[Biete] Blutfedern - Maailma Lunastaja

SayaSayoko

Ungläubiger
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(vorübergehendes Titelbild)
Autor: SayaSayoko (Sarah)

Klappentext: Keiner vermag zu wissen, welche Wesen sich wirklich hinter den Wadims verbergen. Mit ihrer gehaltenen Eleganz und dem graziösen Charme sind sie nahezu unwiderstehlich. Diese Ansicht vertritt auch die junge Eveline voll und ganz. Es ist ihr schier unmöglich sich von dem mysteriösen Jeldrik fernzuhalten, selbst als er alles woran sie je geglaubt hat ins Wanken bringt. Und nicht nur das, genaugenommen bringt er sogar ihr ganzes Leben ins Wanken. Was früher oder später jedoch ohnehin geschehen musste, wenn man sich mit gefallenen Engeln herumschlägt.
Auszug: […] selbst jetzt… mit einer feinen Wunde, die sich von seiner Stirn über die Augenbraue erzog, … raubte sein Anblick mir den Atem. Auch die gräulichen Aschflecken auf der Haut nahmen ihm keinen Deut meines Begehrens. Ich nahm sie als Narben unserer Liebe. Auch wenn uns jetzt womöglich das gemeinsame Leben genommen werden sollte; unsere Empfindungen für einander würden uns auf Ewig erhalten bleiben.[...]

Soundtrack: Breaking Benjamin - Evil Angel
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Genre: Darkphantasie/-Mysteryromanze (keine Vampirgeschichte!)

Anmerkung: Hab mir ein paar Elemente und Namen aus der nordischen Mythologie geliehen, aber eigentlich wenig Legenden davon übernommen, sondern meine eigene gebastelt x) Personen, sowie die Wesen "Zyona" und "Exyus" entspringen allesamt meiner Fantasie! Mögliche Ähnlichkeiten sind Zufall, gibt es aber denk ich nicht^^.
Schauplätze: - gibt es wirklich, nur vielleicht nicht so wie ich sie beschreibe

Genug geredet - Enjoy!! :)

***

PROLOG
Bifröst(Dimensionenportal)



Voller freudiger Erwartung eilte sie über den breiten, weisen Schleier. Um sie herum war nichts als Leere. Wie ein tiefschwarzer Vorhang umzäunte die Dunkelheit den hellen, bodenlosen Weg, den sie entlang schwebte.
Sie kannte die Umgebung. Sie war hier schon einige Male gewesen, wahrscheinlich öfter als es irgendjemandem vergönnt sein sollte. Und dennoch fühlte es sich immer noch so ungewohnt befreiend an als wäre es das erste Mal.
Sie war sich sicher, das richtige getan zu haben, auch wenn es diesmal mehr schmerzte als bei ihren davorigen Leben.
In der Welt, in der sie sich die letzten Jahre aufgehalten hatte, würde man sagen, dass dies doch keine Lösung gewesen sei, es einen anderen Ausweg gegeben hätte. Aber wie könnte sie es den Sterblichen verübeln? Sie selbst war viele Jahre dieser Meinung gewesen und verabscheute das, was sie vor wenigen Augenblicken getan hatte. Doch sie wusste, dass sie nur so der Lösung bald einen Schritt näher sein konnte. Immerhin waren die menschlichen Hilfen ihr nicht von Nutzen.
Ihr tat es Leid, so über ihre Familie denken zu müssen. Und vor allem sie einfach ohne jegliche Erklärung zurück gelassen zu haben, aber es war die einzige Möglichkeit sie zu schützen. Und das ermutigte sie.


Noch immer konnte sie vor sich einzig den erleuchtenden Weg ausmachen. Die Finsternis verbarg in ihrer scheinbar endlosen Tiefe das Portal, ihr Ziel.
Und einige andere Dinge, die ihr zum Verhängnis wurden.
Sie sah ihn nicht kommen. Es war zu dunkel, um außer dem Pfad, überhaupt etwas erkennen zu können – wo es normalerweise ohnehin nichts als Leere zu sehen gab.
Es war ein Leichtes sie unerwartet anzugreifen, da ihr Horizont im Moment nicht hundertachtzig sondern nur dreißig Grad zu reichen schien. Es ist feige jemanden von hinten zu überfallen, das wusste er. Doch seit wann scherte er sich darum, was fair war oder nicht? Er war der geborene Intrigant. Es saß ihm quasi in der Seele niederträchtig zu sein.
Er sprang rapide hinter ihr aus dem Nichts – buchstäblich. Es blieb ihr nicht einmal die Zeit, seine Aura wahrzunehmen.
Ein schriller, erschrockener Schrei entfloh aus ihrer Kehle und brach die neuralgische Stille, was die Atmosphäre nun nicht gerade angenehmer machte.
Sie spürte den harten, mächtigen Körper hinter sich, welcher mit geschickten Bewegungen ihr den Arm hinter ihrem Rücken verdreht hatte und ihn nun schmerzhaft nach oben schob. Er machte es ihr unmöglich ihren Oberkörper zu bewegen. Und als sie instinktiv versuchte nach ihm zu treten, erklang ein metallisches Zischen, woraufhin er ihr keine Sekunde später etwas Hartes und Spitzes ans Rückgrat drückte. Sie erstarrte.
„Tere tulemast*, Frea.“, flüsterte er gefährlich nah an ihrem Ohr. „Wir wussten beide, dass es eines Tages so enden würde, nicht wahr, armas*?“
Sie erwiderte nichts, doch ihre zitternden Atemzüge verrieten ihm ihre Angst. Er lächelte maliziös und verstärkte den Druck der Klinge.
„Du wirst brav mitkommen, nehme ich an?“, fragte er spöttisch. Er erwartete keine Antwort, sondern führte sie vom Weg ab, geradewegs auf den schwarzen Vorhang zu.
Innerlich verfluchte sie Heimdall mit seiner dämlichen Vorsichtsmaßnahme. Dank ihm und Forseti war sie auf der Bifröst* lediglich ein beseelter Körper, der außer seiner Schönheit keine Göttlichkeit ausstrahlte.
In diesem Augenblick sehnte sie sich mehr als je zuvor nach ihrer Macht. Es wäre töricht und naiv sich jetzt gegen einen Gott wehren zu wollen, so vollkommen schutzlos. Sie brauchte die überirdische Energie in ihren Adern, um die einfältige Angst vertreiben zu können, die allein seine Stimme in ihr hervorrief.


Sie kannte den betrügerischen Gott hinter sich nur zu gut. Sie wusste, dass er bald mehr als nur direkte Drohungen anwenden würde, um sie sich unterwürfig zu machen.
„Warum… machst du es nicht kurz, …Vé?“, wollte sie wissen und versuchte das Bibbern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Vergebens.
Er lachte daraufhin höhnisch auf, bevor er ihr antwortete. „Weil ich das Vergnügen liebe, das weißt du doch.“, sagte er schlicht. Sie meinte, erneut ein Lächeln in seiner Stimme herauszuhören.
Die Dunkelheit tat sich auf. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich blind von ihm in die Schwärze führen zu lassen.
Ein junger Mann stand stetig am Rande des Geschehens. Schweigend und beobachtete.
Sie bemerkte ihn erst, als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten und die Schwärze sich grau gefärbt hatte.


