aber es wäre auf jeden Fall interessant.
Will schob sich an den Menschen vorbei, so flink, dass Sarah und Harry kaum hinterher kamen. Er hatte das Gebäude auf der Karte gesehen, dahin wollte er und dann endlich diese verfluchte Stadt mit ihren verflucht lauten Bewohnern verlassen.

Die kleine Gruppe fand vor der Arena wieder zueinander. Will stand unschlüssig vor den großen, grauen Toren. Sarah und Harry beobachteten ihn. Langsam nahm Will seine beiden Pokébälle aus der Hosentasche und sah sie an.
„Willst du nicht hinein gehen?“ fragte Harry.
Will schwieg und sah weiter seine Bälle an. Schließlich seufzte er.
„Du hast keine Ahnung, wie man kämpft, oder?“ sagte Harry ebenso seufzend.
„Ich versuche mich nur daran zu erinnern, also stört mich nicht.“
Kurz darauf steckte er die Pokébälle wieder ein, nahm stattdessen eine Zigarette heraus und zündete sie an. Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, dass er das schnell regeln könnte. Viel sicherer war nun, dass der Arenaleiter ihm eine vernichtende Niederlage zufügen würde. Das würde Harry sicher freuen, er hatte jetzt schon wieder dieses versteckte Lächeln im Gesicht, das sagte: „Ich habe es dir gesagt.“ Allein schon deswegen wollte Will es wenigstens versuchen und zwar so, dass ihn niemand vergessen würde.
Will nahm einen Zug von der Zigarette, dann ging er auf das Tor zu. Er versuchte entschlossen zu wirken, obwohl er völlig verwirrt war. Mit einem Ruck stieß er das Tor auf, das mit einem Knall gegen die Wand schlug. Dann rief er: „Wo ist der Leiter! Ich möchte kämpfen!“
Verwunderte Gesichter starrten Will an, versuchten ihn auf sein unangebrachtes Verhalten hinzuweisen. Auf dem Boden der Arena saßen in einem Kreis mehrere junge Frauen, gekleidet in schönen und bunten Kleidern, und in der Mitte lag ein Mann, scheinbar schlafend, aber er summte leise. Ein junger Mann, nicht älter als 21, mit braunen Haaren, die modisch-modern gestylt waren, einem roten Hemd, weißen Hosen, dunklen Schuhen und einem weißen Schal locker um den Hals gewickelt.
Langsam trat Will näher, blieb aber einige Meter von der seltsamen Gesellschaft entfernt stehen.
„Der Arenaleiter?“ fragte Will erneut.
„Das bin ich.“ sagte der junge Mann, der in der Mitte lag. „Lasst uns allein.“
Die jungen Frauen standen auf und gingen an Will vorbei aus der Arena. Will sah ihnen noch hinterher. Sie waren allesamt wirklich schön, aber was sie mit dem Typen zu tun hatten, wusste Will nicht. Er wand sich wieder dem Arenaleiter zu.
„Dann lass uns anfangen.“ sagte Will und nahm seine Pokébälle zur Hand.
„Nein. Ich habe keine Lust.“
Der junge Mann legte sich hin und begann wieder leise zu summen.
„Äh…beweg dich. Ich will das schnell hinter mich bringen.“ entgegnete Will nun. „Oder hast du Angst?“
Er versuchte den Arenaleiter anzustacheln.
„Ich habe keine Angst, nur irgendwie bin ich zu müde. Kannst du nicht morgen wiederkommen?“
„Das wird ja immer besser.“ Will ging auf ihn zu und zog ihn an seinem Kragen hoch. „Wir kämpfen jetzt.“
„Na gut.“ seufzte der Mann. Er trabte langsam auf seine Position am Ende des Feldes und drehte sich zu Will um. Gähnend und mit einem Blick der Langeweile sah er Will an. „Also ich bin Adrian Franks, Arenaleiter von Megaton City und so weiter und so fort. Also kämpfen wir.“
„Okay.“
„Ach nein, das geht nicht. Mein Schiedsrichter ist nicht hier. Wir können keinen offiziellen Kampf austragen ohne Schiedsrichter.“
Harry trat nun näher.
