Eine ganz andere Welt

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Ich öffne meine Augen und bin irritiert. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, schlafen gegangen zu sein.
Einen Momentlang lang bin ich geblendet und ich muss ein paar Mal blinzeln bevor ich den Raum vor mir erkennen kann. Die Wände sind weiß, der Bettbezug ist weiß, sogar der Schrank ist weiß.
Wo bin ich?
Panik erfasst mich. Wieso liege ich nicht in meinem schönen Zimmer, in dem all meine tollen Spielzeuge auf dem Boden liegen? Und wo ist Mama?
Ich höre ein leises Piepsen rechts von mir und erblicke ein großes Gerät, welches grüne Linien auf dem schwarzen Bildschirm zeichnet. Erschrocken merke ich, dass ich an diesem Ding mit Kabeln und Schläuchen verbunden bin. Ich schlage die Bettdecke zurück. Was ist mit meinem Körper passiert?!
Ich stoße einen kurzen Schreckensschrei aus, verstumme jedoch gleich wieder. Auch die Stimme ist mir fremd. Sie hört sich viel zu tief und heißer an.
Die Tür geht auf und eine Frau mit weißer Kleidung betritt das Zimmer.
„Wo bin ich? Wo sind Mama und Papa?“, rufe ich panisch.
Die Frau kommt auf mich zu und drückt meinen Oberkörper ins Bett zurück. „Du darfst dich jetzt bloß nicht aufregen. Deine Mutter ist schon verständigt und wird in fünf Minuten da sein. Du hattest einen schweren Unfall und bist im Krankenhaus.“
„Warum … Wieso sehe ich so … seltsam aus?“, bringe ich unter Tränen heraus, doch diese Frage wird mir nicht beantwortet. Die Krankenschwester nimmt nur meine Hand, streicht über sie und lächelt mich mitleidig an.

„Mama?“
Eine fremde Frau steht mir gegenüber, die zwar vage Ähnlichkeit mit meiner Mutter hat, aber viel mehr graue Haare besitzt und ihr Gesicht erinnert nun viel mehr an das von Rotkäppchens Oma. Es sieht aus, wie zerknittertes Papier.
„Mein Schatz. Ich habe ja schon gar nicht mehr daran geglaubt, dass dieser Tag kommt.“ Die Stimme ist die meiner Mutter. Sie kommt weinend auf mich zu und umarmt mich.
„Mama, wieso … was ist mir deinem Gesicht und deinen Haaren passiert? Wo ist Papa?“
Sie drückt mich ganz fest an sich und erklärt stockend: „Ach mein Liebling … Du hattest einen ganz schweren Unfall ... mit Papa. Er hatte … Er ist jetzt bei den Engelchen … Das ist jetzt schon so lange her. Sechzehnjahre …“
Ich verstehe nicht, was Mama da sagt und sehe sie einfach nur an.
„Mein Schatz … du bist jetzt keine 6 mehr …“
Es dauert sehr, sehr lange, bis ich begreife. Als es aber dann doch passiert spüre ich einen starken Schmerz in meiner Brust und Tränen kommen aus meinen Augen.

Sechzehn Jahre. Ich war damals sechs. Wie alt bin ich dann jetzt? Ich weiß es nicht …

Ich muss noch zwei Tage im Krankenhaus bleiben, bevor ich nach Hause kann. Man gibt mir einen etwas witzigen Stuhl, der an beiden Seiten große Räder hat. Mama erklärt mir später, dass ich noch nicht so viel machen kann, weil ich so lange gelegen habe und meine Muskeln erst wieder trainiert werden müssen.