„Machen wir doch ihrem Leid ein Ende.“, sagte die Gottheit in vorgetäuschter Güte an den jungen Mann gewandt. „Ich danke dir.“
„Bitte.“, antwortete er tonlos, doch in ihr tobten verzweifelte, freudige Hilferufe, als sie seine Stimme erkannte.
„Gott sei Dank.“, wisperte sie und machte ihrer Hoffnung Luft.
„Hilf mir!“ Es war kaum mehr als ein Piepsen.
Sie hörte, dass der junge Mann die Zähne knirschte. Und das war dann auch sein einziger Akt auf ihre Bitte gewesen.
Sie starrte ungläubig in das Gesicht des Mannes, obwohl sie nur seine Konturen erkennen konnte.
„Nägemiseni*“, raunte Vé und dann tat er das, was für sie schon die ganze Zeit offensichtlich gewesen war.


* „Tere tulemast“ = estnisch Guten Abend(vorkommende Fremdsprachen sind immer estnisch. Außerdem kann es sein, dass sie nicht immer zu 100% korrekt übersetzt sind - bin ja schließlich auch keine Estnin :P)
* „Armas“ = meine Liebe
* Bifröst = so nennt man laut der nordischen Mythologie die ‚Brücke’ zwischen Himmelsreich und Erdenwelt(in meiner Geschichte gibt es aber kein Himmelsreich, sondern den ‚Götterpalast’)
* „Nägemiseni“ = Gute Nacht





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Kapitel 1 - Die, mit den Perlen

Als ich die schwere, hölzerne Bibliothekstür hinter mir zugezogen hatte und ins Freie trat, machte der Himmel mit einem tiefen Grollen auf sich aufmerksam. Feine, graue Wolken überdeckten den Himmel, der vor wenigen Minuten noch strahlend blau über Chestertown geweilt hatte. Nun händigten sie der Stadt warmem Nieselregen aus.
Ich stöhnte und hielt mir die weiße Plastiktüte mit den Büchern über den Kopf, die mich zumindest etwas vor der Nässe schützen sollte.
Ich, vom Teufel gesegnetes Mädchen und daher vom Pech verfolgt, hatte versagt, als es darum ging, wer die Bücher für unser Geschichtsprojekt aus der Bibliothek zu besorgen hatte. Und da Kylie und Tyler die Vorstellung, ihre kostbare Freizeit in Bibliotheken zu verbringen, genauso wenig reizte wie mich waren sie mir erbarmungslos in den Rücken gefallen und machten mir diese Aufgabe Zuteil. Der Verrat an der ganzen Sache war ja, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal anwesend war, um zu protestieren.
So kam es also, dass ich an einem schwülen, regnerischen Sommertag trotz Führerschein durch die Straßen von Chestertown trottete. Schutzsuchend unter den schmalen Dachvorsprüngen der Kaufläden, nachdem ich festgestellt hatte, dass die Tüte als Regenschirmimitat nicht wirklich was taugte.
Der Nieselregen verwandelte sich binnen Sekunden in einen mäßigen Niederschlag und ich musste bestürzt zusehen, wie die lauen Windböen die Tropfen unter meine Dachtraufen jagten und somit meine Schutzvorkehrung zu Nichte machten. Gedanklich schmiss ich Petrus anklagende Worte entgegen und beschleunigte meinen Gang. Doch ich sollte nicht weit kommen.


Plötzlich rannte ich unachtsam gegen einen harten Widerstand, der unerwartet von rechts in Form eines jungen Mannes aus einem der Läden aufgetaucht war. Unsere Kollision stieß mich unsanft in Richtung Straße, woraufhin ihm – ebenso wie mir meine Tüte – etwas Kugeliges aus den Händen und kaum hörbar klirrend zu Boden fiel. Das konnte ich auch nur als dergleichen identifizieren, weil ich prompt darauf ausrutschte. Unheil erahnend knackste es unter meinen Füßen und im nächsten Moment fand ich mich auch schon auf dem Asphalt liegend und attackiert von tausend kühlen Wassertropfen wieder. Ich war hart mit dem Kopf aufgeprallt. Als ich mich mit leichtem Schwindelgefühl wieder aufrichtete, wünschte ich mir augenblicklich das Bewusstsein zu verlieren.
Bemerkenswert kräftige, flussgrüne Augen trafen die meine und sahen mich aus seinem wunderschönen Gesicht so vernichtend an, dass ich eigentlich tot hätte umfallen müssen – wenn ich im ersten Moment denn schon bemerkt hätte, dass er diesen Blick mir widmete. Aber wer einmal von diesen Augen visiert wurde, ‚kann’ an gar nichts anderes mehr denken als an den smaragdgrünen Farbring um seine Pupillen.


Sobald ich realisiert hatte, dass sein Blick auf keinerlei Freundlichkeit hinwies, versuchte ich meiner Intuition entsprechend meine Augen zu Schlitzen zu verengen, auch wenn ich noch nicht genau wusste, woher diese plötzliche Abscheu gegen mich her kam. Ich meine, ein Zusammenprall zweier Menschen kam doch in jeder zweiten Sitcom vor, ohne größere Katastrophen mit sich zu bringen. Außerdem war er mir in den Weg gelaufen! Warum also sah er mich so an als ob ich gerade seinen toten Hund wieder ausgegraben hätte?
Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Blickduell ausgehalten hatte – wahrscheinlich nicht mal eine Minute – aber irgendwann sah ich ein, es verloren zu haben und sah mich resigniert nach meinen Büchern um.
Zu meinem Bedauern fand ich sie aus der Tüte gerutscht und eines davon aufgeschlagen mit der Innenseite auf den nassen Pflastern neben mir wieder. Na toll.
Ich grummelte und rappelte mich wenig elegant wieder auf die Beine. Darauf bedacht seinem Blick nicht noch einmal zu begegnen, wandte ich mich von ihm ab und sammelte die inzwischen vom Regen durchweichten Bücher auf. Na, zurück in die Bibliothek konnte ich die jedenfalls nicht mehr bringen. Die durfte er mir gefälligst ersetzen!
Wut schnaubend drehte ich mich zurück in seine Richtung. Wider erwarten blickte ich nicht in ein Antlitz voller Zorn, sondern in eine schmerzverzerrte Maske, die mich in der Bewegung erstarren ließ. Der junge Mann hatte sich zwischenzeitlich ebenfalls abgewandt und kniete auf dem nassen Asphalt, was ihn scheinbar nicht zu stören schien. In seiner linken Hand hielt er eine antik aussehende Perlenkette, an deren Ende ein goldenes, kleines Medaillon baumelte. Mit der freien Hand sammelte er irgendetwas vom Boden auf, was ihm offenbar…wehtat. Sein Kiefer war aufeinander gepresst und es hätte mich nicht gewundert, wenn er augenblicklich losgeheult hätte.
Ich wagte einen Blick auf die grauen Pflaster vor ihm.
An mir nagte augenblicklich das Gewissen.
Zwei aprikofarben schimmernde Perlen lagen vor ihm und waren allem Anschein nach, von der Kette abgebrochen. Ohne weitere Umschweifen, befahl ich meinen Beinen in die Gänge zu kommen und kniete mich ihm gegenüber.


„Tut mir Leid.“, murmelte ich und wollte mich schon daran machen, ihm beim Einsammeln der Perlensplitter zu helfen.
Doch bevor meine Fingerspitzen auch nur in die Nähe der Perlen kamen, ließ mich ein abfälliges Zischen seinerseits innehalten.
„Verschwinde.“, zischte er barsch und ich sah, dass er auf seinem Oberschenkel eine Hand zur Faust geballt hatte, ehe ich in seine glanzlosen Augen sah, dessen Blick anklagend auf mir lag. Für einen Moment war ich noch wie benommen und starrte in sein reserviertes Gesicht.
Ich blinzelte verwirrt, um meine Fassung wieder zu gewinnen und erwiderte seinen Blick.
„Schön!“, meinte ich dann schnippisch und richtete mich auf.
Einen kleinen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, noch einmal, aber diesmal mit voller Absicht, auf die Perlen zu treten. Dann aber entschied ich, dass mein Zicken-Image auch ohne diese Aktion bestehen bliebe und eilte die vertrauten Straßen entlang, Richtung Heim.


