Wolfstraum

Kýestrika

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http://board.world-of-hentai.to/f15/wolfstraum-63167/ Kritik bitte hier hinein ...

und wer gerne etwas mehr über den Inhalt wissen möchte und dem der Spoiler dafür nicht reicht, kann hier nachlesen (Idee 2): http://board.world-of-hentai.to/f15...-ideen-fa-r-eine-geschichte-62662/#post535656 Allerdings gewährleiste ich nicht, dass die Handlung von der Idee abweicht. Meistens tippen nämlich meine Finger ohnehin was anderes, als geplant. Allerdings bleibt die Grundidee bestehen.

Hier erst mal eine Kleine Kostprobe, bevor ihr euch bedankt:

Prolog

„Du bist Schuld!“
Von überall her kamen diese Stimme und riefen immer wieder dieselben Worte. „Du bist Schuld!“
Es waren Stimmen ohne Gesichter. Sie drangen aus der Dunkelheit, die ihn umgab und wurden immer lauter. „Du bist Schuld.“ Zusammengekrümmt lag er auf dem Boden und versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, doch die Stimmen fraßen sich in seinen Kopf.
Dann nahm er eine Bewegung neben sich wahr und blickte auf. Ein kleiner Junge stand da, in der Hand einen kleinen Teddybären haltend.
Hoffnung klomm in ihm auf und er griff nach dem kleinen Jungen. „Jeremy!“
Langsam öffnete sich er Mund des Jungen und formten Worte, Worte, die er nicht hören wollte. „Du bist Schuld!“
„Nein! Bitte ..!“


Ein Nebel legte sich auf den Blick des Wissenschaftlers, als dieser erwachte. Tränen rannen an seinen Wangen herunter und blieben in den Bartstoppeln hängen.
Die bekannten Bilder verschwammen vor seinem Auge und zurück blieb nur ein schaler Nachgeschmack, der in ihm ein Gefühl von Unwirklichkeit weckte. Etwas, woran er sich seit Jahren nicht gewöhnen konnte.
Der Schweiß trocknete auf seiner Stirn und als er aufgehört hatte, zu zittern erhob er sich, um ins Bad zu gehen. Dabei warf er einen Blick in den Schrankspiegel und sah einen alten Kautz, dessen Gesicht vor Kummer abgemagert war. Einst strahlten die blauen Augen, doch nun hatten sie fast die Farbe von Grau angenommen.
Bloß ein alter Mann, der seinen Verpflichtungen nachging und dabei gegen jedes Menschenrecht verstieß …

Weil der Forscher in einer Stunde sowieso hätte aufstehen müssen, zog er sich rasch an und ging dann runter zu den Laboren.
Wir jeder andere Wissenschaftler dieses Unternehmens wohnte er in einer Wohnung, die das Gebäude bot. Ein Schlafzimmer, ein Bad, ein Wohnzimmer. Die Wände waren Schallisoliert, damit er die Schreie weiter unten nicht hörte. Seit fast acht Jahren wohnte er nun schon so.
Als er seine kleine Wohnung verließ blendete ihn im ersten Moment das sterile Licht der Neonröhren, welches von den weißen, schmucklosen Wänden reflektiert wurde. Ein Fenster gab es nicht. Aber er wusste auch so, dass es draußen noch Dunkel war und der Mond hoch am Himmel stand. Vollmond.
Er ging den schmalen Gang entlang, an Türen vorbei, tief in Gedanken versunken, bis zur Aufzugtür. Das ganze Gebäude besaß keine Treppen. Das bedeutete, dass er in einem Notfall, bei dem die Aufzüge überfüllt oder ausfallen würden, in der Falle saß. Denn um aus einem der Fenster in seiner Wohnung zu springen war es zu hoch.
Der Wissenschaftler rief den Aufzug zu sich in den elften Stock und wartete geduldig. Er vernahm das Geräusch einer sich öffnenden Tür und hastige Schritte in seine Richtung.
„Samuel! Guten Morgen. Haben Sie nicht erst um fünf Dienstanfang?“
Er drehte sich um und erblickte eine junge, adrett gekleidete Frau. Sie gehörte zu dem Team der Betreuer.
„Guten Morgen, Sabrina. Ich konnte nicht schlafen und vielleicht kann ich dafür heute Abend eine Stunde früher Schluss machen.“
Der Aufzug kam und beide stiegen ein. Er musste in den fünften Stock. Er wählte und die Türen schlossen sich. Mit einem Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung.
Die blonde Frau winkte ab. „Da muss ich Sie wahrscheinlich enttäuschen. Heute kommt der Neuzugang. Und Sie wissen ja, was das bedeutet. Tests, Tests und noch mehr Tests.“
Er nickte. Eine innere Unruhe machte sich in ihm breit. „Ach ja, dass habe ich ganz vergessen.“
Der Motor des Aufzugs brummte und wie jedes andere Mal hoffte er, er würde nicht stecken bleiben.
Als sie den achten Stock erreichten hörte er bereits schwach die Schreie, die von unten nach oben drangen. Im siebten waren diese bereits deutlich zu vernehmen.
Der Aufzug hielt und ein Stein fiel vom Herzen des Forschers. Er verabschiedete sich von der Frau neben ihn und ging den breiten Gang zu seinem Büro herunter, den Schreien entgegen. Hier herrschte bereits reger Betrieb.
Es brach ein neuer Arbeitstag an, durch den es sich zu quälen galt. Heute Mittag würde er den ersten Jungen aus dem Waisenhaus untersuchen und seine Test durchführen. Anschließend würde er ihm eine verdünnte Injektion geben und beobachten, wie der Körper des Jungens darauf reagierte. Es war mit Fieber und Krämpfen zu rechnen. Denn nur wenige vertrugen es.
Erst in etwa einer Woche würde er mit dem letzten Jungen aus der Umgebung fertig sein und dann würde er sich mit einem Team aus Wissenschaftlern zusammensetzen und sich beraten. Es war an der Zeit, neue Opfer zwischen zwei und sechs Jahren zu wählen.
Ja, Opfer, dass trifft es, dachte der Forscher traurig und betrat sein Büro.




Polaris

Die Lampen flackerten, spendeten kaum Licht, Tageslicht gab es überhaupt nicht. Irgendwo tropfte Wasser auf den nackten Boden. Das Geräusch wurde von den schäbigen, grauen Wänden reflektiert. Das Einzige, was glänzte sind die Gitterstäbe. Die Zellen boten kaum mehr Platz als ein etwas größerer Abstellraum. In jeder saßen drei Insassen.
Kaum ein Gefangener sprach. Die Meisten waren von den vielen Experimenten zu erschöpft und mussten sich selbst um ihre Verletzungen kümmern. Sie trugen zerlumpte Kleidung, die die Kälte nicht abhielt, welche hier vorherrschte.
In allen Gängen standen vier oder fünf Wachen in blauen Anzügen. Sie trugen Funkgeräte und Waffen bei sich, immer darauf gefasst, dass jemand zu fliehen versuchte.
Dies alles nahm Polaris in den ersten 10 Minuten nach seiner Bewusstlosigkeit wahr.
Er saß auf dem kalten Boden, das Gesicht hinter dem weißen Haar versteckt. Er hatte Angst. Angst, weil seine Mama nicht hier war, um ihm zu sagen, was er machen sollte. Angst, weil er hier niemanden kannte. Angst, weil er nicht wusste, wie er hier her gekommen war.
Die gelben, wölfischen Augen füllten sich mit Tränen und er begann zu schluchzen. Dann richtete sich der kleine, etwa acht Jahre alte Junge auf und ging zu den Gitterstäben. Als er eine Hand drauf legte durchzuckte Strom seine Hand und nun weinte er nicht nur wegen der Ungewissheit.
Sein Weinen und Rufen hallte durch die unzähligen Gänge des Gebäudes, doch niemand schenkte ihm Beachtung.

Irgendwann war er verstummt und in eine Ecke gekrochen, die nicht ganz so feucht wie der Rest der Zelle war.
Der Angst war Panik gefolgt, die irgendwann verebbte und einem Gefühl von Leere wich. Seine Mutter war tot, diese Gewissheit drängte sich in ihm auf. Und dann hatte man ihn hier eingesperrt. Er wusste zwar nicht wieso und weshalb, aber das erschien ihm unwichtig. Auf die Leere hin kam Wut und er musste nicht zusammen reißen, nichts Unvernünftiges zu tun. Er hatte es seiner Mama versprochen und versprechen durften nicht gebrochen werden, denn sonst würde etwas Schlimmes passieren.
Und so saß er in der Ecke, mit rotgeweinten Augen, die Arme um die Knie gelegt und wartete. Wartete auf etwas, wovon er nicht wusste, was es war.

Schritte näherten sich ihm. Er hörte sie schon weiten und wusste, dass sie zu ihm wollten. Es waren drei. Zwei Männer und eine Frau. Er hörte es an den Schritten. Noch etwa zehn Minuten, dann hätten sie ihn erreicht. Er wusste nicht, was sie von ihm wollten und er wollte es auch nicht wissen. Sie hatten seine Mutter umgebracht, da war er sich ganz sicher. So sicher, wie es ein Kind in seinem Alter eben sein konnte.
Polaris zog die Leinendecke von einer der freien Pritschen und hüllte sich darin ein. Es war kalt. Anschließend legte er sich auf den Boden und presste das Ohr daran. So konnte er jeder ihrer Bewegungen hören.