Alles ist so fremd. Die Leute die mich besuchen kommen, kommen mir zwar bekannt vor, aber ich erinnere mich kaum an sie, weil alle anders aussehen. Einfach alt. Und ich fange oft an zu weinen, weil ich mache Leute nicht wiedererkenne, obwohl sie mir früher so wichtig waren …

Als ich mit Mama zu unserer Wohnung fahre, blicke ich aus dem Fenster und betrachte all die neuen Häuser und Straßen die gebaut worden sind. Auch unser Haus hat sich verändert. Es ist jetzt hellblau gestrichen. Früher war es weiß. Die Zimmer, in denen ich mich vorher so wohl gefühlt habe, sind mir fremd. Es steht ein neues Sofa in der Ecke, die Küche ist ganz anders.
Das einzig Vertraute ist mein Kinderzimmer. Es hat immer noch den fröhlichen Orangeton an den Wänden und das Bett den Überzug mit dem lachenden Clownsgesicht. Auf dem Boden liegt meine Lieblingspuppe Mariel. Ich bitte Mama, mir die Puppe zu geben.
„Ich habe alles so gelassen, wie es war,“ erklärt sie und reicht mir die Puppe. Ich streiche über das lila Haar meiner Puppe. Hauptsache etwas ist geblieben …

Die nächsten Tage bleibe ich daheim und versuche mich in der Wohnung zurechtzufinden. Nur wenn ich zum Arzt muss, verlasse ich mein kleines Versteck. Er untersucht mich oft, schließt mich an seltsame Geräte und macht mit mir Übungen, die ich auch daheim machen soll. Er sagt, sie sind gut für meine Muskeln, damit ich schnell wieder laufen kann …

Eines Tages stehe ich am Küchenfenster und beobachte die Kinder die auf der Straße mit ihren Püppchen spielen.
„Mama, darf ich raus?“, frage ich schüchtern.
Sie schaut mich an und ein leichtes Lächeln bildet sich auf ihren Lippen. „Natürlich. Aber sei vorsichtig.“
Ich verlasse das Haus mit Mariel in der Hand und gehe etwas schüchtern auf die Kinder zu.
„Hallo“, sage ich.
Ein blondes Mädchen schaut mich fragend an. „Hallo.“
„Darf ich … darf ich mit euch spielen?“
„Du bist doch viel zu alt!“, sagt ein anderes Mädchen und schaut mich grimmig an. Sie hält eine große Puppe mit Locken, die sie fest an sich drückt. Keines der drei Mädchen ist älter als sieben.
Ich lasse den Kopf ein wenig hängen. „Aber ich kann doch trotzdem mit euch spielen.“
„Gell, du bist zurückgeblieben?!“, fragt das dritte Mädchen.
Mir treten Tränen in die Augen. Zurückbelieben … was soll das heißen … heißt dass, ich bin blöd?
„Mit solchen wollen wir nichts zu tun haben!“ Das zweite Mädchen dreht mir den Rücken zu.
Ich laufe schnell zu Mama zurück. Tränen laufen mir das Gesicht herunter.
Als ich sie frage, ob ich zurückgeblieben bin, antwortet sie mir mit einem nein, ich müsse mich eben erst in dieser neuen Welt zurechtfinden. Aber ich habe trotzdem Angst, dass ich dumm bin …

Blut! Überall Blut!
Ich schreie entsetzt auf. „Ich verblute! Ich verblute! Mama!“
Meine Mutter kommt herbeigeeilt, doch als sie das blutige Höschen sieht, muss sie lachen. „Ach nein, Kind. Du verblutest nicht. Das ist doch nur deine Menstruation. Die bekommst du jetzt jeden Monat. Komm, ich helfe dir und dann erkläre ich dir in aller Ruhe, wie das ist.“