Der Regen ließ natürlich nicht nach. Das hatte ich auch gar nicht erwartet. Und verwunderlicher weise störte es mich nicht einmal. Im Gegenteil, ich war sogar dankbar, dass er wohl versuchte mir die Wut aus dem Gesicht zu waschen. Was war das aber auch für ein eigenartiger Kerl gewesen?
Ich ballte die Hände zu Fäusten und versuchte den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich auf einmal das Bedürfnis in Tränen auszubrechen. Im Regen würde es ohnehin niemandem auffallen. Aber ich schämte mich vor mir selbst und so unterlies ich es, diesem Bedürfnis nachzukommen und biss mir auf die Unterlippe, während ich an den üppigen Backsteinhäuser vorbeistürmte. Diese waren eine der Touristenattraktionen. Eine Kultur unseres süßen Städtchens Chestertown. Auf mich wirkten sie ziemlich trostlos. Manchmal kam es mir so vor, als ob ich immer und immer wieder nur im Kreis lief, als würde ich gehen und nicht von der Stelle kommen wie das in Albträumen üblich ist. Alle sahen sie gleich aus. Tragischerweise lebte ich in einem dieser Häuser.
Ich konnte von Glück reden, dass auf der gegenüberliegenden Straße mich nicht ein weiteres Backsteinhaus frech anlächelte, sondern stattdessen eine bemerkenswert schöne Reihe von Fliederbäumen die Straße zierte.


Zuhause angekommen, hatte ich mich wieder einigermaßen in den Griff bekommen. Meine Wut war der Verwirrung gewichen, was nicht wirklich eine Besserung war. Nun biss an mir die Neugierde. Hatte ihm die Kette viel bedeutet? War sie sehr wertvoll? Von wem beziehungsweise ‚für‘ wen war sie? Seine eigene wohl kaum. Und warum interessierte mich das überhaupt?
Im Korridor schmiss ich die Tüte achtlos neben eine Kommode und wollte fast ohne weiteres in mein Zimmer stampfen. Dann jedoch hielt ich inne, als mein Blick auf das mit Metallrosen umrahmte Bild, welches oberhalb der Kommode hing, fiel. Ich lächelte verzückt und stellte mich vor das Bild. Es zeigte eine wunderhübsche Frau mit schwarzen kinnlangen Haaren, die stachelig in alle Richtungen standen. Ihre haselnussbraunen Augen waren von dichten schwarzen Wimpern umrahmt und sahen mir freundlich direkt in die Iris. Die leicht glänzenden Lippen wurden von einem bezaubernden Lächeln umspielt.
„Verzeihung – Hallo, Mom.“, murmelte ich, küsste meine Fingerspitze und drückte sie meiner Mutter auf die Lippen.
Meine Mutter starb vor vier Jahren. Ohne jegliche Vorwarnung war sie in der Woche vor meinem 14. Geburtstag eines Nachts unauffindbar verschwunden. Passanten zogen sie am Tag meines Wiegenfestes tot aus dem Chesapeake Bay. Seitdem feierten mein Dad und ich weder meinen noch seinen Ehrentag. Den angeblich schönsten Tag des Jahres, den Andere in Discotheken oder ähnlichem verbrachten, verbrachte ich auf dem Friedhof.


Ich seufzte tief über diese neuerlich bittere Tatsache, strich mit den Fingern über das Glas vor dem Gesicht meiner Mutter und begab mich in die Küche.
Am Esstisch saß mein Dad mit einem Wirrwarr von weißen und vergilbten Blättern vor sich.
„Irgendwo hier muss sie doch sein…“, murmelte er nachdenklich und kaute auf dem Zahnstocher in seinem Mund herum.
Die Luft roch noch nach vertrockneten Gewürzen von den Bratkartoffeln, die sich mein Vater vor wenigen Minuten wohl gegönnt haben musste.
Als ich ein Blick in seine Richtung warf und gerade zu einem Hallo ansetzten wollte, knallte er mit der geballten Faust und scheinbar mit aller Kraft gefrustet auf die hölzerne Tischplatte. Ich zuckte erschrocken zusammen und verschluckte meine dürftige Begrüßung wieder.
Mein Vater fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelbraune Haar, dessen Ansatz inzwischen wieder grau zu werden drohte.
Ich stand noch immer im Türrahmen, als ich mich räusperte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er sah mich mit unendlich müden Augen, unter denen sich leichte Falten abzeichneten, an und atmete schwer aus.


„Du solltest mehr schlafen, Dad.“, kommentierte ich sein Abbild und verschränkte die Arme vor der Brust.
Anstatt mich der Höflichkeit halber zunächst zu begrüßen oder auf meine Bemerkung einzugehen, machte er mir seiner Verärgerung sofort Luft.
„Entweder werde ich langsam alt und nähere mich dem Alzheimer oder aber meine Kollegen sind zu blöd, wichtige Unterlagen am richtigen Ort zu verstauen. Nämlich auf meinen Schreibtisch! Seit 4 Tagen such ich nun nach dieser verdammten Gabriella McGurdian!“ Er versuchte die verstreuten Blätter wieder einigermaßen aufeinander zu schieben und prägte dabei einige davon mit Knicken an den Ecken, aber das schien ihn nicht zu kümmern. „Was glaubst du, würde es für einen Skandal in der Stadt geben? Oh Gott, ich sehe die Schlagzeile schon vor mir. ‚Kant and Queen Anne‘s Hospital verschlampt private Unterlagen‘.“
Wie ein Grundschüler, der in aller Eile seine Hefte in die Tasche packt, um den Bus nicht zu verpassen, stopfte mein Vater die losen Blätter in seine Aktentasche und erhob sich vom Stuhl.
Als er auf mich zukam und meinen überforderten Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte er tief und machte vor mir Halt.
„Tut mir Leid, Eveline, Schätzchen. Aber als Chefarzt hat man es eben nicht immer leicht. Entschuldige bitte, dass du das immer zu spüren bekommst.“
Er legte sanft seine große, raue Hand an meine Wange und versuchte sich an einem Lächeln.
„Schon in Ordnung.“, sagte ich und erwiderte sein Lächeln, wobei es bei mir um einiges gekonnter aussah.
„Du weißt, wenn du-“, begann er, aber ich unterbrach ihn.
„Ja, wenn ich Unterlagen von Gabriella McGurdian finde, bringe ich sie dir.“
Er lächelte, aber diesmal ohne es erzwingen zu müssen.
„Ein Anruf tut’s auch!“
Mit diesen Worten nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und verließ den Raum, seine Aktentasche hatte er sich bereits unter den Arm geklemmt.
Wenig später hörte ich die Haustür ins Schloss fallen und war allein. Allein wie ich es inzwischen schon gewohnt war.