„Das übernehme ich.“ sagte er.
Adrian Franks seufzte nur, dann nahm er zwei Pokébälle aus seiner Hemdtasche. „Ich hoffe, die Regeln sind dir bekannt. Das ist ein offizieller Arenakampf, also keine Tricks und krummen Dinger. Die Anzahl an Pokémon, die eingesetzt werden dürfen, sind in dieser Arena auf zwei beschränkt, also wähle deine Pokémon weise.“
Will nahm einen Schluck aus einer kleinen Glasflasche und erwiderte: „Ich habe eh nur zwei, also lass uns anfangen.“
Verwundert sah ihn Adrian Franks an.
„Wo hast du denn die Flasche her? Ich habe gar nicht gesehen, dass…ach ist auch egal. Fang an.“
„Wieso ich?“
„Du bist der Herausforderer.“
„Okay.“
Langsam suchte Will ein Pokémon aus, streckte dann die Hand aus und entließ sein Flemmli ins Freie. Das Pokémon drehte sich zu ihm um und sah ihn fragend an, aber Will deutete nur auf seinen Gegner. Wortlos starrte Will den Arenaleiter an, wartete auf den Gegner für Flemmli. Aber auch Adrian Franks ließ sich Zeit. Er nahm schließlich einen Pokéball und rief: „Los, Magmar!“
„Die erste Runde beginnt!“ rief Harry, der sich an den Rand der Mittellinie begeben hatte.
Das Magmar, dem man die Kampflust schon im Gesicht absehen konnte, stieß sich vom Boden ab und stampfte in einem atemberaubenden Tempo auf das kleine Flemmli zu. Das kleine Pokémon konnte gar nicht so schnell reagieren, da lag es auch schon auf dem Boden, niedergestreckt von einem mächtigen Faustschlag. Es rappelte sich wieder auf, sah zu seinem Trainer in der Erwartung von Anweisungen.
„Tu irgendwas.“ sagte Will nur, völlig aufgeschmissen.
Das Magmar stieß erneut auf das Flemmli zu, holte aus, um es abermals niederzuschlagen. Und es traf, streckte das Flemmli nieder, schleuderte es mehrere Meter weit über den Boden.
„Das ist lächerlich. Du weißt nicht mal, welche Attacken dein Pokémon beherrscht.“ lachte nun der Arenaleiter. „Warum bist du hier? Willst du vernichtend geschlagen werden?“
„Ach sei still. Flemmli verbrenn dieses Magmar!“ erwiderte Will.
Flemmli richtet sich nun wieder auf, sah zunächst Will, dann das gegnerische Pokémon an, dann rannte es los. Kurz vor dem Magmar sprang es hoch und mit einer schnellen Bewegung zog es die Krallen an seinen Füßen durch das Gesicht des Magmar. Aber das Pokémon schien völlig unbeeindruckt von der Attacke, es stieß Flemmli nur von sich weg.
„Lass uns das zu Ende bringen, Magmar. Feuerschlag!“ rief Adrian Franks seinem Pokémon zu.
Das Magmar erhob seine geballte Faust. Ein großer Feuerball entwickelte sich um die rote, runde Faust des Pokémons. Die Hitze, die von dem Feuer ausging, war so stark, so mächtig, dass die ganze Arena plötzlich erwärmt wurde. Jeder konnte die Stärke des Feuers spüren. Dann sauste die Faust auf das arme Flemmli herunter. Eine Feuerwand loderte in der Mitte der Arena auf, alles war in ein gleißend helles Licht getaucht. Rauch umhüllte Will und verdeckte seine Sicht, aber nur für einen Moment. Als die Wolke vorbeigezogen war, konnte er wieder klar sehen. Das Magmar stand da, die Faust in den Boden gerammt, was einen riesigen Riss verursacht hatte. Flemmli lag daneben, bewusstlos. Es hatte absichtlich an seinem Pokémon vorbei geschlagen, weil es wusste, dass Flemmli nicht so stark war, dass es die volle Macht ausgehalten hätte. Dieser Adrian Franks machte sich über Will lustig, und normalerweise hätte Will das völlig kalt gelassen, aber nun war sein Ehrgeiz geweckt. Er wollte diesen Adrian Franks am Boden sehen, sehen, dass er verlor.
