Als Freyas telepathischer Hilferuf sie erreichte, war es für Aisling, als ob ein Eispfeil sie durchbohrte. Kurz war sie wie erstarrt, doch dann rannte sie los, stolperte und strauchelte nach wenigen Schritten und fiel der Länge nach in den Sand.
Ihre Art hatte zwar den natürlichen Zauber, dass ihre Körper sich den äußeren Gegebenheiten automatisch anpassten und so bei Bedarf Beine wie Flossen gleichermaßen rasch ausbildeten. Aisling hatte zudem auf ihrer Reise übers Land bislang auch ausreichend Gelegenheit, die Füße der Zweibeiner zu benutzen und sich an ihren Gebrauch zu gewöhnen. Doch rennen war noch einmal etwas ganz anderes.
Nichtsdestotrotz rappelte sie sich sofort wieder auf, um sich weiter stolpernd vorwärtszubewegen. Dabei rief sie telepathisch aus:
"Freya, was ist passiert? Wo bist du?" Doch es kam keine Antwort, vielmehr konnte Aisling spüren, dass ihre Freundin bewusstlos war und das auf eine Art und Weise, wie sie nur unnatürliche Mittel auslösen konnten.
Kurz darauf erreichte sie den Ort des Geschehens und fassungslos sah sie auf die Verwüstungen, die sie antraf, bevor sie ihren Blick nach oben richtete, dorthin, wo sie Freya spüren konnte. Mit einer Mischung aus Faszination, aber auch Entsetzen erkannte sie ein Schiff, das am Himmel schwebte, sich fortbewegte. Und auch wenn sie ein solches Gefährt noch nie gesehen hatte, wusste sie, dass Freya an Bord war und dass sie keine Möglichkeit hatte, die Freundin zu erreichen oder das Schiff aufzuhalten, ohne einen Absturz und somit Freyas Tod zu riskieren.
"Edana!" Noch während sie hinter dem sich entfernenden Schiff herlief, rief sie nun das magische Mädchen, von dem sie jedoch auch keine Antwort erhielt. Aber auch sie konnte Aisling spüren, nur nicht wie erwartet ebenfalls an Bord des Schiffes in den Lüften, sondern unweit von ihr am Boden.
Während Aisling das Gefühl nicht loswurde, dass Augen von oben sie beobachteten, lief sie hinüber zu der Stelle, an der Edana liegen musste. Mit Schreck blickte sie in den Krater und sah die Kleine, die innerhalb zu kurzer Zeit zu erwachsen geworden war, mit dem Gesicht im Wasser liegen. Sofort ließ Aisling sich am Rand hinunterrutschen und sie hob Edana aus dem Wasser, während sie es gleichzeitig mit einer Handbewegung anschwellen ließ, um sich und die Gerettete nach oben zu befördern.
Mit wenigen Schritten hatte sie das Mädchen herausgezogen und im Sand abgelegt. Sie kniete sich neben sie und überprüfte ihre Atmung, half ihr durch Klopfen auf den Rücken, das Wasser in ihren Lungen loszuwerden, so wie sie es in ihrer Heimat gelernt hatte, in der immer wieder Menschen Gefahr liefen zu ertrinken. Erst als sie sicher war, dass Edana frei atmete, bettete sie ihren Kopf in ihrem Schoß und strich ihr das nasse Haar aus der Stirn. Die Pfeile in der Hand, die sie erst jetzt entdeckte, ließ sie stecken, denn sie versiegelten die Wunden, verhinderten, dass sie stärker bluteten. Ein Herausziehen hätte das Gegenteil bewirkt und Edana unnötig geschwächt.
Ein weiterer Blilck ging gen Himmel und die Fischmenschenfrau stellte mit Erschrecken fest, dass das Schiff sich bereits ein ganzes Stück wegbewegt hatte, kleiner geworden war.
"Helft mir, kommt schnell her, ich brauche eure Hilfe!" rief sie deshalb an die Hohepriesterin wie Ent gleichermaßen telepathisch gerichtet aus.
Während sie das bewusstlose Mädchen weiter in ihrem Schoß hielt, es streichelte, sah sie sich ungläubig um. Sie verstand nicht, was hier passiert war. Denn nur kurz hatte sie mit Felischia und der Ent gesprochen und Freya und Edana waren nur ein kleines Stück vorausgelaufen. Und dennoch hatte ihre Freundin in dieser kurzen Zeit nicht nur überwältigt werden können, sondern man hatte ihr auch noch ein Gift verabreicht und sie in einem Schiff in die Lüfte entführt. Zudem hatte Edana sich ganz offensichtlich heftig zur Wehr gesetzt, was zwar verhindert hatte, dass man sie ebenfalls entführte. Doch sie hatte all das hier angerichtet und war verletzt und ebenfalls betäubt worden.
Aisling fragte sich, ob an diesem Ort möglicherweise die Zeit anders verlief, so wie es in ihrer Heimat Orte am Grund gab, die sich seit Jahrhunderten nicht verändert hatten, an denen kein Wachstum, aber auch kein Tod stattfand.
Doch sie kam nicht dazu, ihre Gedanken weiter zu vertiefen, denn in diesem Moment kamen Felischia und die Ent jede auf ihre Art gleichermaßen schnell angelaufen.
"Sie haben Freya entführt!" rief Aisling aus und zeigte mit der freien Hand gen Himmel und dem nur noch sehr klein von der aufgehenden Sonne beschienenen Schiff. "Ich muss hinterher, bevor sie außer Sicht ist. Nehmt euch bitte Edana an."
Sie sah erst auf die Ent, dann auf die Hohepriesterin, die sich ebenfalls in den Sand kniete. "Ihr müsst so schnell wie möglich von hier weg. Ich weiß nicht, ob die uns aufgelauert haben, ob sie bereits wussten, dass wir hierher unterwegs sind. Aber sie haben uns auf alle Fälle gesehen, und ich könnte mir vorstellen, dass sie das gleich weitergeben."
Sie ließ Edana in die Arme der Hohepriesterin gleiten, die diese unter den Körper des Mädchens geschoben hatte und sprach weiter: "Ihr müsst sie nach Norden bringen, denn sie braucht unbedingt Hilfe. Sie hat zwar mächtige Kräfte, aber sie hat sie und sich selbst nicht unter Kontrolle."
Sie machte eine vage Handbewegung über den Ort der Verwüstung und fuhr leise fort: "Wenn ihr nicht so schnell wie möglich geholfen wird, ist sie eine Gefahr nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst."
Sie zeigte nun gen Osten und sagte mit Nachdruck: "Haltet euch in östliche Richtung, bewegt euch entlang der Östlichen See, und haltet euch vor allem von Städten oder Orten fern. Und lauft los, so schnell ihr könnt. Denn ich denke nicht, dass das hier alles unbeobachet blieb."
Aisling beugte sich zu Edana hinab, legte ihre Wange an die des Mädchens und flüsterte: "Wir sehen uns wieder, das verspreche ich!"
Danach richtete sie sich auf und sah zum Himmel. "Ich werde Freya finden, macht euch um uns keine Sorgen." Sie wirkte entschlossen und von sich überzeugt und auch ihr Blick war stark und selbstbewusst, als sie von der Hohepriesterin zur Ent sah, um offenbar noch eine Reaktion abzuwarten, bevor sie in den Fluss eintauchen und unbemerkt die Verfolgung aufnehmen würde.