Seit dem Tod meiner Mutter stürzte sich mein Vater regelrecht in seine Arbeit. Stetig ließ er sich zu Überstunden einschreiben und kam manchmal volle 24 Stunden nicht nach Hause.
Es kam mir ab und an so vor, als würde er vor mir fliehen wollen und nicht vor dem Schmerz des Verlustes meiner Mutter. Aber auch mit diesem Gedanken hatte ich mich inzwischen abgefunden. Mein Vater hatte mir schon mehrmals beteuert, dass ich aussehe wie meine Mutter, als er sie kennen lernte. Vielleicht floh er vor dem Schmerz, ständig in das Gesicht einer toten Frau blicken zu müssen? Ich wusste es nicht und würde wahrscheinlich sowieso nie aus meinem Witwer schlau werden. Fragen wollte ich ihn nicht. Ich bekam es genauso wenig zustande ohne zittrige Stimme über meine Mom zu reden wie mein Vater. Obwohl es inzwischen einige Jahre her war, befand ich es noch als unmoralisch auf diesem Thema herumzureiten. Außerdem machte es mir Angst, dass die Tränendrüsen wohl doch austrocknen konnten. Also forderte ich sie schon gar nicht mehr heraus, indem ich einfach nicht mehr von ihr sprach oder groß über sie nachdachte.
Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich gar nicht vorstellen, welcher Schmerz an einem nagt, wenn man den wichtigsten Menschen in seinem Leben ohne Abschied verliert.
Es war als wäre mit meiner Mutter auch ein wichtiger Bestandteil meines Charakters verloren gegangen – meine Stärke, mein Selbstbewusstsein.
Damals war es immer sie gewesen, die mir Mut zusprach, die meinte, dass jeder wegen einer bestimmten Mission auf der Erde war. War es ihre Mission gewesen im zarten Alter von zweiunddreißig im Chesapeake Bay zu ertrinken?
Ich warf einen Blick zurück in den Korridor, indem das Bild meiner Mutter hing und schluckte schweren Herzens.


Am Abend rief mich völlig außer Sinne Kylie an und störte mich beim Verfolgen meiner Lieblingsserie.
Kylie hatte, so konnte man meinen, wirklich eine Talent dafür, im unpassendsten Moment ihrer Stimmung Kund zu tun. Sie erzählte von der unheimlichen Tragik, dass ihre Lieblingserie, die praktischerweise auch immer um diese Uhrzeit gelaufen war und ich somit ungestört die meine sehen konnte, bis zur nächsten Staffel nicht mehr kommen würde und sie somit beinah ein ganzes Halbjahr auf Chace Crawford verzichten müsse.
„Aber Phelim hat doch eigentlich auch eine bedeutende Ähnlichkeit mit ihm. Findest du nicht auch? Sie haben die gleichen Augen…“, plapperte sie nach einer kurzen, wirklich sehr kurzen, Überlegungspause weiter und verfiel in ihr übliches Geschmachte.
„Kylie, ich hab Besseres zutun als in den Augen eines Proleten zu verfallen.“, meinte ich unbeeindruckt und schüttelte genervt den Kopf.
„Wusstest du, dass er einen Bruder hat? Der ist mir noch nie aufgefallen…“, plapperte sie weiter, ohne auf meinen genervten Unterton einzugehen. „Aber kein Wunder. Er scheint ein ziemlich ruhiger Typ zu sein, den kann man unter mehr als Tausend Schülern schon mal übersehen.“
„Ja, Kylie. Aber weißt du, die Staffel meiner Serie ist noch nicht vorbei. Außerdem ist mir es egal, ob Phelim einen Bruder hat.“, meinte ich, jenseits aller Höflichkeit und beobachtete, wie der Hauptdarsteller im Bildschirm gerade seine Tabletten hinter einem Buchhalter verstaute, die Kamera ganz nah an sein Gesicht zoomte und seine lilafarben umränderte Augen zeigte.
Am anderen Ende der Leitung ertönte beinahe zeitgleich ein eingeschnapptes Schnauben.
„Na gut. Dann sehen wir uns morgen. Bis dann.“, und die Verbindung wurde unterbrochen.


So viel mal für den Anfang :) Bitte postet hier nichts dazu, sondern teilt mir eure Meinung immer in dem Thread hier mit: http://board.world-of-hentai.to/f211/blutfedern-maailma-lunastaja-125666/#post1382545
Danke! :tralalalala:


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Kapitel 2 - Die, mit den Lauschern an der Wand

„Guten Morgen, Lin!“, vor meiner Haustür stand Kylie und strahlte mich an als hätte ich ihr ein Geschenk gemacht und nicht so wie man es um diese Uhrzeit von gewöhnlichen Menschen erwartet hätte.
„Morgen“, brummte ich mit bedeutend weniger Inbrunst und ließ sie eintreten. „Du bist früh dran.“
„Und du spät.“, bemerkte Kylie. Sie hob eine Augenbraue und begutachtete mich vom Haaransatz über mein gelbes Mickey-Maus-Shirt, dass ich schon seit meinem 12. Geburtstag besaß, bis hin zu meinen noch nackten Füßen. Ich lächelte sie wortlos an und versuchte das Blut, das sich in meinem Kopf stauen wollte, zu vertreiben.
„Ich weiß. Und deswegen geh ich jetzt nach oben und zieh mich mal um.“, murmelte ich und ließ Kylie im Korridor stehen.


„Sind das die Bücher aus der Bibliothek?“, fragte Kylie, als ich nach einer Weile wieder nach unten kam und sie am Küchentisch sitzend fand. Auf der Tischplatte lag die weiße Tüte, die sie wohl hier rein geschleppt hatte. Kylie sah mich nicht an während sie sprach und blätterte stattdessen eines der Bücher durch. Ihr skeptischer Gesichtsausdruck entging mir nicht.
„Die sehen aus als hätten sie eine Begegnung mit der Waschmaschine gemacht.“, flocht sie ein und deutete auf das verfilzte Buch, welches sich leicht gebogen hatte, in ihrer Hand.
„Ein Unfall.“, sagte ich Schulter zuckend und begab mich zum Kühlschrank, um mir eine Schüssel Cornflakes zu machen. Ich hatte ganz vergessen zu fragen, wie der Typ von gestern eigentlich hieß – Immerhin war er mir etwas für die Bücher schuldig!
„Ein Unfall?“, widerholte sie ungläubig. „Du hast die Tüte in die Waschmaschine gesteckt?“ Ihre Stimme klang jetzt so als würde sie grinsen.
Und das tat sie auch, als ich mich zu ihr umdrehte. Ich wusste, dass ihr sehr wohl klar war, dass ich das so nicht gemeint hatte, aber Kylie versuchte sich gelegentlich vergebens als Komikerin.
Ich schob die Augenbrauen zusammen und kicherte mein ‚Du bist unmöglich‘-Kichern.
„Ja, natürlich habe ich das. Ich dachte, so würden die vergilbten Blätter vielleicht wieder weiß werden.“, sagte ich sarkastisch und stellte mein inzwischen angerichtetes Müsli auf den Tisch, ehe ich mich Kylie gegenüber setzte. Diese kicherte leise und verstaute die Bücher wieder in der Tüte.
„Waren die von Anfang an so?“, fragte sie, als ich mir den ersten Löffel in den Mund geschoben hatte und ihn in der Schüssel drehte während ich kaute.
Seufzend ließ ich den Löffel los und antwortete widerwillig. „Nein. Irgend so ein Idiot ist gegen mich geprallt. Dabei ist mir die Tüte aus den Händen gefallen, die Bücher sind rausgerutscht und es hat geregnet.“ Ich zuckte die Schultern und nahm das Rühren meiner Cornflakes wieder auf. „Er hat sie beschädigt.“
„Er?“, fragte Kylie und es klang so als wollte sie einen bestimmten Namen hörn.
„Kylie, ich hab keine Ahnung, wie der Typ heißt. Was mich ziemlich verärgert“, ich schob mir einen weitern Löffel in den Mund, ehe ich Kylie ansah.
Kylies Augen weiteten sich und auf ihrem Gesicht breitete sich ein verschwörerisches Lächeln aus. Ich wusste, dass sie momentan einen ganz anderen Grund im Sinn hatte, warum mich die Tatsache, dass ich seinen Namen nicht kannte, so störte.
„Was?! Er muss mir die Bücher ersetzen!“, erklärte ich schmatzend und trank den Rest des Müslis aus der Schüssel heraus, obwohl noch einige Cornflakes in der Milch schwammen.
„Die Bücher ersetzen. Natürlich.“, sagte Kylie sarkastisch, schürzte die Lippen und nickte. Genervt stöhnte ich und stand auf.
„Ja, genau! Komm wir müssen los.“, erinnerte ich sie, legte meine Schüssel in die Spüle und ließ Wasser hinein laufen.


