Woggelwoggel
Exarch
Die Briten haben abgestimmt – und sie haben keine Lust mehr. Sie haben somit anders abgestimmt als ich das erwartet und auch erhofft hatte. Nun hört man in den Medien wieder und wieder verschiedenste Interpretationen dafür und je nach politischer Couleur nennt auch jeder irgendwelche anderen Mängel, die Europa habe. Zumeist werden hier inhaltlich „falsche“ politische Tagesthemen angeführt. „Die EU muss sozialer werden!“ oder „Die EU muss wettbewerbsfähiger werden!“ werden z.B. als Gründe für die grassierende Europaverdrossenheit auf dem ganzen Kontinent benannt.
Nach meiner Überzeugung spielen tagespolitische Fragen aber absolut keine Rolle bei dem Problem, das Europa zurzeit hat. Das sticht finde ich bereits dabei heraus, dass jeder irgendwelche anderen, zum Teil ja sogar gegensätzlichen Gründe anführt (s.o.). Vielmehr handelt es sich um Fehler im System der Europäischen Union und um die soll es hier im Thread auch gehen, nicht primär um den Brexit.
Woran liegt also Eurer Meinung nach die Feindseligkeit gegen Europa?
Wie kann man die Dinge wieder ins Lot rücken?
Und was sagt Eure Glaskugel zur Zukunft der EU?
Nach meiner Meinung liegt es vor allem an folgenden Gründen:
Die EU ist undemokratisch!
Wenn sie über Brüssel reden, sprechen viele EU-Skeptiker gerne von Diktatur. So weit gehe ich nicht, aber ein Legitimationsdefizit ist nicht von der Hand zu weisen. Wir haben de facto eine Regierung in Form der Kommission, die aber in erster Linie von den Staats- und Regierungschefs per Kuhhandel bestimmt wird. Das Parlament muss zwar zustimmen, nickt aber in der Regel ab – was sollte es auch sonst tun? Ein Parlament ist in dem Moment quasi überflüssig, in dem das Prinzip von Regierung und Opposition fehlt und das ist in meinen Augen das echte Demokratiedefizit in Brüssel. Wir haben es im Prinzip mit einer dauerhaften Allparteienkoalition zu tun, sodass bei der Europawahl die Möglichkeit fehlt, sich inhaltlich unterschiedlich zu entscheiden. Wer tatsächlich eine inhaltliche Veränderung will, muss an den Rändern suchen, und was er dort bekommt, ist für viele unwählbar, da radikal.
Wir brauchen also eine Regierung, die alleine dem Parlament verantwortlich ist und bei der die Staats- und Regierungschefs nichts mitzureden haben. Desweiteren ist eine Zweiteilung des EU-Parlamentes notwendig in eine Kammer, die Parteiinteressen vertritt, europaweit gewählt wird und eine europaweite Sperrklausel hat, um bspw. Regionalparteien zu verhindern, und in eine Kammer, die ausschließlich Nationalinteressen repräsentiert und deren Mitglieder direkt per Mehrheitswahlrecht gewählt werden. Jedes Gesetz müsste durch beide Kammern durch.
Die Zuständigkeiten sind unklar!
Im deutschen Grundgesetz ist verankert, dass Deutschland sich zu einer fortschreitenden europäischen Integration verpflichtet. Was das nun konkret heißt, weiß keiner so genau. Ich habe nicht das Gefühl, dass die europäische Integration irgendeinem Fahrplan folgt, sondern nach dem Motto „Mal hier eine Kompetenz für Brüssel, mal da eine Kompetenz für Brüssel…“. Viele Leute haben mittlerweile das Gefühl, dass Brüssel zu viel zu sagen hat. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen, eben weil ich das Gefühl habe, Brüssel redet zwar irgendwie überall mit, aber entscheidet trotzdem kaum etwas und hierher hat man dann irgendwelche halbgaren Kompromisse, die sich i.d.R. mit Kleinigkeiten aufhalten.
Ich glaube, man muss die komplette Kompetenzverteilung vom Kopf auf die Füße stellen und neu regeln, ausgerichtet an einem strikten Subsidiaritätsprinzip. D.h. Die EU kümmert sich um die „großen“ Dinge (dazu zähle ich z.B. Grenzschutz und Verteidigung) und muss sich aus Dingen, die national, regional oder kommunal erledigt werden können, komplett raushalten.
Dieses Tröpfchenprinzip „Immer mal ein bisschen mehr“ ist intransparent und folgt auch keinem wirklichen Prinzip. Von daher: Komplett neu regeln, festschreiben und es dann dabei belassen.