„Das Flemmli ist besiegt!“ rief Harry.
„Flemmli, komm zurück.“ sagte Will und ließ sein Pokémon zurück in den Ball. „Dein Magmar ist stark, ich hätte auch nichts anderes von einem Arenaleiter erwartet. Aber du bist schwach, du kämpfst nicht mit voller Kraft. Das ist deine Schwäche.“
„Ich denke nicht, dass du das ausnutzen kannst.“ erwiderte Adrian Franks gelangweilt.
Will schwieg dazu. Er sah den Pokéball von Evoli an und versuchte sich an seine Schulzeit zu erinnern, daran welche Attacken dieses Pokémon beherrschen konnte. Wenn er sich daran erinnern konnte, wäre es nicht schwer herauszufinden, welche Attacken dieses Evoli besaß. Er musste sich nur erinnern. Da kam ihm der Gedanke an einen Spruch, den ihn Professor Clam beigebracht hatte.
„Das ist es! Evoli, los!“
Evoli schoss aus dem Pokéball, sofort bereit zum Kampf. Will deutete auf das Magmar.
„Tackle!“ rief Will seinem Pokémon zu.
Ratlos sah Evoli ihn an, mit genau dem Blick, den es immer aufsetzte, wenn Will irgendeinem Unsinn veranstaltete. Es war einer dieser Momente, die Will so sehr hasste. Er hasste es, wenn Evoli ihn so ansah, als glaube es, er wäre verrückt.
„Nun komm schon. Jedes Evoli beherrscht den Tackle.“
„Magmar, Feuerschlag!“ rief Adrian Franks.
Das Magmar des Arenaleiters stürmte auf Evoli zu, wieder mit diesem mächtigen Feuerball an der Faust. Die Faust stieß auf Evoli nieder, aber das kleine Pokémon wich geistesgegenwärtig aus. Das ist es, dachte Will. Warum war er noch nicht früher darauf gekommen.
„Rutenschlag!“ rief Will.
Evoli sprang hoch, flog auf das Magmar zu und wischte ihm mit seinem Schwanz durch das Gesicht. Das Magmar taumelte zurück, völlig verwirrt, und ließ seine Deckung offen. Das war der perfekte Zeitpunkt, um anzugreifen, aber Will wusste nicht, was er machen soll.
„Falls du irgendeine Attacke kennst, die ihn verletzen kann, dann nutz sie jetzt!“ rief er seinem Pokémon verzweifelt zu.
Und Evoli verstand, was er damit sagen wollte. Es sprang erneut hoch und flog auf das Magmar zu. Dann verbiss es sich in seinem Hals. Das brachte das Magmar dazu, das Gleichgewicht zu verlieren und rücklings auf den Boden zu fallen. Aber Evoli ließ nicht von ihm ab, es biss immer wieder zu, immer wieder in den Hals. Blut schoss aus den unzähligen kleinen Wunden. Gerade als Evoli all seine Kraft einsetzen wollte, verschwand das Magmar in einem roten Strahl.
Adrian Franks stand auf seinem Platz, hielt den Pokéball in dem sein Pokémon verschwunden war, in der Hand.
„Das war überraschend. Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie du so ein energisches Pokémon besitzt, obwohl man merkt, dass du noch nie mit ihm gekämpft hast. Jedenfalls beherrscht es eine starke Biss-Attacke.“ sagte Adrian Franks.