„Dort ist er!“
Die Frau deutete auf den kleinen Jungen, der kauernd auf dem Boden lag und ihnen giftige Blicke entgegen brachte. Von seiner Angst war weder was zu sehen noch zu spüren.
Einer der Männer trug einen weißen Mantel und hatte graues Haar. Wäre Polaris ihm auf der Straße begegnet, hätte er ihn für einen liebevollen Opa gehalten. Aber der Opa hatte ihn eingesperrt, also war er nicht lieb.
Dieser Mann beugte sich herunter, um Polaris Gesicht genauer sehen zu können. Die gelben Augen strahlten eine uralte Weisheit aus, die nicht so recht zu dem Jungen passen wollte. Misstrauisch verengten sie sich zu schmalen Schlitzen, als der Mann ihn beim Namen rief, regte sich jedoch nicht von der Stelle und antwortete auch nicht. Er musste klug und durchdacht handeln. So wie es seine Mutter ihn gelehrt hatte. Und auf keinen Fall durfte er ihnen sein Geheimnis zeigen.
„Möchtest du zu deiner Mutter, Polaris?“
Die kleinen Öhrchen zuckten, doch niemand konnte es durch das dicke Haar sehen. Was das ein Trick? Oder sollte seine Mutter wirklich noch am Lebens ein?
Der Junge setzte sich auf, zog die Decke noch ein wenig fester um sich und betrachtete den alten Mann. Die anderen zwei standen still da und beobachteten.
„Wo ist meine Mama?“
Der Mann lächelte ihn an und Polaris musste sich bemühen, ihn nicht anzuknurren.
„Mein Name ist Dr. Erich. Und wenn zu brav mit mir kommst und ein paar Fragen beantwortest, darfst du zu ihr.“
War das ein leeres Versprechen? Aber was, wenn der Mann die Wahrheit sprach und er diesen Vorschlag aus schlug?
„Ich will jetzt!“
Dr. Erich schüttelte den Kopf. „Das geht noch nicht. Erst musst du mir ein paar Fragen beantworten. Dann lass ich dich zu deiner Mutter. Das hört sich doch fair oder nicht?“
Die Stirn des Jungen legte sich in Falten und dahinter begann es zu arbeiten. Wenn seine Mama wirklich noch leben sollte, dann wäre es dumm, dieses Angebot nicht anzunehmen. Mit seiner Mutter konnte er hier bestimmt raus kommen. Aber wenn er log …
Er schluckte und lauschte. Schreie drangen von überall her in sein Gehör, das Rauschen seines eigenen Blutes wurde vom Herzschlag des Mannes übertönt. Er war nervös. Aber es war keine Angst, weswegen er beunruhigt war, das roch Polaris, es war etwas anders. „Okay.“

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EDIT (autom. Beitragszusammenführung) :
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„Nun, wie du weißt, bist du kein gewöhnlicher Junge.“
Der Wissenschaftler, der sich als Dr. Erich vorgestellt hatte, saß in einem großen Ledersessel, die Arme auf die Knie gelegt und zu dem Jungen nach vorn gebeugt, welcher sich weigerte, Platz zu nehmen. Sie befanden sich in eine Art Büro, wie es Polaris noch nie gesehen hatte. An den weißen Wänden hingen Apparaturen, die ein stetiges Brummen von sich gaben. An der metallenen Tür stand ein Wachmann, der den Auftrag bekommen hatte, den Jungen festzuhalten, sollte dieser versuchen zu fliehen. Hier gab es keine Fenster und Polaris fragte sich auf einmal ob es draußen hell oder dunkel war. Er hatte noch nie ein gutes Zeitgefühl gehabt.
Kaum merklich nickte Polaris. Ja, er war nicht normal.
„Kannst du mir auch sagen, weshalb?“
Stur starrte er den Mann an. Wieso stellte er ihm Fragen, dessen Antwort er bereits kannte?
„Rede doch bitte mit mir, mein Kleiner.“
„Ich bin nicht Ihr Kleiner!“, fauchte der Junge ihm entgegen. „Meine Mama nennt mich Polaris!“
Dr. Erich betrachtete ihn und sah lediglich einen etwas störrischen und verängstigten Jungen. Er seufzte und faltete seine Hände zusammen. „Okay, Polaris. Aber wir haben doch vorhin eine Vereinbarung getroffen. Du beantwortest mit ein paar Fragen und im Gegenzug lasse ich dich zu deiner Mutter.“
Die Lippen des Jungen wurden schmal. Auf was hatte er sich da nur eingelassen? Seine Mutter hatte ihn doch so oft vor solchen Spielchen gewarnt. Hatte sie ihn nicht sogar auf genau diese Situation vorbereitet?
Er senkte den Kopf. „Ich bin wolfgeboren.“
„Aber dein Vater ist ein Mensch.“
Der Kopf zuckte ruckartig hoch und im Blick des Jungen lag purer Hass. „Mein Vater ist ein Bastard.“
Dr. Erich brachte sachte ein Lächeln zustande. „Wie du willst. Worauf ich hinaus will ist … Du fragst dich doch bestimmt, wieso du hier bist, nicht wahr?“
Seine Hände ballten sich zu Fäusten, doch niemand sah es. „Nein!“
Es trat ein Augenblick des Schweigens ein, in denen der Forscher die Augenbraune überrascht hochzog. „Dann weißt du von uns?“
„Jeder von uns weiß es!“ Die Stimme des Jungens bebte vor Wut. Die Muskeln an seinem Hals spannten sich und er musste um Beherrschung ringen. Es durfte nicht passieren. Nicht hier. Sie durften sein Geheimnis niemals erfahren. „Jeder weiß, was ihr mit uns macht! Vielleicht denkt ihr, wir wären dumm, weil es nicht so viele von uns gibt, wie von euch, aber ihr seit die Dummen! Wir wissen viel mehr über …“ Erschrocken verstummte er. In seiner Wut hatte er sich verquatscht. Dabei hatte seine Mama ihm doch immer wieder gesagt, dass diese Männer nichts von ihrem System erfahren durften. Er war nun daran Schuld, wenn sie es doch taten.
In den Augen des Forschers lag Neugierde. „Über was?“
„Über nichts!“ Polaris lies sich auf den Boden fallen, setzte sich im Schneidersitz hin und verschränkte die Arme vor der Brust. Er würde keine Fragen mehr beantworten. Nicht, bevor er zu seiner Mutter durfte.
„Na gut. Dann kommen wir noch einmal zum Thema davor zurück. Nur eines deiner Elternteile ist also ein Werwolf. Bisher sind zwar Fälle bekannt, in denen ein Kind wie du daraus entstanden ist, aber du wirst sicher wissen, dass der Wolfselternteil das Neugeborene sofort nach der Geburt tötet. Kannst du mir erklären, wieso deine Mutter das nicht getan hat?“
Konnte er nicht.
„Wir stehen vor einem Problem, Polaris. Du bist der erste bekannte Fall, der überlebt hat. Und wir wüssten gerne wieso. Und wir wüssten auch gerne, was solch eine Verbindung für Auswirkungen auf deinen Körper hat. Wir haben deine Mutter dazu befragt, aber die meinte, du seist lediglich ein wolfgeborener Mensch. Keine besonderen Fähigkeiten, nichts, außer dein Äußeres erscheinen. Kannst du dem zustimmen?“
Konnte er.
„Du verstehst doch bestimmt, dass wir erst ein paar Tests mit dir machen müssen, bevor wir das glauben können, oder? Danach kannst du auch beruhigt zu deiner Mutter.“
„Sie haben gesagt, ich darf, wenn ich Ihnen Fragen beantwortet habe!“ Trotzig stand Polaris auf.
„Nur ein paar kleine Test. Es wird auch überhaupt nicht weh tun. Das verspreche ich dir.“
„Lassen Sie mich zu meiner Mutter. Sofort!“ Die Lippen zogen sich zurück und ein kaum hörbares Knurren entrann seiner Kehle, bevor er dem Einhalt gebieten konnte.
„Es wird nicht weh tun“, wiederholte Dr. Erich und nickte dem Wachmann hinter Polaris zu. Bevor der Junge wusste, was geschah, hatte man ihn bereits von hinten gepackt und der Wissenschaftler rammte ihn eine Spritze in den Armmuskel. Der Junge jaulte vor Schmerz auf und versuchte sich frei zu strampeln. Hoffnungslos. Zornestränen füllten die kleinen Augen. Er konnte hier nicht auf seine gesamte Kraft zurück greifen und so musste er dem Wissenschaftler etwas von seinem kostbaren Blut geben.

Man brachte ihn anschließend wieder in die Zelle von zuvor. Seine Mutter zeigt man ihm natürlich nicht. Wie dumm hatte er eigentlich sein können?
Als man ihn wieder einschloss trat und schlug Polaris wütend gegen die Gitterstäbe, doch als sich die ersten offenen Wunden an den Händen durch den Strom bildeten gab er es auf.
Er ging zu einer der freien Pritschen und rollte sich auf ihr zusammen. Nun kamen die Tränen und die Angst. Wo war seine Mama? Lebte sie wirklich noch? Oder hatten sie genau das mit ihr getan, wovon sie ihm immer erzählt hatte, das würde passieren, wenn sie nicht aufpassten?
Irgendwann versiegten die Tränen und er glitt in einen unruhigen Schlaf.

Er saß am Fenster und schaute hinaus, in eine weite, weiße Schneelandschaft. Es hatte bereits aufgehört zu schneien.
Polaris stürmte die Treppe hinunter, zu seiner Mutter ins Wohnzimmer und zog sie am Ärmel.
„Komm, komm! Das sieht alles so schön da draußen! Lass uns einen Schneemann bauen!“
Die Augen seiner Mutter leuchteten hellblau auf und sie nahm ihn hoch. „Hast du denn schon alle Schularbeiten fertig?“
„Ja. Nun komm schon. Los!“ Ungeduldig zappelte er in ihren Armen, bis sie ihn los lies und ihm sagte, der solle sich warm anziehen. Hier in den Bergen war es kälter als im Dorf.
Sie lebten hier seit nicht einmal einem Monat. Seine Mutter hatte ihm gesagt, sie müssen ab sofort hier wohnen, weil böse Männer sie suchen würden. Es machte ihm nichts aus, er hatte sich sogar sehr darauf gefreut. Freunde hatte er in der Vorschule ohnehin nie gehabt, sie fürchteten ihn, weil er anders aussah. Nun unterrichtete ihn seine Mutter nachmittags, wenn sie von der Arbeit kam. Doch oft war sie zu müde dafür und so lernte er meistens alleine.
Als er sich Mütze, Mantel, Handschuhe und Schal übergezogen hatte, stürmte der damals vier Jährige Polaris hinaus in den frisch gefallenen Schnee, dicht gefolgt von seiner lachenden Mutter.
Er nahm etwas von dem weißen, kalten Puder in den Hand, formte es zu einem Ball und zielte nach seiner Mutter, verfehlte sie allerdings, da er nicht weit genug schmeißen konnte. „Fang mich!“, rief er fröhlich und stapfte durch den Schnee. Seine Mutter rannte hinter ihm her, packte ihn unter den Schultern und drehte ihn einmal im Kreis. Polaris zappelte und quiekte freudig auf.
Anschließend bauten sie einen großen Schneemann zusammen.
Als sie fertig waren drängelte Polaris zur höchsten Kugel gehoben zu werden. Er legte seine Mütze und seinen Schal um den Schneemann. „Nun muss er nicht mehr frieren!“
Das Lachen seiner Mutter schallte durch die leere der Schneelandschaft. „Jetzt lass uns aber rein gehen. Deine Wangen sind schon ganz kalt.“
„Ich will Kakao!“
Er nahm die Hand seiner Mutter und lies die anscheinend so ruhige und verlassene Schneelandschaft hinter sich. Das war einer der letzten, glücklichen Tage in seinem Leben gewesen …
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Kýestrika