„Wie sah der Typ denn aus?“, fragte Kylie nachdenklich, als wir wenig später in meinem Wagen, einem sportlichen weißen Alpha Romeo, saßen.
„Keine Ahnung. Hab ihn mir nicht so genau angeguckt.“, log ich munter, obwohl ich sein Gesicht genau vor Augen hatte. Vor allem diese Augen, die mich zwar so erbost fixiert hatten, aber dennoch eine tiefgründige Schönheit besaßen.
Ich achtete nicht auf Kylies misstrauisches ‚Mhm‘ und tat so als müsse ich mich voll und ganz auf die Straße konzentrieren.
„Aber ich sag dir. Dieser Kerl war sowas von unhöflich!“, redete ich schnell weiter, weil ich wusste, dass Kylie wahrscheinlich gerade an anderen Hirngespinsten arbeitete, „ Ihm war auch etwas aus den Händen gefallen und als ich ihm helfen wollte, es einzusammeln, hat der nur ‚Verschwinde‘ gebrummt.“, erzählte ich zu Ende und versuchte seinen feindseligen Ton zu interpretieren. Dass ich dieses ‚Etwas‘ auch noch kaputt gemacht hatte, verschwieg ich ihr lieber.
Kylie blieb stumm. Als ich nach einer Weile vorsichtshalber zu ihr rüber linste– sie könnte ja in Ohnmacht gefallen sein oder sowas, denn ‚still sein‘ passte so gar nicht zu ihr – sah sie gedankenverloren aus dem Seitenfenster. Ich kam gerade an dem Gedanken an, dass sie die Bäume, an denen wir vorbeibrausten, zählen könnte, als sie mich triumphierend lächelnd ansah.
„Der mysteriöse Unbekannte.“, sagte sie schlicht und nickte sich selbst zustimmend.
Ich stöhnte. Kylies Mutter war Astrologin und daher durfte ich mir beinahe wöchentlich das Horoskop des Zwillings anhören. Sie ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven damit, vor allem wenn sie anfing zu spekulieren, was genau mich erwarten würde.
‚Ein sehr enger Freund will Ihnen näher sein als Ihnen lieb ist‘ hieß es vor zwei oder drei Monaten und seither beobachtete sie die Mimik und Gestik von Tyler mir gegenüber mit doppelter Aufmerksamkeit. Tyler war seit Ende des 2. Jahres auf der Middle School mein Ex-Freund und damals mein erster Freund. Naja, wenn man das überhaupt ‚Freund‘ nennen gekonnt hatte. Er war damals eben der erste Junge, mit dem ich mich super verstanden hatte. Und als es dann hieß, wir wären verliebt und zusammen – ohne auch nur einmal darüber gesprochen oder gar nachgedacht zu haben – hatten wir bis es wieder vorbei war, kein Wort miteinander gewechselt. Inzwischen waren wir im 3. Jahr der High School und Tyler der beste Freund, den man sich neben Kylie vorstellen konnte. Und nicht mehr. Aber das meiner hoffnungslos romantischen Freundin klar zu machen, war ungefähr so erfolgreich wie einen Löwen zu einer Reisdiät zu überreden.
Auch in dieser Woche blieb ich von Kylies astrologischen Berichten nicht verschont.
„Ihnen steht eine Begegnung mit einem mysteriösen, charmanten Jüngling bevor.“, wiederholte Kylie den Satz aus meinem Horoskop, den ich erst vor wenigen Tagen gehört hatte.
„Charmant!“, rief ich belustigt und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sag mal, Kylie Blaige, hast du mir nicht zugehört? Der Typ war alles, aber sicher nicht charmant!“
Kylie kicherte unbeirrt. „Du kennst ihn doch gar nicht! Vielleicht hatte er es eilig und du hast ihn mit deiner Knallaktion verärgert.“
Wohl eher mit meiner Trampelaktion, dachte ich bitter und bis mir auf die Oberlippe, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen.
„Unsinn.“, sagte ich stattdessen, „Ist ja auch egal. Dem werden wir eh nie wieder begegnen. Hast du die Tüte eigentlich mitgenohm‘?“
Eigentlich hatte ich diese Frage nur gestellt, um von unserem jetzigen Thema abzulenken. Zu erwarten war jedoch nicht, dass dieses Frage mit einem kleinlauten, schuldbewussten ‚Nein‘ beantwortet wurde.
Wir hatten über die Hälfte der Strecke schon hinter uns gebracht, aber das war jetzt unbedeutend. Uns blieb nichts anderes übrig als wieder zu mir nach Hause zu fahren und die Bücher zu holen. Und das, obwohl wir ohnehin schon spät dran waren.


Kylie und ich kamen natürlich zu spät zu unserer ersten Stunde. Ich war noch nie so dankbar, dass wir so ziemlich die gleichen Kurse belegt hatten. Denn jetzt würde ich nicht die einzige sein, die sich unserem bösartigen Coach Woober, der außerdem unser Mathelehrer war, stellen musste.
Trotz allem Ärger, den wir bekommen würden, schien es Kylie einfach nicht eilig zu haben. Sie wollte doch tatsächlich vor der Damentoilette haltmachen, um ihr Make-up aufzufrischen. Ich glaubte, ich traue meinen Ohren nicht!
„Kylie. Dafür haben wir jetzt um Himmelswillen wirklich keine Zeit!“, schimpfte ich. „Ich für meinen Teil möchte nicht nachsitzen.“
Doch sie blieb stur. „Doch! Wenn du mich nicht so durch die Flure hetzen würdest, wäre mein Make-up nicht verflossen! Außerdem geht Phelim Wadim auch auf diese Schule, falls du das vergessen hast!“, meinte sie und es klang fast verzweifelt. Sie war schlimm geworden. Seitdem sie vor einem Jahr einer der Jungs kaltblütig abserviert hatte, legte sie exorbitant viel Wert auf ihr Aussehen. Als ob es damals nur daran lag und nicht an der Tatsache, dass ihr Auserwählter bereits vergeben war.
Ich stöhnte genervt und ergab mich. Kylie lächelte selig und verschwand in der Damentoilette. Ich war wahrscheinlich auch gerade auf der Damentoilette gewesen, als Gott das Durchsetzungsvermögen verteilte.