Identitätsfrage
Wenn es in Talkshows um Europa geht, gibt es die obligatorische Fußgängerzonen-Umfrage an zumeist junge Leute: „Fühlen sie sich als Deutscher oder als Europäer?“. Und bereits in der Fragestellung zeigt sich meiner Meinung nach der Denkfehler was eine europäische Identität angeht: das Entweder-Oder. Europa setzt sich aber aus vielen verschiedenen Nationen zusammen, ohne diese ist eine europäische Identität nicht denkbar. Der europäische Gedanke darf also nicht die nationale Identität ersetzen, sondern muss sie ergänzen. Man kann durchaus z.B. Italiener sein, ohne Europäer zu sein, aber kein Europäer ohne sich der eigenen nationalen Wurzeln bewusst zu sein und der Offenheit den anderen europäischen Kulturen gegenüber. Wir brauchen keine Vermischung oder Ersatz, sondern ein Bewusstsein für das eigene und Interesse an und Austausch mit den Kulturen der anderen.
Was die Zukunft Europas angeht, bin ich ernüchtert. Ich habe nicht das Gefühl, dass an entscheidenden Stellen die Probleme korrekt diagnostiziert, geschweige denn benannt werden. Die Nationalregierungen kleben an der Macht, bei allem, was Brüssel tut, mitzureden, was in der Vergangenheit vielleicht funktioniert hat, aber in einer auf 28 Staaten angewachsenen Union unmöglich ist, da sich die Nationalregierungen natürlich nur auf die Vorteile fürs eigene Land konzentrieren. Das hat auch zur Folge, dass Deutschland zu einer Art natürlichem Hegemon geworden ist, da es das politisch und wirtschaftlich stärkste Land in Europa ist. Wenn einem Slowenen aber nicht passt, was Angela Merkel tut, dann kann er sie nicht abwählen. Aber ich komme wieder zu meinem ersten Punkt zurück…
Ich hoffe wirklich, dass sich ganz fundamental etwas in der EU ändert, ansonsten fährt Europa gegen die Wand. Und man sollte sich durchaus auch bewusst sein, wie wichtig die EU ist, wenn es ums Mittanzen auf dem globalen Parkett geht. Man kann sich nicht gleichzeitig immer über den großen Einfluss und die Abhängigkeit von Amerika beschweren, aber gleichzeitig gegen die EU sein. Soll man sich Russland oder China annähern, um ein bisschen was vom großen Weltkuchen abzubekommen? Dann lieber die USA – oder es selbst machen, das geht aber nur europäisch!
Nach meiner Überzeugung spielen tagespolitische Fragen aber absolut keine Rolle bei dem Problem, das Europa zurzeit hat. Das sticht finde ich bereits dabei heraus, dass jeder irgendwelche anderen, zum Teil ja sogar gegensätzlichen Gründe anführt (s.o.). Vielmehr handelt es sich um Fehler im System der Europäischen Union und um die soll es hier im Thread auch gehen, nicht primär um den Brexit.
Woran liegt also Eurer Meinung nach die Feindseligkeit gegen Europa?
Wie kann man die Dinge wieder ins Lot rücken?
Und was sagt Eure Glaskugel zur Zukunft der EU?
Nach meiner Meinung liegt es vor allem an folgenden Gründen:
Die EU ist undemokratisch!
Wenn sie über Brüssel reden, sprechen viele EU-Skeptiker gerne von Diktatur. So weit gehe ich nicht, aber ein Legitimationsdefizit ist nicht von der Hand zu weisen. Wir haben de facto eine Regierung in Form der Kommission, die aber in erster Linie von den Staats- und Regierungschefs per Kuhhandel bestimmt wird. Das Parlament muss zwar zustimmen, nickt aber in der Regel ab – was sollte es auch sonst tun? Ein Parlament ist in dem Moment quasi überflüssig, in dem das Prinzip von Regierung und Opposition fehlt und das ist in meinen Augen das echte Demokratiedefizit in Brüssel. Wir haben es im Prinzip mit einer dauerhaften Allparteienkoalition zu tun, sodass bei der Europawahl die Möglichkeit fehlt, sich inhaltlich unterschiedlich zu entscheiden. Wer tatsächlich eine inhaltliche Veränderung will, muss an den Rändern suchen, und was er dort bekommt, ist für viele unwählbar, da radikal.