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Müde. Er war so müde von diesen immer wiederkehrenden Prozeduren.
Das Gespräch mit dem Jungen hatte wie erwartet rein gar nichts gebracht. Darauf hin hatte er versucht, mit einem Werwolf zu reden, der nichts von der Ankunft des Jungen wusste. Auch nichts. Wie immer nichts. Wenn ein Wolf über ein Thema schwieg, dann taten es alle Wölfe. Es schien wie ein stummes Versprechen zu sein. Als würden sie sich per Gedanken verständigen können. War das möglich?
Dr. Erich saß da und starrte auf die Akte des Jungen Polaris.
Ein Bild war auf der ersten Seite von ihm zu sehen. Weißes Haar und gelbe Augen. Irgendwie unheimlich. Er konnte sich nicht erinnern, einen Wolf gesehen zu haben, der mit solch einem Aussehen gebrandmarkt war. Natürlich gab es welche, die mit Narben oder fehlenden Gliedmaßen gekennzeichnet waren, aber keiner von ihnen hatte etwas von der Natur bekommen, dass sie außergewöhnlich aussehen lies. Aber dieser Junge. Hing es damit zusammen, dass er nur ein Mischling war? Aber wieso lebte er überhaupt? Wieso hatte seine Mutter gegen das Gesetz der Wölfe verstoßen und ihn am Leben gelassen, obwohl sein Vater nicht einer der ihren war? Doch vor allem erschien Dr. Erich die Frage wichtig, wieso sie ihre Mischlingskinder überhaupt umbrachten. Lag es wirklich an dem puren Hass, den sie Menschen anscheinend so entgegenbrachte. Aber nein … Er hatte doch auch schon einige von ihnen erlebt, die nach außen hin ein ganz normales Leben führten. Und wieso sollte sich ein Werwolf auf einen Menschen einlassen, wenn er sie so sehr verachtete? Irgendwas stimmte nicht.
Mit all diesen Jahren hatte sich der Professor schon einmal vor einigen Jahren beschäftigt gehabt und keine Antwort gefunden. Man hatte versucht, Mütter künstlich mit den Spermien eines Werwolfes zu befruchten und umgekehrt. Alles ein Fehlschlag. Er wusste nicht, woran es lag, dass Befruchtungen auf dem künstlichem Weg einfach nicht klappten, aber er war sich sicher, dass es die Wölfe wussten. Sie schienen ihre eigenen Wissenschaftler und ihr eigenes System zu haben, auch wenn dies bisher nur auf einem losen Verdacht hing. Noch eine Sache, in der sich die Wölfe einig zu sein schienen, nichts an dem Menschen preis zu geben. Selbst nicht unter Folter. Wären es Menschen gewesen, hätten sie irgendwann gesprochen, aber diese … diese … es waren keine Menschen. Sie litten lieber Qualen, als eines ihrer Geheimnisse zu verraten. Sogar die Kinder. Es musste ihnen also schon im jüngsten Alter eingeprägt worden sein oder aber, sie spürten die Schmerzen nicht so sehr Menschen. Aber sie waren schließlich auch keine. Waren es nie gewesen. Der Mythos, ein Mensch würde dann zum Werwolf werden, wenn er von einem gebissen wurde, war eben nichts weiter als ein Mythos. Entweder man wurde in das Schicksal eines Wolfes geboren oder aber man war keiner und würde es nie werden. Doch über die Jahre hinweg, in denen die Existenz solcher Wesen bestätigt wurde, wurden auch Mittel und Wege gefunden, den Mensch fast ebenbürtig zu machen. Aber eben nur fast. Auch war es den Wissenschaftlern gelungen, Heilmittel gegen bis dahin unheilbare Krankheiten wie HIV zu finden. Und alles lag in dem Blut und in den Genen der Werwölfe. Das alles war ihm, Dr. Erich zu verdanken, der letztendlich Beweise für das Leben eines Werwolfes gefunden hatte. Dennoch … dennoch fühlte er sich nicht wie ein Held, eher wie der Satan persönlich.
Dr. Erich schreckte aus seinen Gedanken hoch, als es an der Tür klopfte und einer der Schwestern aus der Krankenstation eintrat. Normalerweise wurde die Krankenstation nur für das Personal genutzt, niemals für Werwölfe, außer es handelte sich um einen besonders wichtigen. Werwölfe wurden nicht als Menschen angesehen und damit hatten sie in den Augen seiner Kollegen keine Rechte. Dr. Erich versuchte, diese Einstellung zu übernehmen, aber es gelang ihm nicht immer …

Der Junge lag zusammengekrümmt auf dem Bett und weinte ihm Schlaf. Immer wieder murmelte er nach seiner Mutter. Er musste sie unglaublich vermissen und noch schrecklicher mussten die Schmerzen sein. Er hatte Dr. Erichs Mitgefühl. Wieder einmal ein Fall, in dem er nicht glauben konnte, dass dieser keine Rechte habe.
Die Stationsärztin hatte ihm erklärt, dass er in seinem Verlies so übel zugerichtet worden war und man ihn anschließend hier her gebracht habe, weil man ihn als wertvoll betrachtete. Die Ärztin erläuterte dem Wissenschaftler, dass man die inneren Blutungen in einer Notoperation geflickt hätte und dass der Junge seit her schlief. Es bestand Verdacht darauf, dass er eine schwere Gehirnerschütterung haben könnte.
„Was ist mit seinem Auge?“, fragte Dr. Erich und betrachtete den Verband um den Kopf des Jungen. Das Auge darunter war komplett verdeckt.
„Es ist stark geschwollen. Zuerst dachten wir, er könnte darauf erblindet sein, aber dann sahen wir, dass nur das Lied abgerissen ist. Wir haben es ihm so gut es geht angenäht. Aber er wird es einige Tage nicht benutzen können, natürlich unter der Voraussetzung, er hat solch eine schnelle Regenerationsfähigkeit wie seine Verwandten. Wenn nicht“, sie schluckte kurz, bevor sie weitersprach, „dann wird es entweder Wochen dauern oder es wird nie ganz anwachsen und sich entzünden. Dann müssen wir das Lied wieder entfernen.“
Der Professor runzelte die Stirn. Natürlich wusste die Ärztin bestens Bescheid, wer vor ihr lag. Und sie würde auch wissen, dass man saubere Arbeit von ihr und ihren Kolleginnen erwartete.
Dr. Erich zog einen Stuhl zu sich und setzte sich vor das Bett des Jungen. „Ich warte hier, bis er wieder wach ist. Ich hätte da einige Fragen an ihn.“ Das war sein Job. So etwas erwartete man von ihm.
 
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Rote Augen starrten ihn an. Leid lag in ihnen. Und fast sahen sie entschuldigend aus.
Blut tropfte aus dem Maul, auf die zerfetzte Leiche des Neugeboren.
Dann änderte sich der Ausdruck im Gesicht dieses … Wolfes? Handelte es sich hierbei wirklich um einen Wolf? Aber um was für eine Gattung handelte es sich? Der Wolf war doppelt so groß als er hätte sein sollen und statt der Krallen an den Pfoten besaß er Hand- und Fußähnliche Gebilde. Erich versuchte die Tatsache, dass dieser Wolf zuvor ein Mensch gewesen war und es sich bei dem Neugeborenem eindeutig um ein menschliches handelte, zu verdrängen. Denn es war sein Neugeborenes und es war seine Frau. Und Herrgott noch mal, so etwas wie Werwölfe gab es nicht! Sein Verstand weigerte sich, diese Information aufzunehmen und zu verarbeiten. Und so stand Erich nur da und starrte auf diesen … Wolf.
Die Entschuldigung und der Schmerz verschwanden aus den Augen des Tieres und bevor Erich reagieren konnte, hatte er auch schon zum Sprung angesetzt und seine dolchartigen Zähne in seinen Unterarm versenkt.
Der Schmerz bewirkte, dass das Rauschen in Erichs Ohren aufhörte und er zur Besinnung kam. Er schrie auf und schlug nach dem Ungetüm. Doch es war zu schnell. Geschickt wich es den Schlägen aus und schnappte nach den Beinen des Arztes. Er fiel.
Reflexartig griff er nach dem Klappmesser in seiner Gesäßtasche und stach es in den Hals des Tieres, als sich dieses über ihn aufbäumte. Für einen Augenblick dachte Erich, es wäre sinnlos zu hoffen, doch da troff schon Blut aus der Halsschlagader auf sein Hemd. Der Wolf tat einen Schritt zurück und fast dachte Erich so etwas wie Dankbarkeit in seinen Augen zu lesen. Dann tat es etwas, zu dem kein Tier fähig sein sollte. Es zog vorsichtig das Messer aus der Wunde – ein Blutschwall ergoss sich daraus – drehte dem Wissenschaftler den Rücken zu, schritt in Richtung Wald und brach dann zusammen.
Keuchend saß der Mann da und beobachtete das Ableben des Tieres. Die Atemzüge wurden immer langsamer und schließlich holte es überhaupt keine Luft mehr. Er saß immer noch in seinem Schock, als das Tier sein Fell verlor und zu einem menschlichen Frauenkörper zusammenschrumpfte …


Jemand schrie. Es war ein sehr lauter Schrei, voll Entsetzen und seelischem Schmerz. Als Dr. Erich bewusst wurde, dass der Schrei aus seiner Kehle kam erreichte der Schrei gerade seinen Höhepunkt und brach dann ab.
Schweiß hatte sich auf der Stirn des Wissenschaftlers gebildet. Kalter Angstschweiß. Doch er war noch zu sehr von den Bildern seines Traumes gefangen um sich zu rühren. Und so lag er einfach im Dunklen und starrte zur Decke. Das tat er bis vier Stunden sein Wecker ihn daran erinnerte, dass es Zeit zum Aufstehen war. Mechanisch tat er das, was er jeden morgen tat.
 