Seufzend lehnte ich mich an die gelb verputzte Wand, ließ meine Tasche achtlos neben mir auf den Boden fallen und sah mich resigniert im leeren Korridor um. Ich sog scharf die Luft ein, als ‚er‘ unerwartet aus einem der Seitenkorridore geschlendert kam.
Zuerst schien er mich gar nicht zu sehen und lief unbeirrt direkt auf mich zu. Er hatte seinen Blick auf das hässlich ergraute Laminat unter seinen Füßen gerichtet. Die Tasche, die ihm um die Schultern hing, prallte beim Gehen stetig von seinem Oberschenkel ab. Seine Daumen hatte er lässig in die Gürtelriemen seiner schwarzen Hose geschoben und seine rostbraunen Haare sahen aus, als habe er sie heute noch nicht gekämmt, aber es passte zu ihm wie zu keinem anderen.
Erst als er über den Daumen gepeilt zehn Meter von mir entfernt war, sah er auf.
Sein Gesicht strahlte nicht den erwarteten Zorn aus, eher eine arrogante Gleichgültigkeit, als er mich entdeckte. Für einen Moment war ich noch ganz perplex. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dem Typen hier zu begegnen, geschweige denn ihm überhaupt nochmal entgegen treten zu müssen.
Ihm schien es ganz anders zu ergehen. Er sah mich an als hätte er genau gewusst, dass er mich hier antreffen würde und ich meinte, dass sein Weg genau in meine Richtung einschlug. Als er dann auch noch stehen blieb und den Mund aufmachen wollte, schnappte ich hastig meine Tasche vom Boden und rannte ohne ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen den Flur entlang.
Es war total kindisch, das wusste ich, aber es war genau das, was meine Intuition mir als Erstes riet.
Außerdem hatte ich ohnehin überhaupt keine Ahnung, was ich auf seine Beschuldigungen antworten sollte. Ich wusste, dass er mir Vorwürfe machen wollte, was sollte er sonst von einem zotteligen Mädchen wollen, das darüber hinaus auch ein Talent für Tollpatschigkeit besaß?
Dass jede einzelne Perle seiner Kette mehr wert hatte als all die Bücher zusammen, war klarer als Hokkaidos Mashu-See*.
Also war es die deutlich kleinere Blamage, einfach abzuhauen als außer Stande etwas zu sagen vor ihm zu stehen und Däumchen zu drehen. Und meine Schuld eingestehen wollte ich schon dreimal nicht!


Zwar völlig außer Atem, aber in Rekordzeit erreichte ich die Tür zum Mathematikkurs. Es war noch eine Minute, um zu verschnaufen, nötig, bevor ich ins Klassenzimmer eintreten konnte. Mist, verdammter. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Kylie den Teil mit der Entschuldigung zu überlassen. Dank meiner überstürzten Fluchtaktion durfte ich diese Hürde nun selbst bewältigen. Das ganze wäre ja alles nicht so tragisch, wenn es nicht Coach Woober wäre, den ich um Verzeihung bitten musste. Er war so ziemlich der strengste Lehrer der gesamten Chestertown High und kannte keine Gnade, was Pünktlichkeit betraf. „Wenn du zu einem Spiel nicht rechtzeitig erscheinst, scheidest du automatisch aus!“, sagte er immer. Dass es sich hierbei aber um Unterricht und Belehrung handelte und nicht um irgendeinen athletischen Wettbewerb, schien ihn keineswegs zu kümmern.
Ich holte noch einmal tief Luft, ehe ich anklopfte und ins Rauminnere schlüpfte.


„Miss Travis!“, rief Coach Woober in fadenscheiniger Freude. „Das wir Sie hier heute auch noch begrüßen dürfen.“
Ich unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und sagte stattdessen: „Ja. Tut mir Leid, Sir. Aber wir hatten etwas Wichtiges vergessen und mussten nochmal umdrehen.“
„Wir?“, hakte er nach und versuchte an mir vorbei in den Flur zu linsen.
„Ja, wir.“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Überrascht drehte ich mich um. Hinter mir stand – wer sollte es auch anderes sein – der Typ von eben mit Kylie im Schlepptau.
Fassungslos starrte ich erst in sein, dann in das begeistert grinsende Gesicht von meiner besten Freundin, die sich an seinen Arm gehangen hatte. Verräterin.
„Und Sie sind wer?“, fragte Coach Woober und hob eine Augenbraue.
Er räusperte sich, ehe er ihm antwortete. „Ich bin Jeldrik Wadim, Sir. Ich stehe seit letzter Woche ebenfalls auf ihrer Liste.“
Wadim. Ach du Schande. Das auch noch! Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir, eindeutig. Da hatte ich mich doch tatsächlich mit dem Bruder des begehrtesten Schülers unserer High-School angelegt.
Phelim und Jeldrik Wadim waren vor ein paar Wochen nach Chestertown gezogen und seither war Phelim der unangefochten erfolgreichste Charmeur der Chestertown High. Dass er bisher mehreren Mädchen reihenweise das Herz gebrochen hatte und es mit keiner länger als eine Woche aushielt, störte jedoch niemanden. Wie auch leider Kylie nicht.
„Ach ja! Sicher, Sie kommen aus dem Kurs der Sophomores*, nicht wahr?“, meinte der Coach, nachdem er seinen Namen auf seiner Liste entdeckt hatte und deutete auf einen der freien Plätze.
Jeldrik drängte sich an mir vorbei und beschlagnahmte den Platz, der eigentlich bisher immer meiner gewesen war. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Ich drehte mich verärgert zu Kylie um, diese aber zuckte nur bedauernd die Schultern und steuerte ihren gewöhnlichen Platz neben Jeldrik an. Dass sie dabei selig grinste, entging mir nicht.
Verräterin, Verräterin, Verräterin!
„Ah, ähm. Die Damen.“, hielt uns Coach Woober noch auf. „Hier sind Ihre Klausuren.“
Coach Woober blieb an seinem Pult sitzen und hob uns zwei Blätter entgegen.
Als ich ihm meine abnahm, fügte er, sodass nur ich hin verstehen konnte, hinzu: „Die sehen aber nicht sehr rosig aus.“ Und bedachte mich mit einem mahnenden Blick.
Ich erwiderte nichts darauf und ging ohne auf meine Note zu sehen zu dem einzig freien Platz. Der, der ganz hinten im Eck war und man den Lehrer nur noch mit Mühe verstehen konnte. Ich seufzte verärgert und erdolchte Jeldrik gedanklich und Kylie gleich dazu.
Ich wusste es, dass die Klausur den Bach runter gegangen war, bereits, als ich sie noch nicht einmal geschrieben hatte. Binomische Formeln waren noch nie so mein Ding gewesen. Schon gar nicht, wenn man auch noch darauf aufbauen sollte, wenn man noch nicht einmal die Grundkenntnisse begriffen hatte. Eigentlich war es unnötig die konkrete Note wissen zu wollen. Schlecht war sie ohnehin. Aber meine menschliche Neugierde war wie so oft nicht zu ignorieren und ich warf Widerwillen doch einen Blick auf meine Note.
Ein fettes, rotes F. Ungenügend. Na, diese Arbeit bekam mein Dad wohl besser nicht zu Gesicht.
Murrend stopfte ich die Klausur in meine Tasche und sah zu meinem einzigen Tischnachbarn. Es war ein blonder, blasser Junge, der noch von Akne geplagt war. Aber das schien ihn genauso wenig zu stören, wie das fette F, das ich auch auf seiner Klausur fand. Während Coach Woober mit uns die Matheklausur durchging in der Hoffnung, dass wir es schlussendlich doch noch Dreh raus haben könnten, spielte der Junge seelenruhig Playstation Portable. Wenn er seine Konzentration auf den Unterricht und nicht auf dieses ovale Gerät beziehen würde, könnte er mit Sicherheit auch auf ein C kommen. Aber wie gehabt, es schien ihn nicht zu kümmern.
Seufzend wandte ich mich von ihm ab und versuchte dem Unterricht zu folgen, wenngleich ich den Stoff einzig und allein akustisch verstand.