Ich stehe vor dem Spiegel und betrachte meinen „neuen“ Körper.
Ich finde, er ist viel zu groß. Ich ecke ständig irgendwo damit an. Die Beine sind viel zu lang. Mama musste mir ein neues Bett kaufen, denn beim Alten hingen sie raus. Und die große Wölbung, wie Mama sie auch hat, an der Brust stört auch. Er ist ständig im Weg.
Ich kann wegen der Größe nicht mehr in die kleinen Tunnel auf dem Spielplatz klettern und auf dem Klettergerüst spielen, dafür bin ich jetzt zu groß. Außerdem schauen die Leute so komisch, wenn ich auf eines der Gerüste klettern möchte und das ist mir unangenehm. Mein altes Fahrrad ist jetzt auch zu klein für mich.
Und diese hässlichen Berge in meinem Gesicht, die manchmal rot und manchmal gelb sind finde ich ekelhaft und sie tun mir weh.
Ich kann meinen Körper nicht leiden. Ich will in meinen Kinderkörper zurück, denn dieser hier passt gar nicht zu mir. Er zeigt, dass ich erwachsen bin, obwohl ich das gar nicht sein möchte …

„Mami, wo sind Jennifer und die anderen? Ich würde gerne wieder mir ihnen spielen.“
Meine Mutter sieht mich lange an, bevor sie antwortet. „Schatz, ich denke es ist keine gute Idee, wenn du sie besuchen gehst.“
„Warum?“
„Nun ja, deine Freundinnen sind jetzt alle erwachsen und werden dich vielleicht nicht wiedererkennen. Es ist sogar möglich, dass du dich nicht mehr so gut wie früher mit ihnen verstehst. Ich glaube, wir lassen das lieber mit dem Besuch.“
„Ich will aber!“ Ich stampfe feste mit dem Fuß auf. „Ich will meine Freundinnen sehen!“
„Ich meine es doch nur gut. Versteh doch, dass es nicht mehr so sein wird, wie vor dem Unfall. Ich möchte nicht …“
„Ich will zu Jennifer!“ Ich schmeiße mich mit dem Rücken aufs Sofa, balle meine Hände zu Fäusten und schlage damit auf das Polster ein. „Ich will zu meinen Freundinnen! Ich will, ich will, ich will!“
„Ist ja gut. Wir werden Jennifer besuchen gehen. Ich weiß, dass sie immer noch im gleichen Haus wohnt. Ich treffe sie manchmal beim Einkaufen. Sie ist auch einige Male mit ins Krankenhaus gekommen.“

Am nächsten Tag geht sie mit mir zu Jennifers Haus. Langsam gehen wir auf die Haustür zu. Ich bin ganz nervös und meine Hand zittert, als ich die Klingel drücke. Ich vernehme Geräusche hinter der Tür, bevor sie sich öffnet. Eine junge Frau steht mir gegenüber. Sie sieht mich lange an, dann hellt sich ihr Gesicht auf und sie hüpft vor Aufregung von einem Bein zum anderen. „SARA! Mein Gott. Mutter, komm schnell! Die Gerüchte stimmen! Sie ist wach!“ Die junge Frau umarmt mich ohne Vorwarnung. „Oh Sara! Ich hab dich vermisst. Komm doch in die Wohnung!“
Etwas ängstlich sehe ich die Frau an. „Jenn … Jennifer, bist du das?“
„Ja, natürlich! Na komm, wir haben uns soviel zu erzählen.“ Sie nimmt mich an der Hand und zieht mich in den Flur.

Ich sitze mit meiner alten Freundin am Esstisch und sie redet ohne Luft zu holen. Ihre Mutter bietet uns Kekse an. Das erinnert mich an früher, als Jenny und ich in ihrem Zimmer saßen und mit unseren Barbies spielten. Aber jetzt spielen wir nicht mehr, Jenny benimmt sich wie eine erwachsene Frau, zeigt mir ihre neuesten Klamotten, erzählt mir von Männern. Dabei interessiert mich das gar nicht.