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Kýestrika

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„Dr. Erich! Bitte kommen Sie schnell. Das müssen Sie sich ansehen!“
Eine der Krankenschwestern stand in der Tür seines Labors. Ihr Gesicht war gerötet. Sie war vier Stockwerke in Windeseile rauf geeilt. Dr. Erich duldete nämlich weder Telefon noch Handy in seinem Labor, um mögliche Störungen zu vermeiden. Wenn er sich im Labor befand hatte seine Sekretärin im Büro nebenan die strenge Anweisung in wegen keiner noch so dringlichen Sache zu stören. Dagegen, das die Schwestern für den Fall eines Notfalls eine Chipkarte für jeden Raum in diesem verdammten Gebäude hatten und dieses törichte Weib, welches nun hier stand und ihn in seiner Arbeit unterbrach, einfach ohne jegliche Erlaubnis in sein Domizil eingedrungen war, konnte er im Moment nicht viel tun. Doch er nahm sich vor, sich später beim Oberarzt darüber zu beschweren.
„Ich hoffe für Sie, Sie haben einen wirklichen guten Grund, einfach hier aufzutauchen!“, schnaubte er etwas ungehalten.
„Dass müssen Sie sich selbst ansehen. Bitte kommen Sie so schnell wie möglich!“
Dr. Erich schüttete das Blut, welches er eben noch unter dem Mikroskop etwas genauer betrachtet hatte, in den Behälter, der extra für die Abfallflüssigkeiten vorhergesehen war. Es wäre in dem kleinen Schälchen ohnehin gerinnt, bis er zurück war. Dann zog er sich seine weißen Arbeitskittel aus und folgte der jungen, blonden Schwester. Laut Namensschild hieß sie Sara Schnitt.
Sie fuhren die vier Stockwerke zur Krankenstation mit dem Fahrstuhl hinunter und eilten den weiten Flur entlang, bis sie vor der Tür zu einem der Räume standen. Es handelte sich um den Beobachtungsraum zu Polaris‘ Krankenzimmer.
Schwester Schnitt zog ihre Chipkarte durch den Scanner und die große, schwere Sicherheitstür aus Stahl öffnete sich mit einem lauten Klicken.
„Er scheint so etwas wie einen Tobsuchtanfall zu haben“, fing sie an zu erklären. „Es fing gleich nach seinem Erwachen an.“
Sie traten gemeinsam in den Raum und Dr. Erich blieb für einen Augenblick fast das Herz stehen, als er den Riss im Sicherheitsglas erblickte. Dieser erstreckte sich von der linken Seite des Glases bis hin zur Mitte. Dahinter lag Polaris Krankenzimmer. Oder besser: Das, was davon übrig war.
In den Wänden befanden sich teilweiße solch tiefe Löcher, dass die dicken Metallplatten darunter zu sehen waren. Der Schutt lag auf dem Boden. Die Überreste des Bettes und der Matratze lagen überall im Raum verteilt. Die Tür konnte er zwar von hieraus nicht sehen, aber er vermutete, dass er später einige Dellen darin finden würde.
Der Junge selbst stand am Sicherheitsglas und trommelte dagegen. Dann machte er einen Sprung nach hinten und griff die gegenüberliegende Wand an. Seine Finger schienen sich mühelos durch den Putz zu graben und zerfetzten ihn. Aber weiter als bis zur Metallplatte kam der Junge nicht.
Er hatte sich sein Hemd und die Verbände herunter gerissen und musste dabei sehr grob gewesen sein, denn auf seiner schmalen Kinderbrust waren tiefe, frische Kratzer zu sehen. Das einzige, was er bisher noch nicht in Stücke gerissen hatte, waren seine Shorts.
Das Haar hing ihm wirr ins Gesicht und Dr. Erich konnte schon auf dieser Entfernung sehen, wie es sich unter der Haut bewegte und pulsierte. Es schien keinen Muskel zu geben, den er nicht anspannte.
Mit einem Mal unterbrach Polaris seine Arbeit an der Wand und wandte sich zu der Scheibe um. Für einen Augenblick schoss Dr. Erich durch den Kopf, dass der Junge genau wusste, wer hinter der Scheibe stand. Vielleicht wusste der Junge sogar genau den Standpunkt des Wissenschaftlers.
Polaris kam mir einem Satz von Neuem an die Scheibe und versetzte ihr abermals einen Hagel an Schlägen. Dr. Erich hielt ohne es selbst zu merken die Luft an.
Hass und Wahnsinn glomm in Polaris heilem Auge. Aber dass, was sich Dr. Erich so sehr ins Gedächtnis brannte, waren nicht der Wahnsinn und auch nicht der Hass, es waren die Panik und die Verzweiflung die darin lag. Der Gelehrte beschloss, etwas dagegen zu unternehmen.
Er trat an das Mikro, welches sich vorne an der Armatur vor dem Sicherheitsglas befand und schaltete es ein. Durch den Lautsprecher hörte er das schnelle Atmen des Jungens und das Trommeln gegen die Scheibe, welches ohne die Lautsprecher nur dumpf im Raum erklang.
„Polaris“, der Forscher hielt kurz inne, als der Junge mit den Schlägen aufhörte und sich im Raum umblickte. Offensichtlich suchte er nach dem Quell der Stimme. „Bitte beruhige dich. Dir und deiner Mutter wird nichts passieren. Bitte … du wirst sie bald sehen. Bitte gedulde dich noch ein wenig.“
Forschend sah sich der Junge die Decke an. Dann sprang er an die oberste, von Dr. Erich aus gesehen linken Ecke im hinteren Teil des Raumes. Als sich die Hände und Füße so tief in das Gestein gruben, gab es ein hässliches Geräusch im Lautsprecher. Der Junge blieb nahe der Decke darin hängen, wandte sein Gesicht aber der Scheibe zu. Dr. Erich war sich nun sicher, dass der Junge ihn bewusst direkt ansah. Vielleicht konnte er ihn wittern oder spürte so etwas wie eine Aura. Zu diesem Zeitpunkt stand für den Wissenschaftler bereits eines außer Frage: Der Junge und seine Mutter hatten gelogen.
Als der Junge antwortete, klang seine Stimme alles andere als menschlich. Es war eine Mischung aus Knurren und Fauchen. „Solange ihr mir sie nicht bringt, bringe ich jeden um, der es wagt, diesen Raum zu betreten!“ Polaris fletschte seine Zähne zu einem Grinsen. Dr. Erich war sich nicht sicher, ob er es sich nur einbildete oder ob die kleinen Kinderzähnchen wirklich zu Reißzähnen geworden waren. Dann ertönte ein für die Ohren schmerzhaftes Rascheln und Zischen, als der Junge seine Hand genau in den Lautsprecher auf seiner Seite vergrub.

„Was werden Sie tun?“, unterbrach Schwester Schnitt die Stille, welche nun seit etwa 15 Minuten angedauert hatte. Seitdem hatte sich Polaris nicht mehr viel gerührt. Er war zur Mitte des Raumes gegangen, hatte sich dort im Schneidersitz niedergesetzt, blinzelte seither nur noch gelegentlich und starrte sonst ungerührt die Scheibe an. Dr. Erich dachte, dass der Junge etwas Raubtierartiges an sich hatte, wie er es nicht einmal bei den wildesten Werwölfen beobachtet hatte.
Dr. Erich war hin und her gerissen. Sollte er es riskieren, eines der Versuchsobjekte hineinzuschicken, damit dieses den Jungen mit einem Betäubungspfeil niederstreckte? Er war sich nicht ganz schlüssig, ob er das Leben eines der Versuchsobjekte aufs Spiel setzen sollte, denn er bezweifelte keine Sekunde, dass der Junge sein Versprechen wahr machen würde. Schließlich hatte der Junge demonstriert, dass seine Kraft ohne Verwandlung des eines verwandelten, ausgewachsenen Werwolfs ebenwürdig war. Wie stark mochte er erst sein, wenn er sich verwandelte? Oder konnte er tatsächlich keine Verwandlung durchführen? Nun gut, es war Tag und der letzte Vollmond lag schon einige Tage zurück. Es wurde angenommen, dass der Junge, sich wie seine Verwandten nur bei Vollmond verwandelte, wenn überhaupt. Und selbst wenn er in seiner Normalform stärker als ein ausgewachsener Werwolf war, die Versuchsobjekte waren es schon lange.
Für einen Moment leuchtete in Dr. Erich die Idee auf, dass der Junge vielleicht lediglich das biologische Gleichnis zu dem sein könnte, was sie hier künstlich erzwangen. Vielleicht unterschied er sich gar nicht so sehr von den Versuchsobjekten. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen, nun lag es vorerst an ihm, eine Entscheidung zu treffen.
Schließlich gab der Gedanke, dass es interessant wäre, vielleicht noch mehr von der Kraft und Geschicklichkeit des Jungens zu sehen, den ausschlaggebenden Punkt.
„Nun“, begann er etwas zögerlich, „ich denke, wir sollten eines unserer Versuchsobjekte hinein schicken damit es den Jungen betäuben kann.“
Die Schwester nickte und eilte ins Nebenzimmer, um von dort aus eines der gewünschten Objekte anzufordern.
Zehn Minuten später klopfte es an der Tür und Dr. Erich lies einen hochgewachsenen, muskelösen Mann hinein. Schon beim ersten Blick sah man, dass der Haarwuchs ausgeprägter als bei gewöhnlichen Menschen war. Der Mann hatte schulterlanges, braunes Haar und Bartstoppel im Gesicht. Dr. Erich würde es jedoch nicht in Frage stellen, dass der Mann sich erst vor einigen Stunden rasiert hatte. Braune Augen leuchteten matt in dem kantigen Gesicht. Die Kleidung bestand aus einer schwarzen Schutzweste und einer kugelsicheren Hose. Die stark behaarten Arme lagen frei. Am Rücken trug der Mann ein Gewehr. Um was für eine Art Gewehr es sich dabei handelte, konnte Dr. Erich jedoch nicht bestimmen. Seine Kenntnisse in Waffen waren sehr beschränkt. Zumindest war es vom Griff bis zum Austrittsende ebenfalls schwarz, der Lauf selbst war schmal.
Der Mann stellte sich aufrecht hin, zog die Schultern nach hinten und rief mit angehobener Stimme: „VO 87 meldet sich zum Dienst!“

Er hatte seit sie hier gefangen waren, nichts mehr von sich hören lassen. Polaris hatte nicht gewusst, ob er einfach nur darüber nachdachte, wie er sie und seine Mutter hier herausbringen konnte oder ob er einfach keine Lust hatte. Aber dann hatte Polaris geträumt. Es war ein Traum, in dem Männer ihrer Mutter schreckliches antaten. Das musste der Auslöser gewesen sein. Als der Junge erwachte, spürte er sofort, wie der Andere nach vorne hechtete und die Kontrolle über den Körper übernahm. Polaris hätte sich dagegen nicht wehren können, aber er wollte auch gar nicht. Er spüre den Zorn des Anderen, aber auch die Angst. Es war das erste Mal, dass er erlebte, dass der Andere Angst hatte.
Er hatte den Raum etwas umgestaltet und seine Forderung gestellt. Polaris wusste nicht, ob sie wirklich in der Lage waren, Forderungen zu stellen, aber normalweiße wusste der Andere, was er tat.
Nun saßen sie in der Mitte des Raumes und warteten.
‚Atta?‘, fragte Polaris gedanklich.
‚Ja?‘ Attas Gedankenstimme klag der von Polaris zu verwechseln ähnlich.
‚Was machen wir, wenn sie versuchen, uns auszutricksen?‘
‚Dafür sind sie zu dumm. Und wenn sie es doch tun, bringen wir sie um. Wir sind schneller.‘
Polaris schwieg und dachte nach. Atta hatte recht. Sie waren schneller. Schneller und stärker. Zumindest dann, wenn Atta die Kontrolle hatte. Außerdem wusste Atta, was sein Gegenüber dachte. Aber hatte Atta wirklich die gesamte Kontrolle über den Körper? Nein, denn sonst …
Polaris Gedanken wurden unterbrochen, als sich die Tür zum Raum öffnete.