Obwohl ich eine gute viertel Stunde zu spät zum Unterricht kam, wollte diese Stunde einfach kein Ende nehmen. Sie zog sich und zog sich. Zeitweilen spielte ich sogar mit dem Gedanken meine Nagelfeile auszupacken – meine Finger hatten mal wieder dringend eine ordentliche Pediküre nötig – aber ich verwarf ihn wieder, als Coach Woober die Playstation Portable des Jungen neben mit entdeckt hatte und sie diesem wegnahm.
Es grenzte beinah an eine Wunder, dass ich nach einer Weile vergaß auf die Uhr zu sehen und der Unterricht dann doch schnell ein Ende fand. Mir kam die Schulglocke vor wie die Klingel des Christkindes, die meine Mom damals immer zu Weihnachten läutete, wenn ich zum Geschenke auspacken kommen gedurft hatte. Genau so eilig hatte ich es jetzt aus dem stickigen Klassenzimmer zu kommen, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass mich draußen keine Geschenke erwarten würden.
Kylie wartete an der Tür auf mich und strahlte als habe man sie gerade zur Schönheitskönigin gekürt.


„Warten Sie einen Moment, Mr. Wadim.“, sagte der Coach, als ich gerade bei Kylie ankam. Ohne jegliche Vorwarnung packte Kylie mich energisch am Arm und zog mich vor die Tür. Dann stellte sie sich neben diese und versuchte zu lauschen.
„Kylie.“, zischte ich mahnend.
„Pscht!“, machte sie und gestikulierte mit ihrer linken Hand, was mir wahrscheinlich zu verstehen geben sollte, dass ich zu schweigen hatte.
Ich schnaubte wütend und war schon im Begriff mich von der Tür zu entfernen, als mich ein Gedanke durchzuckte. Vielleicht hatte Jeldrik ja genauso eine Matheschwäche wie ich? Das würde mich zwar auch nicht weiter bringen, aber immerhin mit Sicherheit meinem Ego Vergnügen bereiten. Ohne weitere Umschweifen stellte ich mich neben Kylie, die gerade den letzten Schüler aus der Tür treten ließ, und lauschte.
„Sie haben sich ziemlich schnell eingewöhnt, Mr. Wadim. Ihre Noten sind überraschend gut.“, bekam ich leider Gottes das Gegenteil meiner Hoffnung zu hören. Ich widerstand dem Drang, verärgert wie ein Kleinkind mit dem Fuß aufzustampfen und hörte dennoch gespannt zu, was Coach Woober noch zu sagen hatte.
„Ich wünschte, ich könnte dies auch von einigen anderen Schülern behaupten.“ Er seufzte. „Ich weiß, Sie sind noch nicht lange hier und ich weiß ja nicht, wie es in den anderen Fächern bei Ihnen steht, aber meinen Sie, Sie könnten Zeit finden einer meiner Schülerinnen Nachhilfeunterricht zu geben? Ich möchte wenigstens ein paar meiner Schüler die Kurse in den Sommerferien erspar’n.“
Für einen Moment war es still. Aber dass Mr. Woober schließlich freudig weiter sprach, ließ mich darauf schließen, dass Jeldrik wohl stumm nickend zugestimmt haben musste.
„Wunderbar! Ich selbst bin noch nicht dazu gekommen mit ihr zu sprechen. Wie wär’s wenn sie direkt mal zu ihr hin gehen und ihr Bescheid geben?“
„Natürlich.“, hörte ich zum zweiten Mal an diesem Tag seine angespannte, aber auf eine gewisse Weise angenehme Stimme. Bei ihrem Klang setzte mein Herz kaum merklich einen Augenblick aus.
„Klasse! Sicher ist sie in der Pause in der Cafeteria. Ihr Name ist Eveline Travis.“


„Was?!“, platze es erschrocken aus mir heraus und zog ein Echo mit sich.
Impulsiv, wie ich war, hatte ich die Tür aufgerissen und stand, ehe ich mich versah, auf deren andere Seite. Es dauerte seine Zeit bis ich kapierte, dass das Echo, welches in meiner Stimme mitschwang, nicht ‚mein’ Echo war, sondern lediglich Kylies ebenso entsetztes ‚Was’. Im Gegensatz zu mir, war Kylie jedoch dort stehen geblieben, wo sie war.
Coach Woober sah nun verwirrt und Jeldrik mit hochgezogener Augenbraue das zierliche Mädchen mit den schwarz gelockten Haaren im Türrahmen an.
Ebenso schnell, wie meine Überschwänglichkeit gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Völlig perplex, als wüsste ich selbst nicht wie ich hierher gelangt war, repräsentierte ich mich nun den beiden argwöhnischen Augenpaaren. Ich schluckte und merkte, wie mein Gesicht langsam wärmer wurde.
„Ich… äh…“, stotterte ich und brach sofort wieder ab, weil mir selbst nicht ganz klar war, was ich eigentlich sagen wollte. Mich rauszureden war sowieso zwecklos. Ich war eine miserable Lügnerin und Coach Woober kannte mich lange genug, um das zu wissen.
„Gerade haben wir über dich gesprochen.“, sagte der Coach mit vor Spott triefender Stimme, als habe ich das nicht schon längst gewusst. Mir schoss noch mehr Hitze in die Wangen und ich war mir sicher, dass man das inzwischen auch sehen konnte.
Ich war vor Scham sogar so verzweifelt, dass ich geringzeitig mit dem Gedanken spielte, eine Ohnmacht zu imitieren. Aber dass man mir meine Schauspielerei ebenso wenig abkaufen würde, wie meine Lügen, kam mir gerade noch rechtzeitig in den Sinn, bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzten konnte.
„Zufälle gibt’s.“, fügte Jeldrik Coach Woobers Worten zynisch hinzu und bedachte mich mit einem mokanten Grinsen.


Und das war genau das, was ich gebraucht hatte. Mein kompromittiertes Gefühl wich augenblicklich der Wut und ich schlug hart die Zähne aufeinander.
Diffizil ignorierte ich, dass ich mich gerade komplett zum Affen gemacht hatte und ging auf Coach Woobers Bemerkung ein als wäre sie ein ernst gemeinter Satz gewesen.
„Ja, ich weiß. Aber Coach, das geht nicht.“, jammerte ich, obgleich mir bewusst war, dass es ohnehin überflüssig war. Jeldrik war mein letzter Tropfen Wasser in der Wüste. Meine einzige Möglichkeit, dem zusätzlichen Mathekurs zu entgehen.
Coach Woober zog beide Augenbrauen gen Himmel. Wobei es eine auch getan hätte. „So?“, sagte er keck und zog das „O“ in die Länge. „Und warum nicht?“
Flehend sah ich zu Jeldrik hinüber, der inzwischen lässig am Lehrerpult lehnte und unsere dürftige Kommunikation stumm verfolgte. Auf eine Reaktion seinerseits in Folge meines auffordernden Blickes, hätte ich bis zur nächsten Sonnenfinsternis warten können. „Der Lauscher an der Wand, hört seine eig’ne Schand’“, kam es mir in den Sinn.
„Weil… weil ich bereits einen Nachhilfelehrer habe!“, schoss es aus mir heraus, ohne dass ich groß darüber nachdachte. Ich war selbst überrascht wie glaubwürdig ernst ich diese Lüge zu Tage gebracht haben konnte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Coach Woobers skeptischer Blick nachdenklich wurde.
„Aha.“, meinte er und runzelte die Stirn, ehe er sich an Jeldrik wandte. „Dann hat sich die Sache wohl erledigt, Mr. Wadim. Aber Danke für ihre Bereitschaft.“
Der Coach nahm seine wuchtige Aktentasche vom Pult und verlies den Raum.
Ich hörte nur noch ein ersticktes „Huch“ kurz bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er war wohl der indiskreten Kylie in die Arme gelaufen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie jedes kleine Wort, das hier fiel, sensationslüstern mitverfolgt hatte.
Es tat mir fast Leid, dass sie das Interessanteste, dank ihrer Karambolage mit dem Coach, nun verpassen würde. Aber eben nur fast.