Wir brauchen also eine Regierung, die alleine dem Parlament verantwortlich ist und bei der die Staats- und Regierungschefs nichts mitzureden haben. Desweiteren ist eine Zweiteilung des EU-Parlamentes notwendig in eine Kammer, die Parteiinteressen vertritt, europaweit gewählt wird und eine europaweite Sperrklausel hat, um bspw. Regionalparteien zu verhindern, und in eine Kammer, die ausschließlich Nationalinteressen repräsentiert und deren Mitglieder direkt per Mehrheitswahlrecht gewählt werden. Jedes Gesetz müsste durch beide Kammern durch.
Die Zuständigkeiten sind unklar!
Im deutschen Grundgesetz ist verankert, dass Deutschland sich zu einer fortschreitenden europäischen Integration verpflichtet. Was das nun konkret heißt, weiß keiner so genau. Ich habe nicht das Gefühl, dass die europäische Integration irgendeinem Fahrplan folgt, sondern nach dem Motto „Mal hier eine Kompetenz für Brüssel, mal da eine Kompetenz für Brüssel…“. Viele Leute haben mittlerweile das Gefühl, dass Brüssel zu viel zu sagen hat. Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen, eben weil ich das Gefühl habe, Brüssel redet zwar irgendwie überall mit, aber entscheidet trotzdem kaum etwas und hierher hat man dann irgendwelche halbgaren Kompromisse, die sich i.d.R. mit Kleinigkeiten aufhalten.
Ich glaube, man muss die komplette Kompetenzverteilung vom Kopf auf die Füße stellen und neu regeln, ausgerichtet an einem strikten Subsidiaritätsprinzip. D.h. Die EU kümmert sich um die „großen“ Dinge (dazu zähle ich z.B. Grenzschutz und Verteidigung) und muss sich aus Dingen, die national, regional oder kommunal erledigt werden können, komplett raushalten.
Dieses Tröpfchenprinzip „Immer mal ein bisschen mehr“ ist intransparent und folgt auch keinem wirklichen Prinzip. Von daher: Komplett neu regeln, festschreiben und es dann dabei belassen.
Identitätsfrage
Wenn es in Talkshows um Europa geht, gibt es die obligatorische Fußgängerzonen-Umfrage an zumeist junge Leute: „Fühlen sie sich als Deutscher oder als Europäer?“. Und bereits in der Fragestellung zeigt sich meiner Meinung nach der Denkfehler was eine europäische Identität angeht: das Entweder-Oder. Europa setzt sich aber aus vielen verschiedenen Nationen zusammen, ohne diese ist eine europäische Identität nicht denkbar. Der europäische Gedanke darf also nicht die nationale Identität ersetzen, sondern muss sie ergänzen. Man kann durchaus z.B. Italiener sein, ohne Europäer zu sein, aber kein Europäer ohne sich der eigenen nationalen Wurzeln bewusst zu sein und der Offenheit den anderen europäischen Kulturen gegenüber. Wir brauchen keine Vermischung oder Ersatz, sondern ein Bewusstsein für das eigene und Interesse an und Austausch mit den Kulturen der anderen.
Was die Zukunft Europas angeht, bin ich ernüchtert. Ich habe nicht das Gefühl, dass an entscheidenden Stellen die Probleme korrekt diagnostiziert, geschweige denn benannt werden. Die Nationalregierungen kleben an der Macht, bei allem, was Brüssel tut, mitzureden, was in der Vergangenheit vielleicht funktioniert hat, aber in einer auf 28 Staaten angewachsenen Union unmöglich ist, da sich die Nationalregierungen natürlich nur auf die Vorteile fürs eigene Land konzentrieren. Das hat auch zur Folge, dass Deutschland zu einer Art natürlichem Hegemon geworden ist, da es das politisch und wirtschaftlich stärkste Land in Europa ist. Wenn einem Slowenen aber nicht passt, was Angela Merkel tut, dann kann er sie nicht abwählen. Aber ich komme wieder zu meinem ersten Punkt zurück…
Ich hoffe wirklich, dass sich ganz fundamental etwas in der EU ändert, ansonsten fährt Europa gegen die Wand. Und man sollte sich durchaus auch bewusst sein, wie wichtig die EU ist, wenn es ums Mittanzen auf dem globalen Parkett geht. Man kann sich nicht gleichzeitig immer über den großen Einfluss und die Abhängigkeit von Amerika beschweren, aber gleichzeitig gegen die EU sein. Soll man sich Russland oder China annähern, um ein bisschen was vom großen Weltkuchen abzubekommen? Dann lieber die USA – oder es selbst machen, das geht aber nur europäisch!