Die Gestalt, die durch die Tür huschte war schnell. Kaum hatte sich die Tür geöffnet, schlug sie auch schon wieder zu. Es handelte sich bei der Gestalt natürlich nicht um die Mutter, sondern um VO 87. Er huschte in die Ecke, die von Polaris am weitesten entfernt war. Doch er hatte keine Zeit mehr, sein Gewehr anzulegen. Die Reflexe waren bei ihm gewiss stärker ausgeprägt, als bei einem Werwolf, aber Polaris war dennoch schneller.
VO 87 wurde mit solch einer Wucht nach hinten an die Wand gedrückt, dass sie durch brach.
Das Gesicht des Jungen war ganz nah an dem vom VO 87. Er hatte beide Füße und die linke Hand in die Wand gegraben. Mit dem rechten Arm drückte er den Mann am Hals an die Wand und hilft dabei den Kopf so weit wie möglich von der Brust entfernt.
VO 87 spürte den warmen Atem des Junges im Gesicht. Erschrocken starrte er in das gelbe Auge. Es schien fast zu glühen. Das andere Auge war unter einer dicken Schicht grün-gelber und blauer, geschwollener Haut verschwunden. Noch nie war VO 87 so schnell überrumpelt geworden. Vor Schreck lies er das Gewehr fallen.
„Fast tätest du mir ja leid“, drang es knurrend aus der Kehle des Jungens, „aber du bist ohnehin seit deinem ersten Tag hier tot.“
Der Mann hatte nicht einmal mehr Zeit, die Luft erschrocken einzuatmen, so schnell lies der Junge seinen Kiefer zuschnappen.

Polaris selbst hätte vielleicht gezögert. Aber er hätte es letztendlich auch getan.
Auf diesen Tag hatte Atta ihn vorbereitet. Deshalb war das einzige, was Polaris ein wenig erschreckte, dass dieser Tag früher gekommen war, als beide erwartet hatten.
Mit einem Knurren ließ Atta den erschlafften Körper des Mannes los, wischte sich das Blut vom Mund und begab sich wieder in die Raummitte. Beide hofften, dass das genug Demonstration ihrer Kraft war. Dabei war das noch nicht einmal alles …
 
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Kýestrika

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Mutter
Ihr Gesicht war ein prächtiges Farbspiel von rot zu gelb und von gelb zu grün und blau-violett. Das rechte Augen war derartig zugeschwollen, dass es als solches nur schwer erkennbar war. Die Lippen waren mit getrocknetem Blut überzogen. Bissspuren überzogen ihren ganzen Körper. Das blonde Haar war verklebt vom Blut.
Nach dem man sie mit den anderen Werwölfen in ein Verlies gebracht hatte, hatten sich diese auf sie gestürzt. Geschwächt von den vorherigen Experimenten und Verletzungen hatte sie sich unmöglich wehren können. Hätte man nicht eingegriffen, wäre sie womöglich zerfleischt worden.
Dr. Erich konnte nicht verstehen, wieso man sie überhaupt zu den anderen gebracht hatte. Für ihn war es logisch gewesen, dass man sie hatte umbringen wollen, schließlich hatte sie einen Sohn, halb Mensch, halb Wolf und damit offensichtlich gegen eines der wölfischen Gesetze verstoßen, auf dem nur die Todesstrafe stehen konnte. Der Geruch ihres Sohnes haftete zwangsläufig an ihr.
Patricia saß in Handschellen vor Dr. Erich und blickte zu Boden.
Er kniete sich hin, so dass er sich mit ihr nun auf einer Höhe befand.
„Hören Sie“, begann er, hielt dann aber kaum merklich inne, weil er für einen kurzen Augenblick nicht wusste, was er sagen wollte. „Wir werden Sie jetzt zu ihrem Sohn bringen lassen. Aber vorher müssen wir Sie ärztlich versorgen.“
Patricia hob den Kopf ein Stückchen an und betrachtete ihn misstrauisch. Als sie sprach klang ihre Stimmte ausdruckslos. „Was wollen Sie dafür?“
‘Sie ist wirklich nicht dumm‘, dachte er.
Fast hätte der alte Mann Mitleid mit ihr gehabt. Doch dann besann er sich auf seinen Leidgedanken, dass sie nichts weiter als ein Tier wäre.
„Kooperation. Wir wollen, dass Sie uns im Gegenzug nach ihren Treffen alles über Polaris erzählen. Wir wissen, das er außergewöhnliche Kräfte hat.“
Es war kaum erkennbar, wie sich die Braunen der Wölfin im geschwollenen Gesicht zusammenzogen.
„Er hat getötet“, sagte sie. Nun schwang Besorgnis in ihrer Stimme mit. „Wegen mir.“
Dr. Erich schüttelte den Kopf etwas zu schnell. „Nein. Ihrem Sohn geht es bestens!“
„Sie lügen. Ich sehe es an Ihren Augen.“

Man hatte ihn unter der Bedingung, dass er niemanden mehr angriff, in einen anderen Raum gebracht. Dort saß er nun auf einem Stuhl und wartete.
Atta fühlte sich beobachtet, obwohl er von vier festen Wänden umgeben schien. Aber er konnte seinen Bruder nicht fragen, was hier vor sich ging. Kurz nachdem sie hierher gebracht worden waren, hatte er Polaris gesagt, er solle sich schlafen lesen und er würde ihn wecken, wenn Mama hier sei. Er hatte die Müdigkeit des anderen so deutlich gespürt, dass er sich fast selbst hatte mitreisen lassen. Aber in Wahrheit befürchtete Atta, dass man ihre Mama schlimm zugerichtet hatte und diesen Anblick wollte er dem Kleinen möglichst ersparen. Wenn nötig würde er später behaupten, dass sie angelogen worden waren und sie ihnen nicht ihre Mama gebracht hatten. Natürlich würde Polaris früher oder später erfahren, dass Atta der eigentlich Lügner war, aber er würde es möglichst lange hinauszögern.
Atta spürte dass der Junge träumte. Er vermutete vom Fliegen. Polaris träumte oft vom Fliegen. Atta lächelte bei diesem Gedanken. Er liebte diesen kleinen Jungen so vieles m ehr als einen Bruder, obwohl er sich einen Körper mit ihm teilen musste. Aber Atta wusste, dass nicht nur er so fühlte. Er war für den Jungen der engste Verbündete. Und das obwohl er der Fremdkörper in seiner Hülle und Seele war, ein Überbleibsel der alten Zeit. Aber genau dies machte sie beide zu etwas ganz besonderem. Sie waren nicht ein einziger und doch waren sie nicht zwei.
Atta schloss die Augen und betrachtete die Seele des Jungen. Friedlich lag sie da und regte sich kaum.
Atta hörte die sich nähernden Schritte erst, als sie schon fast vor der Tür angelangt warten.

Patricia war mit speziellen Salben behandelt worden, die die Schwellungen und Verletzungen rasch verheilen gelassen hatten. Sie hatte deutlich das Werwolfblut darin gerochen und sich anfangs geweigert, diese Salbe aufgetragen zu bekommen. Werwolfblut hatte die Eigenschaft, sich mit der Verwandlung bei Vollmond zu verändern. Es lies Wunden fast um ein zehnfaches schneller heilen. Außerhalb des Vollmondes jedoch hatte das Blut die Eigenschaft eines Menschen. So wie alles am Werwolf selbst. Solange kein Vollmond bestand, war er nur ein normaler Mensch.
Aber letztendlich blieb ihr keine andere Wahl, als einzuwilligen, wenn sie ihren Sohn sehen wollte. So waren kaum mehr als Schrammen übrig, als sie den kleinen Raum betrat, in dem ihr Sohn auf sie wartete.

Als die Tür geöffnet wurde und Atta Patricia erblickte, veränderte sich der angespannte Gesichtsausdruck des Jungen.
Er sprang auf und rannte zu seiner Mutter. In diesem Moment wurde er wieder zu Polaris.
„Mama!“
Er wurde von Patricia, die mit den Tränen rang, in die Arme geschlossen. Zärtlich strich sie ihm über den Kopf und küsste ihn auf seine Stirn. Dann schob sie ihn auf Armlänge von sich und betrachtete Polaris Blessuren.
„Was haben sie mit dir gemacht?“, fragte sie und strich im sacht über den weißen Haarschopf. „Und wieso tun sie nichts dafür, dass deine Wunden heilen?“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Sie wollen mich testen. Aber dir haben sie viel mehr weh getan Mama“. Dabei tastete er ihr Gesicht ab und musterte es genau. „Sie haben dir Salben gegeben, damit ich es nicht sehe.“

Dr. Erich war dicht hinter Patricia ins Zimmer getreten und hatte die Tür hinter sich geschlossen.
Bei den Worten, die Polaris sprach stutzte er. Der Junge konnte unmöglich wissen, was mit seiner Mutter passiert war. Außer …
Bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, blickte der Junge zu ihm auf und nun lag wieder diese starre Kälte in seinen Augen.
„Lass uns allein!“, zischte er.
In den gelben Augen loderte eine stimmte Drohung und Dr. Erich sah noch einmal, was Polaris mit VO 87 gemacht hatte. Er schluckte.
„Zehn Minuten“, sagte er und lies sie allein.