Als sie die Puppe in meiner Hand sieht, stutzt sie etwas und schaut mich komisch an, sagt aber nichts dazu. Für sie scheint es selbstverständlich zu sein, das ich mich nun auch wie eine erwachsene Frau benehme, aber ich kann es nicht. Ich weiß doch gar nicht wie. Ich fühle mich unwohl und traue mich gar nicht erst zu fragen, wo denn all ihre tollen Spielsachen hin sind und ob sie Lust habe, mit mir Mama, Papa, Kind zu spielen.
Als ich Mama bitte, mit mir nach Hause zu gehen bin ich traurig, denn Jennifer ist nicht länger die Freundin, die ich mal hatte …

Ich fahre an einem Tag alleine zum Arzt, denn Mama muss arbeiten.
Es ist das erste Mal, das ich ganz ohne Begleitung Straßenbahn fahren darf und es macht mir ein wenig Angst. Sie ist vollgestopft und es gibt keinen Sitzplatz mehr, so dass ich stehen muss.
Ich versuche mich bestmöglich an einer der vielen Stangen festzuhalten, stolpere aber trotzdem jedesmal hin und her, wenn die Straßenbahn um eine Kurve fährt oder bremst.
Da kommt ein Mann auf mich zu. Ich schätze ihn etwa auf fünfundzwanzig.
„Ey, Süße. Wenn du so auf mir reitest, lade ich dich gerne zu einem Ritt ein“, grinst er.
Ich schaue ihn neugierig an. „Du hast wirklich ein eigenes Pferd?“
Der Mann lacht und beugt sich ganz nah an mich heran. Er riecht ekelhaft. „Sicher. In meiner Hose. Na lass mal anfassen.“
Erschrocken weiche ich zurück und remple dabei einen älteren Herren an.
„Pass doch auf!“, beschwert sich dieser.
„Tut mir leid.“ Ich habe wieder Tränen in den Augen.

Ich versuche, im Zimmer, in dem alle Besucher warten, eines der vielen Bücher zu lesen. Ich habe mir eines mit einer Menge Bilder und ganz wenig Text ausgesucht. Ich versuche das erste Wort zu lesen.
„H.. Ha … Has … Hase …“
Ich kann es nicht. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen und ergeben keinen Sinn. Sie sind für mich einfach sinnloses Gekritzel. Ich muss anfangen zu weinen, denn eigentlich sollte ich doch lesen können. Ich bin jetzt schließlich erwachsen …


Weil ich nicht lesen kann, versuche ich mir mit Mariel die Wartezeit zu vertreiben. Ich finde in der Spielzeugkiste noch andere Puppen und verheirate Mariel mit einer männlichen, die ich Timmy nenne.
„Willst du mich heiraten?“, lasse ich Timmy fragen.
„Ja.“
Dann lasse ich Timmy Mariel küssen.
„Du hast da aber ‘ne schöne Puppe.“ Ein Mädchen etwa im Alter von acht steht neben mir. „Darf ich mal sehen?“
Ich nicke schüchtern und reiche sie der Fremden.
„Die ist wirklich schön. So eine hätte ich auch gerne.“ Neugierig betrachtet das Mädchen die Puppe und dreht sie in alle Richtungen hin und her. „Darf ich mitspielen?“
Ein ungewohntes Gefühl durchströmt mich, das überall kribbelt und mich zum Grinsen bringt. Endlich stoße ich nicht auf Ablehnung.
„Ja“, antworte ich eifrig und das Mädchen setzt sich zu mir.
„Ich bin Melanie und wie heißt du?“
„Sara.“ Ich kann meine Freude nicht verstecken, aber mir liegt eine Frage auf der Zunge, die ich unbedingt stellen muss, denn zu groß ist die Angst, wieder verstoßen zu werden. „Und es macht dir nichts aus, dass ich viel älter bin als du?“
„Ach was. Mein Bruder ist so wie du. Er ist auch noch ein Kind, obwohl er nicht so aussieht. Siehst du, der Junge da. Das ist mein Bruder. Er kennt viele, die so sind, wie er und du.“ Sie deutet auf einen Siebzehnjährigen.
„Wollen wir denn Freundinnen werden?“, fragt Melanie und ich ziehe vor lauter Freude das Mädchen in meine Arme und trompete ein lautes „JA!“
 
Oben