Man konnte spüren, dass die Stimmung zunehmend ernster wurde. Das müde Lächeln aus dem Gesicht des Arenaleiters war verschwunden und einem versteinerten, entschlossenen Blick gewichen. Ebenso hatte sich seine Art zu sprechen verändert, er sprach nicht mehr ruhig und besonnen, sondern voller List.
„Das war noch nicht alles. Bring mir dein nächstes Pokémon, dann zeige ich dir, was mein Pokémon wirklich kann.“
Evoli ließ sich müde neben seinem Trainer nieder.
„Ich denke nicht, dass dein schwächliches Pokémon auch nur eine Attacke meines nächsten Pokémons überstehen wird. Es ist doch schon außer Atem, und das obwohl es bis jetzt kaum etwas gemacht hat. Es ist kräftig, aber du hast es schlecht trainiert. Du solltest aufgeben bevor dein Pokémon sich ernsthaft verletzt.“
Will sah sein Evoli an. Es blickte ihn mit müden Augen an. So viele Attacken hintereinander waren nicht gut gewesen für es. Aber Will wollte diesen Sieg, er wollte es unbedingt. Das Schicksal seines Pokémons kümmerte ihn da wenig. Er hatte ohnehin nicht geglaubt, dass diese Zweckgemeinschaft lange anhalten würde. Warum sollte sie dann nicht mit einem großen Knall zu Ende gehen?
„Bring dein Pokémon.“ sagte Will entschlossen.
„Ich habe dich gewarnt. Los, Stollrak!“
Das mächtige, gepanzerte Pokémon schoss aus dem Pokéball. Für ein Stollrak war es groß, sehr groß sogar, und gut genährt. Wie ein Sumoringer postierte es sich vor Will und Evoli, bereits loszustürmen. Evoli erhob sich nun, trottete müde in das Arenafeld. Will wusste, dass eine Attacke von diesem mächtigen Stollrak ausreichend würde, um Evoli durch die Luft zu schleudern und es schwer zu verletzen. Aber Evoli musste es schaffen.
„Besiege es, Evoli!“ rief Will und stachelte sein Pokémon weiter an.
„Stollrak, Kopfnuss!“ stieß Adrian Franks aus.
Adrian hatte alles getan, um Will vor der Fortführung des Kampfes zu warnen, aber wenn er nicht hören wollte, dann musste er es erleben. So einen verbohrten und ignoranten Trainer hatte er noch nie getroffen. Es gab keinerlei Harmonie zwischen dem Trainer und seinen Pokémon, als seien sie nur behelfsmäßig zusammen gekommen. Und außerdem kümmerte der seltsame Trainer sich kein bisschen um seine Pokémon- das regte ihn noch mehr auf.
Das Stollrak stampfte los, ließ die Arena erbeben. Evoli stand da, sah ein letztes Mal seinen Trainer an. Doch Will sah nur auf den Arenaleiter, rief immer wieder, dass Evoli angreifen solle. Doch Evoli konnte nicht. Als das Stollrak immer näher kam, machte Evoli einen Satz vor, versuchte eine Attacke auszuführen, aber es gelang nicht, die Kraft war am Ende.
Wie in Zeitlupe stieß das Stollrak gegen Evoli. Aber Evoli biss sich an ihm fest, wurde herum geschleudert, bis es sich nicht mehr halten konnte und mit aller Gewalt, die das Stollrak aufbringen konnte auf den Boden geschleudert wurde. Ein Schrei hallte durch Wills Ohren, der Aufschrei des Schmerzes von Evoli. Plötzlich sah er sich wieder in der Schule, an diesem grauenvollen Tag. Was hatte er nur getan? Er hatte doch gewollt, dass es nie wieder so weit kommt. „Metallklaue!“ hörte er den Arenaleiter rufen. Nein, das konnte nicht sein. Er wollte nicht, dass er sich wieder schuldig fühlen muss.