„Bring uns bitte hier raus, Mama.“
Bei diesen Worten fand doch noch eine Träne den Weg aus Patricias Auge. Sie ging davon aus, dass es für beide so gut wie hoffnungslos war, lebendig hier herauszukommen. Das hatte Polaris längst in ihr gelesen, doch er verschloss sich vor diesem Gedanken, weil er Angst hatte, er könnte wahr sein. Letztendlich war er doch nur ein kleiner Junge,
„Ich weiß. Aber ich befürchte, wir müssen ganz viel Geduld haben.“
„Ich hasse Geduld“, erwiderte er trotzig und sie musste für einen kurzen Augenblick lächeln.
„Ich weiß, mein Schatz. Aber es ist wichtig, dass wir jetzt warten. Und du musst mir etwas versprechen! Du darfst nie wieder jemanden töten, außer dein eigenes Leben ist in Gefahr. Verstanden?“
Betroffen blickte Polaris zu Boden.
„Ja“, nuschelte er zerknirscht.
„Und sag Atta, dass ich ihn das nächste Mal …“ Sie konnte den Satz nicht beenden. Hier ihr wurde die Tür aufgeschlossen. Die zehn Minuten waren um.
 
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Kýestrika

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Da beide zu den Fahrstühlen, aber in verschiedene Stockwerke, gebracht werden mussten, erlaubte Dr. Erich, dass Polaris seine Mutter bis zu den Aufzügen begleiten dürfte. Er rechnete nicht mit Komplikationen, da der Wolfjunge seit er bei seiner Mutter war sich sehr ruhig verhielt. Fast, als hätte man ihn unter Drogen gestellt. Dass seine Mutter ärger bereiten könnte, kam ihm nicht einmal in den Sinn. Und der Security wohl ebenso wenig, denn als diese ihre Waffen zogen, war Patricia bereits aus dem halb geschlossenem Aufzug gestürzt und hatte den Jungen fast an sich gerissen.
Die Security folgte lediglich dem Auftrag auf die Mutter zu schießen, wenn es zu Schwierigkeiten kommen sollte. Erst später kam in Dr. Erich die Frage auf, wieso man ihnen keinen Prototyp mitgeben hatte.
Die Schüsse halten laut im Gang wieder und Patricias Körper zuckte unkontrolliert als die silbernen Kugeln in ihren Körper drangen.

Blut. Er konnte nur Blut sehen. Und seine Mutter. Seine Mutter, die vor ihm lag und dessen Gedanken, noch Herzschlag er hören konnte. Seite Mutter. Tot. Sie war tot. Polaris blickte auf und sah verschwommen die Männer mit ihren Waffen aus dem Fahrstuhl stürmen. Dann senkte er wieder den Blick und sah all das Blut, dass unter seiner Mutter hervor drang. Er ging auf sie zu und kniete sich neben ihr. Sachte streichelte er ihr über das Gesicht, welches erstarrt war. Kein Herzschlag, kein Gedanke. „Nein“, murmelte der Junge. Tränen flossen über sein Gesicht und mischten sich auf dem Boden mit dem Blut. „Nein. Mama. Du darfst nicht tot sein! Atta, tu doch etwas!“ Doch Atta war machtlos.
Polaris blickte auf und sah den Mann, der auf sie geschossen hatte. Und mit einem Mal spürte er Attas Geist in sich. Noch nie zuvor hatte er ihn so stark hassen gespürt. Er, Polaris, hatte selbst noch nie so sehr gehasst. Er war noch nie zuvor so voller Wut gewesen. „Ihr habt sie umgebracht!“, schrie der Junge voll Hass und Zorn.
Es benötigte keine Absprache. Polaris fühlte, wie Atta nach seiner Seele griff und Polaris tat es ihm gleich. Ohne ein Wort miteinander zu tauschen, nur den Hass und die Wut des anderen spürend, begannen sich beide Seelen zu vereinen.

Es ging alles sekundenschnell. Dr. Erich wusste gar nicht, was geschehen war. Einmal lag die Wolfsmutter tot auf dem Boden.
Der Junge kniete neben ihr und Tränen rannen über sein Gesicht. Und dann ertönte dieses Grollen. Es erfüllte seinen ganzen Kopf.
Dr. Erich blickte auf und sah den Jungen. Fast wäre ihm das blut in den Adern gefroren.
Aus der Kehle des Jungen drang ein Knurren und etwas schien sich unter seiner Haut zu bewegen. Dr. Erich hatte dieses Spiel der Muskeln oft genug gesehen, um zu wissen, dass es Verwandlung bedeutete.
Einer der Sicherheitsleute verlor die Nerven und schoss auf den Jungen.

Bevor die Kugel an der Stelle einschlug, an der Polaris stand, hatte er bereits seine Zähne in den Hals desjenigen geschlagen, der auf ihn schoss.
Und während Polaris weiteren Kugeln auswich, verwandelte sich sein Körper immer weiter.
Noch nie zuvor hatte Dr. Erich gesehen, dass sich ein Werwolf bei seiner Verwandlung so geschickt bewesen konnte, als wäre nichts. Weißes Fell breitete sich auf der Haut des Jungens auf.

Polaris fühlte das Ziehen und Verschieben in den Muskeln und Knochen. Es war schmerzhaft. Aber der Teil der Seele, der einmal Atta gehört hatte, benutzte die Gedanken, die Polaris Seelenteil empfing und reagierte. Nicht nachdenken, reagieren. Erst den Kugeln ausweichen, erst abwarten, bis die Schmerzen abklangen, dann angreifen. Ausweichen, abwarten, angreifen.
Sein Blick und sein Gehör schärften sich. Die Gedanken, die er hörte wurden klarer. Und der Geschmack des Blutes auf seiner Zunge fing an, verführerisch zu schmecken.
Seine Haut sprang auf und neue, mit weißem Fell kam darunter zum Vorschein. Sein Rücken schmerzte am meisten. An der Stelle, an der er die beiden zusätzlichen Knochen lagen, riss der Rücken auf und Polaris spürte, wie die Knochen wuchsen.
Er sprang den Kugeln, die jetzt in Salven auf ihn geschossen wurden, mit Leichtigkeit fort. Nicht eine einzige streifte seine Haut. Und dann ließen die Schmerzen nach und er war im Besitz seiner vollen Kräfte.

Dr. Erich fiel auf die Knie. Der Wolfjunge schien zu tanzen, als er den Kugeln auswich. Aber er griff niemanden mehr an. Zumindest vorerst. Blut rann ihm über Gesicht und Körper, als er sich verwandelte. Und dann schien die Verwandlung komplett.
Nach dem die Verwandlung eingesetzt hatte, hatte der Professor einen normalen Werwolf erwartet, doch dort was vor ihm stand, glich einem, wie in etwa ein Apfel einer Birne.
Der Körper des Wolfes war länger und nicht mehr so gedrungen und kurz wie der eines gewöhnlichen Werwolfes. Dadurch wirkte er eleganter und schlanker, obwohl auch seine Arme und Beine Muskelbepackt waren. Die Pfoten, die einst die Hände gewesen waren, erinnerten noch wage an so etwas wie Hände und Finger, aber die Finger gingen nun in scharfe Krallen über. Die Füße waren zu Klauen geworden. Der Wolf konnte anders als in seiner gewöhnlichen Form aufrecht stehen und besaß wie ein Drachen Zacken von Kopf bis zwischen die Schultern. Aber anders als beim Drachen schienen diese weich und beweglich zu sein. Sie schimmerten schwarz und ledrig durch das weiße, dichte Fell, welches den ganzen Körper lückenlos bedeckte. Bei einem gewöhnlichen Werwolf wäre das Fell dünn und kurz gewesen. Bei diesem erinnerte es viel mehr an die eines echten Wolfes. Doch der größte Unterschied lag in der Größe und der Fortbewegungsmöglichkeiten.
Obwohl der Junge für sein Alter recht groß gewesen war, hatte ihm doch noch sehr viel für die Größe eines Mannes gefehlt gehabt. Dieser Wolf aber war nun in etwa so groß wie ein ausgewachsener. Nicht auszudenken, wie groß er erst sein würde, wenn der Junge ausgewachsen war. Und dann diese Flügel. Sie glichen der einer Fledermaus und waren nur sehr dünn mit schwarzer Haut bedeckt. Sie waren am Körper angelegt, aber Dr. Erich bezweifelte nicht, dass sie bei voller Spannweite mindestens das Dreifache der Körpergröße des Wolfes maß.
Die gelben Augen funkelten in dem Licht der Neonröhren, als das Biest sie öffnete. Sie schienen das einzig menschliche an ihm zu sein. Geifer troff aus seinem Maul.
„Ihr habt sie getötet!“ Die Stimme klang in Dr. Erichs Kopf wieder. Doch es war viel weniger eine Stimme, als ein tiefes Grollen.
‘Telepathie?‘, dachte der Professor. ‘Ist er etwa fähig, Telepathie anzuwenden?‘
Einer der Securitys begann zu schreien. Ihm floss Blut aus beiden Ohren und der Nase.
„Ja“, vernahm Dr. Erich dass Grollen. „Telepathie. Aber ich bin noch zu vielem mehr fähig. Wieso sollte ich euch so töten, wenn ich euch schreien hören kann, wenn euer Angstschweiß mein Blut in Wallung bringt, wenn ich mir dass eurer auf der Zunge vergehen lassen kann und wenn mir euer Schmerz Genugtuung bring?“ Mit einem atz war der Wolf bei dem Schreiendem und hatte ihn an der Kehle gepackt. Die nächsten Worte empfing wohl nur dieser arme Wicht, denn dieser begann auf einmal etwas zu stammeln.

Im Augenblick, in dem die Verwandlung vollendet war, brach in den Kerkern und Versuchslaboren das reinste Chaos aus. Egal ob eingesperrt oder an Geräten geschlossen, jeder Werwolf schien durchzudrehen. Die einen bettelten darum, dass man sie umbrachte, bevor die Bestie zu ihnen kommen konnte, die anderen versuchten zu fliehen und zogen sich dabei schwere Verletzungen zu. Und wieder andere verletzten sich absichtlich selbst, kratzen sich die Augen aus oder ließen ihre Köpfe gegen die Wand krachen, bis sie Blut spuckend zusammen sackten. Es gab auch einige, die einfach aufeinander los gingen.
Diejenigen, denen man die Werwolfgene eingepflanzt hatte standen einfach nur da und wussten nicht, was zu tun war. Einerseits befahl ihnen ihr Gehirn, die Befehle der ihnen Obergeordneten auszuführen, andererseits sagte ihnen ihr Instinkt, dass es besser sei, zu fliehen. Am Ende entschied sich der Großteil für das letztere.
Selbst die Menschen verspürten den Drang wegzulaufen. Bald hatte eine allgemeine Panik um sich gegriffen.
Im umliegenden Wald, in dem das Institut stand, jedoch war alles still geworden. Bis vor einigen Augenblicken hatte hier noch reges Treiben geherrscht, doch jetzt summten nicht einmal mehr die Insekten.
Jedes Tier, ob Säuger, Fisch oder Insekt, spürte die Präsens von etwas sehr mächtigem Doch sie konnten nicht einordnen, ob diese Präsens gut oder böse war.
Diese Kraft spürten auch die Menschen in den umliegenden Städten. Viele entschieden spontan, ohne genau zu wissen weshalb, dass sie verreisen wollten. Die Werwölfe, die in der Umgebung von etwa 200km lebten flogen aus den Städten.

Nie hätten Polaris und Atta gedacht, dass ihnen solch eine Kraft innewohnte. Erst jetzt, wo sie sich in ihrem Zorn verwandelt hatten, spürten sie ihre ganze Macht. Und sie war ein herrliches Gefühl.
Blut tropfte von ihrer Schnauze auf den Boden, der ohnehin blutüberströmt war.
Die ersten fünf oder sechs Menschen hatten sie langsam sterben lassen. Doch der Geruch von Angst, der von überall zu kommen schien und der metallische Geschmack des Blutes – das Fleisch hatten sie aber nicht gefressen – raubte ihre Sinne und hatte sie fast wahnsinnig werden lassen. Und so waren sie dazu übergegangen, die Menschen, die auf sie schossen, einfach zu zerfleischen.
Sie betrachteten all dass Blut auf dem Boden und an den Wänden. ‘Rot ist solch eine schöne Farbe‘, dachten sie und packten den nächsten Mann an der Kehle.

Dr. Erich sah mit Entsetzen zu, wie Polaris wütete. Dem eine ritzte er mit einer Kralle die Bauchdecke auf und trank vom daraus strömendem Blut, während der arme Kerl wie am Spieß schrie. Schließlich biss die Bestie ihm den Kopf ab, welcher nun neben dem Torso lag.
Einem anderen hatte Polaris sämtliche Knochen gebrochen und Glieder ausgerissen, ehe er ihn tötete. Mittlerweile war das menschliche aus den Augen komplett verschwunden. Nur noch purer Wahnsinn lag darin.
Eigentlich war der Wolf durch seine Größe im Gang eingeschränkt, doch wenn er den Kugeln auswich, zerschlug er die Wand bis zu den Stahlwänden, als wären sie gar nicht da. Sein weißes Fell war über und über mit Blut befleckt.
Dr. Erich war sich sicher, dass dieses Biest ausnahmslos alle töten würde und unaufhaltsam war, als er Patricias Hand zucken sah.

„Ihr habt sie getötet!“ Diese Worte wiederholten Atta und Polaris immer wieder in den Köpfen der Menschen. Sie hatten n och nicht genug getötet. Der Tod ihrer Mutter was noch nicht gesühnt.
Sie hatten gerade die Kehle eines Mannes mit ihren Klauen zerrissen, als einer ihrer Namen gerufen wurde.
Sie ließen die Leiche des Mannes auf den Boden fallen und drehten sich um. Als sie den Professor, der sie befragt hatte, bei dem Leichnam ihrer Mutter erblickten flammte weiterer Zorn in ihnen auf. Konnten diese Menschen sie immer noch nicht in Frieden lassen? Ihr Leben lang war sie von ihnen verfolgt worden und nun wollte man auch noch nach ihrem Tod ihren Körper misshandeln. Das würden sie beide nicht zulassen!
Sie machten einen Schritt auf ihn zu. „Geh von ihr …“, sandten sie ihm, doch dann leuchtete etwas in den Gedanken des Alten auf.
‘Sie lebt? Es gibt Hoffnung?‘
Ihre Augen weiteten sich.
Der Alte wollte ihr helfen …
„Tu es!“, grollten sie.
„Du musst mir helfen!“, rief der Alte mit zittriger Stimme. Sie sahen die Angst in ihm und dachten, dass es besser für ihn war, wenn er sich fürchtete. „Hilf mir, sie in den OP zu bringen! Ich kann sie nicht tragen!“
Mit einem Satz waren sie bei ihrer Mutter und nahmen sie behutsam auf den Arm.
Es gab Hoffnung. Mit einem Mal hatte sich all der Wahnsinn der letzten Minuten gelegen. Was zählte war, dass es Hoffnung gab. Egal wie gering sie war.

Schnell hatte Dr. Erich sich eines der Walky-Talkies geschnappt, dass einer der Männer hatte fallen lassen und forderte ein Ärzteteam an, während er vor dem Wolf zu dem nächstgelegenen OP-Saal rannte. Doch er musste schnell erkennen, dass er keine Hilfe zu erwarten hatte.
„Sie verblutet!“, grollte es in seinem Kopf. Doch nun klang das Grollen nicht mehr bedrohlich, eher panisch. Dr. Erich warf einen Blick nachhinten und sah wieder den Jungen in den Augen der Bestie.
Blut rann zwischen seinen Armen hervor und klatschte auf den Boden. Schnell öffnete Dr. Erich einer der Türen und befahl, Patricia auf den OP-Tisch zu legen. Polaris gehorchte widerspruchslos. Er schien zu wissen, dass ihm keine andere Wahl blieb, als dem Professor zu vertrauen, wenn er wollte, dass seine Mutter gerettet wurde.

Dr. Erich hatte zwar schon oft operiert, doch noch nie allein. Da Patricia zu schwach für die Narkose war, schloss er sie bloß an einige Beutel Werwolfblut, um weiteren Blutverlust einzudämmen. Dann ging er mit einem Skalpell daran, die Kugeln aus dem Körper der Frau zu entfernen. Die Wunden nähte er mit Werwolfshaar zu. Das schwierigste waren die Kugeln in Herznähe. Eine hatte eine Arterie zerrissen, aber das Silber hatte de Arterie so verätzt, dass kein Blut mehr heraus drang. Wäre dass nicht passiert, wäre die Wölfin wahrscheinlich wirklich tot gewesen.
Einmal sackte sie ihm weg und Dr. Erich musste sie wiederbeleben. Er wusste nicht, wie lange er operierte, aber desto mehr Zeit verstrich, desto mehr bekam er den Eindruck, dass die Frau nur noch lebte, weil sie fühlte, dass ihr Sohn sie brauchte. Bei derart schweren Verletzungen war die Überlebenschance selbst bei einem Werwolf fast null. Als er endlich fertig war, war ihr Zustand immer noch kritisch und sie war in ein Koma gefallen.
Während der gesamten OP hatte Polaris in einer Ecke gestanden und zugesehen. Nicht ein einziges Mal hatte er einen Mucks gegeben und Dr. Erich hatte ihn gänzlich vergessen. Erst als er seine Arbeitsmaterialien zur Seite legte fiel ihm der Junge wieder ein und wandte sich um. Er wusste, dass er nicht sagen brauchte, wie es seiner Mutter ging.
Langsam ging der Wolf auf seine Mutter zu und strich ihr zärtlich über das Gesicht. Dr. Erich brach es fast das Herz, als er all die kindliche Liebe in den Augen des Monstrums sah. Kurz wandte die Bestie ihm den Kopf zu. „Danke“, grollte es in seinem Kopf. Dann wandte der Junge sich wieder seiner Mutter zu. „Du bist anders.“
‘Nein‘, dachte Dr. Erich als Antwort. ‘Bin ich nicht‘
„Ich habe es in dir gesehen. Jeder andere hätte ihr nur das Leben gerettet, damit ich aufhöre zu töten. Aber du … du hast es wegen dem Leben selbst getan und wie du ihre Menschlichkeit gesehen hast. Du bist anders als sie.“
Dr. Erich blickte zu dem Wolf auf. Er war sich nicht sicher, was er davon halte sollte. Bis eben war ihm selbst nicht bewusst gewesen, wieso er der Frau das Leben gerettet hatte. Aber nun …. Nun …

Als Polaris und Atta ihre Mutter vorrübergehend in sicheren Händen wiegten, begannen sie allmählich, sich zu lösen und Dunkelheit legte sich auf sie. Es war anstrengend, die Form des Wolfes aufrecht zu halten …

Dr. Erich beobachtete, wie sich der Wolf in den kleinen Jungen verwandelte. Zuerst fiel das Fell von ihm, dann wurde die Haut ganz schrumpelig, als der Junge auf seine normale Größe zusammen schrumpfte. Aber schließlich straffte sich diese wieder. Nur die Flügel und der Schwanz blieben zurück.
Polaris sackte ohnmächtig zusammen. Dr. Erich fing ihn auf, bevor der Körper den Boden berührte.


Traum (I)