Das Stollrak erhob eine kräftige Klaue und ließ sie auf das Evoli niedersausen, das sich immer noch vor Schmerz auf dem Boden wand. In dem Augenblick, wo die Krallen auf Evoli herabfielen, sprang Will dazwischen, fing die metallenen Klauen des Pokémons mit seinem Rücken ab. Sofort rief Adrian Franks sein Pokémon zurück, aber der Schaden war schon getan. Blutüberströmt und schwer atmend lag Will über seinem Pokémon, sah ihm in die Augen. Er würde nie wieder zulassen, dass jemand wegen ihm stirbt. Daraufhin wurde alles um ihn herum schwarz.

Will erwachte in einem Krankenhauszimmer. Weiße Wände, weiße Bettwäsche, alles um ihn herum war weiß, außer diesem kleinen, braunen Farbklecks auf seinem Bauch. Er konnte alles nur verschwommen erkennen, aber er spürte die Wärme auf seinem Bauch. Viele Erinnerungen hatte er nicht mehr an den Kampf, aber er wusste, was am Ende geschehen war. Er hatte verloren und zudem noch vernichtend. Seine Hand fasste nach dem braunen Fleck auf der Bettdecke – weiches Fell, langsamer Atem.
„Evoli.“ flüsterte Will mit trockenem Mund.
Das Pokémon spitzte die Ohren, hielt die Augen aber verschlossen.
„Ich sage es ungern, aber es…es tut mir Leid.“
Evoli murrte nur leise.
Gerade als Will noch etwas sagen wollte, flog die Tür auf und er sah Sarah, Harry und Adrian Franks eintreten. Sarah setzte sich gleich auf den Stuhl neben dem Bett und griff nach Wills Arm. Sie sah ihn an. Harry und Adrian Franks stellten sich neben dem Bett auf.
„Du bist endlich wach.“ sagte Sarah. „Die Ärzte haben gesagt, dass du noch bis heute Abend schlafen wirst, aber jetzt sind erst vier Stunden vergangen und du bist schon wach. Die Verletzungen sahen schlimm aus, aber das waren sie eigentlich nicht. Die Ärzte mussten sie nähen, ganz viele Stiche setzen, aber Narben werden bleiben. Das ist aber nicht schlimm, also Narben sind nicht so schlimm. Du solltest…“
„Sarah, sei still.“ unterbrach Will sie.
„Wie es scheint habe ich dich unterschätzt.“ sagte nun Adrian Franks. „Nicht viele Trainer würden eine Attacke für ihr Pokémon einstecken. Du hast meinen Respekt. Und deswegen will ich dir den Orden geben.“
„Spar dir das. Ich will keine Geschenke und auch keinen Respekt von dir. Morgen werde ich erneut gegen dich kämpfen.“
„Das wirst du wohl kaum nötig haben. Ich gebe den Beruf auf.“
Sarah riss einen Finger in die Höhe: „Er will uns begleiten und an den Ligakämpfen teilnehmen. Wusstest du, dass Arenaleiter einfach so teilnehmen dürfen, ohne Orden zu sammeln?“
Will sah sie müde an.
„Und du hast natürlich zugestimmt.“
„Genau.“
„Ich hasse dich.“
„Ruh dich erst mal aus. Du wirst den Orden sowieso annehmen. Ich kenne dich doch. Zuerst tust du so, als bräuchtest du niemanden und dann nimmst du doch die Hilfe an.“
„Verschwindet endlich, bevor ich noch wütend werde!“
Sarah sprang von dem Stuhl auf und drängte Adrian und Harry zur Tür. Bevor sie hinausging drehte sie sich noch mal um und sah Will an. Sie lächelte. Nun war sie sich sicher, dass sie ihre Vorgesetzten enttäuschen musste - Will war ein ganz besonderer Mensch.


Fortsetzung folgt…



Anhang:
Diese Episode widme ich all den Anime und Manga, die aufgrund schlechter Storylines und kindischer Entwicklung nicht die Chancen bekommen, die sie verdienen.
 
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