Eine warme Briese wehte dem Jungen das lange Haar von der Stirn und brachte den Duft frischer Blumen mit sich.
Langsam öffnete der Junge seine Augen und erblickte einen kleinen See, der von knöchellangem Graß und wilden Blumen umgeben war.
Polaris wusste, dass dies alles nur eine sehr echt wirkende Illusion war und trotzdem freute er sich über den Anblick.
Auf den Knien robbte er durch das Grün zum Wasser und erblickte sein Spiegelbild.
Das Gesicht wirkte nun jünger und war hagerer und seine Haare hatten die Farbe von Kastanien. Nur die gelben Augen waren noch dieselben.
Polaris nahm einen Schluck des frischen Wassers. Er hatte so unglaublichen Durst! Er wusste, dass das illusionäre Wasser nicht lange seinen Durst stillen würde, aber vorrübergehend langte ihm die Illusion.
Als sein Durst gestillt war stand der Junge auf und wandte sich um. Er war kein bisschen überrascht, als er einen hochgewachsenen und breitschultrigen Mann hinter sich erblickte. Auch ihm ging das Haar bis zu den Schultern und war dick. Seines jedoch hatte die Farbe frischen Schnees.
Der Mann sah irgendwie verwildert aus. Er trug bloß eine Hose aus Leihen. Seine muskulöse Brust war mit Narben bedeckt und er hielt einen Speer in der einen Hand. Das Alter des Mannes war schwer einzuschätzen, da seine Haut, auch die im Gesicht, stark vom Wetter gekerbt war. Aber Polaris wusste, dass der Mann um die 25 war. Er begegnete ihm nicht zum ersten Mal.
„Atta!“, rief Polaris erfreut.
Die grünen Augen lächelten den Jungen liebevoll an.
Als Polaris fünf gewesen war, hatte er zum ersten Mal solch eine Art von Traum gehabt. Beim ersten Mall hatte Atta ihm erklärt, dass ihre Seelen in solchen Träumen die Form annahmen, die ihr Körper haben würde, wenn in ihrem Körper nicht zwei Seelen innewohnen würden.
Seitdem hatte Polaris viele solcher Träume gehabt, in denen Atta ihm erklärte, wie ihre Verwandlung funktionierte und ihn lehrte, seine Kraft zu beherrschen. Aber er hatte Polaris auch auf das Töten vorbereitet.
„Werden wir heute trainieren?“, fragte der Junge, doch der Mann schüttelte den Kopf.
„Nein, heute sind wir aus einem anderen Grund hier. Komm!“ Atta nahm den Jungen bei der Hand und setzte sich mit ihm in Bewegung.
Die Hand fühlte sich rau an und war schwielig. Aber das machte Polaris nichts aus. Er spürte gerne sein anderes Ich.
Gemeinsam stiegen sie den Hügel ab, auf dem der See lag.
„Heute widmen wir uns uns selbst zu und dass, was eins war.“
„Du meinst, über dass, was wir wegen Mutter getan haben?“, fragte Polaris.
„Nein. Ich rede von dem was lange vor unserer Geburt war.“
Der Junge blickte zu dem Mann auf.
„Erzählst du mir endlich, was wir sind?“
Atta lachte. „Ach Polaris! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass das erst am Ende deiner Ausbildung steht?“
„Aber wann ist das Ende meiner Ausbildung?“
„Tut mir leid, Kleiner. Aber da wirst du dich noch einige Jahre warten müssen.“
„Dann sag mir dieses Mal wenigstens, wie sich unsere Rasse nannte!“
Atta seufzte. „Ich sage dir nicht zum ersten Mal – und ich befürchte, auch nicht zum letzten Mal – dass wir zu unserer Zeit keinen Namen hatte. Aber wenn du unbedingt einen brauchst und dann endlich Ruhe gibst, bis die Zeit gekommen ist, nenn und wie das neue Volk: Lýkospir.“
„Hmm, na gut …“
Atta lächelte. „Nun lass uns aber zu etwas wichtigerem kommen.“
Sie hatten mittlerweile einen Felsvorsprung erreicht, von dem aus sie auf ein kleines Thal blicken konnten. „Komm, setz dich.“ Der Mann bedeutete dem Jungen, sich am Rand des Felsens zu setzen. „Siehst du das kleine Dorf dort unten i Thal?“
Polaris nickte.
„Gut. Dort haben wir in unserem letzten Leben gelebt.“
„Dann sind wir also wiedergeboren? Aber wieso kannst du dich daran erinnern und ich nicht? Waren unsere Seelen damals schon zusammen?“
„Immer mit der Ruhe, Kleiner. Unsere Seelen sind nicht zum ersten Mal wiedergeboren.
Unserer Rasse ist es auferlegt, zwei Seelen zu besitzen, die bis in alle Ewigkeit miteinander verbunden sind. Die eine Seelebesitzt die psychische Kraft, die andere die physische. Aber uns ist noch etwas anders auferlegt. Nur einer Seele ist es erlaubt, die Erinnerungen an ihr altes Leben und das Wissen über unsere Rasse, nach dem Abschied aus dem letzten Leben, zu bewahren. Welcher Seele dieses Privileg zu Teil wird, wird von Leben zu Leben beim Tode neu entschieden.“
„Und beim letzten Tod durftest du sie behalten.“
Atta nickte. „Ganz genau.“
„Nach was wird das entschieden?“
Atta schwieg eine Weile und beobachtete die ameisengroßen Gestalten im Dorf. Er überlegte sehr lange, bevor er antwortete. „Ich glaub nicht, dass es da ein bestimmtes Kriterium gibt. Und wenn doch ist es für mich derzeit unergründlich.“
„Und wer entscheidet es?“
Auch jetzt zögerte Atta einen kurzen Augenblick, bevor er antwortete. „Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es der Gott, an den die Menschen glauben, vielleicht auch etwas anderes. Ich bin ihm nie begegnet.“
Polaris lies die Beine baumen und blickte zum Dorf hinunter. Er dachte über das Gesprochene nach, konnte sich darüber aber nicht ganz ins Klare kommen.
„Komm, Kleiner. Gehen wir runter!“Ohne dass es Polaris bemerkt hatte, war Atta aufgestanden und schon auf halbe Weg runter. „Ich möchte dir etwas zeigen.“
Polaris hechtete ihm hinterher. Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch passierten sie das Tor zum Dorf. Rechts und links waren Wachen postiert.
Polaris schätze, dass die eine Wache etwa 15 oder jünger war, obwohl er durch sein silbrig-graues Haar wesentlich älter aussah. Die andere Wache war mindestens 30 und hatte bereits einige altersbedingte graue Strähnen in seinem blonden Schopf.
Da die Wachen nur zu der Illusion gehörten wurden weder Atta noch Polaris beachtet. Die Hütten im Dorf waren aus Holz errichtet. Generell fühlte sich Polaris an ein Indianerdorf erinnert, obwohl die Leute gar nicht so aussahen.
Polaris wurde an eine Stelle geführt, die wohl zum Speerwurfüben gedacht war. Atta nickte zu einem jungen Mann mit dunklen Haaren, der gerade seinem kleinen Sohn zeigte, wie er einen Speer zu halten hatte. Der Junge hatte wie Polaris weißes Haar, aber nicht die gelben Augen, sondern wie sein Vater grünliche. Er war für sein Alter recht groß – Polaris schätzte ihn auf etwa fünf oder sechs.
„Dass da sind wir“, sagte Atta.
„Dieser kleine Junge da?“, fragte Polaris verunsichert.
„Nein, er.“ Atta kniete sich zu Polaris runter und deutete auf den Vater. Bewundernd betrachtete Polaris sich selbst.
„Wir waren ganz schön stark, oder?“
Atta gluckste. „Aber natürlich. Dass mussten wird auch sein, sonst hätten wir es nie bis zum Rudelführer geschafft.“
Polaris machte ganz große Augen. „Rudenführer?“, hauchte er.
„Ja. Aber es war ein schwerer Kampf. Siehst du all die Narben auf der Brust? Sie stammen von all den Kämpfen um diesen Platz und vielem mehr. Aber in diesem Leben warst du ganz schön weinerlich. Ganz anders als jetzt.“
„Also verändert sich unsere Persönlichkeit von Geburt zu Geburt?“
„Nur desjenigen, der sich nicht erinnert.“
Polaris schwieg einen Augenblick, bevor er auf den Speer zeigte. „Wozu brauchten wir den? Wenn wir damals schon das waren, was wir jetzt sind, ist der doch total überflüssig.“
„Ganz so leicht ist das leider nicht. Wenn wir in verwandelter Form auf die Jagd gehen spüren die Tiere unsere Anwesenheit und verkriechen sich.“
„Aber was nützt uns dann unsere Verwandlung?“
„Um und zu verteidigen oder gegeneinander zu kämpfen. Aber komm! Ich möchte dir noch etwas zeigen.“
Polaris folgte Atta zu einer der Hütten und betrat diese. Er erblickte ein etwa doppelt so altes Mädchen wie den Jungen. Sie stand an einer Art steineren Tressen und knetete Teig. Sie hatte weißes Haar, in dem dunklere Strähnen durchschienen und wunderschöne grüne Augen. Polaris blieb vor ihr stehen und betrachtete sie eingehend.
Polaris dachte einen Augenblick, dass es ein merkwürdiges Gefühl war, so vor ihr zu stehen und zu wissen, dass sie ihn nicht sehen konnte, weil sie bloß eine Art Erinnerung war.
„Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Und ihre Mutter war schon verdammt schön“, seufzte Atta.
„Ist dass etwa … ist sie unsere …?“ Polaris musste schlucken.
„Ja. Sie hieß Thalia Tersa.“
Plötzlich lies das Mädchen vom Teig ab und ging zu einem großen Topf, der über einem offenen Feuer hing. Sie rührte den Inhalt um, kostete von ihm und ging dann zur Tür.
„Vater, Sadi Ara! Kommt zum Esen hinein!“
„Die Frauen in unserem Volk hatten das eigentliche Sagen“, erklärte Atta. „Sie waren diejenigen, die uns das Leben schenkten und somit so etwas wie Heilige. Aber da sie nun einmal schwächer waren, aber durch ihre Gabe, uns Kinder zu schenken, gefährlicher lebten als wir Männer, mussten wir sie beschützen und dienten als eine Art Sprachrohr.“
Polaris beobachtete, wie sie sich an einen Steintisch setzten und Thalia Tersa ihnen eine Suppe mit großen Fleischbrocken brachte. Die Schüsseln erinnerten ihn wage an eine halbe Kokosnuss.
„Wo ist …“, begann er, doch Atta seufzte schon.
„Sie schenkte Tersa Leben und gab ihr eigenes dafür.“
„Oh.“ Polaris schwieg einen Augenblick. Dann fragte er: „Ist Tersa ihre Wiedergeburt?“
Atta schüttelte den Kopf. „Nein. Unsere Seelen werden erst mindestens vier Generationen – manchmal auch viel später – wiedergeboren. So wird zum einen Inzest vermieden, zum anderen ist diese Zeitspanne lang genug, damit Familienfehden verloren gehen.“
„Also werden wir immer in unserer eigenen Blutlinie wiedergeboren?“
„Oft. Aber nicht immer. Aber nun lass uns gehen.“ Atta wandte sich um und verließ die Hütte. „Es ist Zeit, aufzuwachen. Für dieses Mal habe ich dir genug gezeigt.“
„Aber wieso hast du es mir gezeigt?“
„Wie ich bereits sagte ist es an der Zeit, dir einige Dinge aus der Vergangenheit und über uns zu erzählen. Du bist jetzt an einem Punkt angelangt, an dem ich dir nur noch auf diesem Wege neues beibringen kann.“
„Beantwortest du mir noch eine einzige Frage?“
Atta ging vor Polaris bergauf, doch nun hielt er an und sah dem Jungen direkt ins Gesicht. „Ein anderes Mal. Wir müssen uns jetzt beeilen. Bald wird Mutter aufwachen.“
Das waren Attas letzte Worte, bevor die Dunkelheit sie wieder verschlang und Polaris spürte, dass der Prozess des Aufwachens anfing.
 
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