„Entschuldige.“, brach Jeldrik die Stille im Raum und sah mich unter seinem transparenten Vorhang, der ihm von der Stirn fiel, hindurch fragend an. Auch mir stand ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Hatte ich da gerade richtig gehört? ‚Er‘ bat ‚mich‘ um Verzeihung?
„Wo..Wofür?“, fragte ich ungläubig und kräuselte die Stirn. Jeldrik schluckte schwer und stieß sich vom Pult ab bevor er mir antwortete.
„Ich war gestern ziemlich unhöflich zu dir. Das tut mir Leid.“
Ich war fassungslos. Und allein deshalb brachte ich dann auch folgende Worte über die Lippen: „Nein, du… Ich meine, reine Unhöflichkeit ist leichter zu vergeben. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders reagiert. Tut mir Leid wegen der Kette.“ Ich lieferte doch tatsächlich ein Eigengeständnis ab. Bisher war mir nicht mal selbst bewusst gewesen, dass es mir wahrhaftig Leid tat.
Jeldrik lächelte mich müde an und fuhr sich durchs Haar, um seine Stirn freizubekommen und lief dann auf und ab.
„Nein. Da wo ich herkomme, haben Umgangsformen mehr wert als materielle Dinge, Eve.“
„Eve?“
Jeldrik hielt in der Bewegung inne und sah mich Stirn runzelnd an.
„Das ist doch dein Name?“
„Ja… Eveline. Genau.“, stammelte ich, „Aber woher weißt du das?“
Jeldriks Stirn glättete sich wieder und er lächelte mich kokett an. °


Aber er kam nicht dazu mir zu antworten, stattdessen zuckte er kurz zusammen. Und keine Millisekunde später stürmte ein goldblondes Mädchen ins Zimmer.
„Oh. Jeldrik. Hallo.“, sagte sie und lächelte ihn übertrieben breit an. Mich begrüßte sie nur mit einem missbilligenden Nicken, als sie mich entdeckte und sprach meinen Namen aus. „Eveline…“
Das Mädchen war niemand geringeres als Christine Warp. Ihre Familie besaß eine Drogeriefirma und man konnte sie als eines der Mädchen bezeichnen, die nur mit den Augen klimpern mussten, um Daddys Porsche zu bekommen. Würde ich in einem amerikanischen Teeniefilm festsitzen, dann würde sie ganz klar Promqueen werden. Aber dem war Gott sei Dank nicht so und sie war einfach nur ein steinreiches Mädchen, das sich einbildete mit ihrem hübschen Gesicht und Daddys Geld alles zu bekommen, was sie wollte. Dass das leider meistens auch der Wahrheit entsprach, verdrängte ich munter.
„Gut, dass ich dich treffe!“, trällerte Christi, warf ihr Haar zurück und legte auf dem dreckigen Laminat einen Catwalk hin, der auch mich zur Katzen werden ließ. Aber zu einer der Katzen, die biestig die Krallen ausfuhr, wenn man sich mit ihr anlegte.
Als wäre ich gar nicht hier, klemmte sie sich an Jeldriks Arm und zog ihn mit sich.
„Ich versteh Mathe überhaupt nicht und Coach Woober hat gemeint, dass ich bei dir Hilfe finde.“, hörte ich sie ihren Satz beenden und ich war allein in dem hallenden Klassenzimmer. Mhm. Mit diesem Problem war sie allerdings nicht allein. Ich seufzte und warf einen Blick auf die Tafel, die vor binomischen Formeln geradezu überquoll.





*Sophomores: Schüler der 10. Jahrgangsstufe in den USA, also der zweiten Klasse an einer High School (Jeldrik hatte in den ersten Wochen auf Grund seines angeblichen Rückstandes wegen dem Schulwechsel zuerst einen niedrigeren Kurs besucht, ehe man ihn in einen seines Alters gerechten Kurs steckte)
*Mashusee: soweit ich weiß, der klarste See der Welt
°Kommentar des Autors: Kurz hatte ich das Bedürfnis Jeldrik ‚Connections, Baby‘ sagen zu lassen :‘D

 
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SayaSayoko

Ungläubiger
Kapitel 3 - Die, mit der Feder

Vorab falls ihr es übersehen habt: das zweite Kapitel wurde meinem ersten Beitrag als Doppelpost hinzugefügt. Nicht das ihr denkt, hier fehlt doch was :P Nun denn, enjoy! :)

***



„Mann, Lin, das ist doch ganz einfach!“
Tyler knallte den Bleistift auf die Tischplatte und raufte sich die Haare. Hey, irgendwen musste ich ja schließlich wegen Mathe fragen, oder? Und einen super Nachhilfelehrer kann man sich nun mal nicht einfach aus dem Ärmel schütteln.
Ich ließ Tyler toben. Es grenzte ohnehin an ein Wunder, dass er sich zum wiederholten Mal zu so einer Herausforderung, wie mir Mathe beizubringen, überreden ließ. Er und ich waren schon öfter aneinander geraten, wenn er zum x-ten Mal versucht hatte, mir irgendwelche Thermen verständlich zu machen.
„Wie oft haben wir schon festgestellt, dass ich als Mathelehrer -“, Tyler lachte abfällig, „nein, DU als Schüler nichts taugst? Warum hast du dem Typen, den dir Coach Woober organisiert hat, nicht einfach zugesagt?“
Er nahm die Hände aus seinem hellblonden Haar und begann die wenigen Stifte, aber dafür umso mehr Blätter in seinen Rucksack zu verstauen.
Ich stöhnte. „Weil ich den Kerl nicht ausstehen kann.“
„Ich fürchte aber, dass wir beide uns auch nicht mehr besonders gut leiden können nach dem hier.“, wetterte er weiter und machte eine Handbewegung, die mich und unseren Küchentisch einbegriff. Seufzend warf ich einen Blick auf das weiße Blättermeer. Trotz all der Mühe, die sich Tyler mit mir gab, waren zich Blätter davon entweder zerknüllt oder über die Hälfte von dem, was draufstand, wieder durch gestrichen worden.


Widerwillig begann ich ihm zu helfen, die Blätter, die noch brauchbar waren, auf einen ordentlichen Stapel zu häufen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich so noch ewig weiter gemacht. Ich hätte Tyler mir heillos oft das Selbe erklären lassen, auch wenn ich wusste, dass es zu nichts führt. Mir war wirklich alles lieber als entgegen meinem Stolz mir Nachhilfe von Jeldrik geben zu lassen. Dass es Tyler versteht, hatte ich von Anfang an nicht erwartet, aber es war frustrierend, dass Kylie es eher als Chance als das ultimativ Dümmste, was einem passieren kann, ansah. „Wenn mir das vorgeschlagen worden wäre, ich hätte dieses Angebot mit Dank angenommen. Du bist manchmal so verklemmt!“, so etwas in der Art durfte ich mir in der letzten Woche unsagbar oft anhören. Wie froh ich war, als Kylie von dem Fußballturnier unserer Schule Wind bekommen hatte und das zum neuen Hauptthema wurde. Naja, vielmehr wurde Phelim wieder zum Hauptthema, da er als Mannschaftskapitän ein Zusatztraining am Nachmittag angesetzt hatte. Tyler hatte mit Sicherheit schon mehr davon verpasst als meine gute Kylie. Einmal hatte Kylie mich mit zu den Tribünen geschleppt, um den Sportlern vor allem aber Phelim beim Schwitzen zu zusehen. Jeldrik war auch dort gewesen, hatte sich aber eher im Hintergrund gehalten, mich jedoch hin und wieder angesehen. Meinte ich mir zumindest einzubilden.
Seit unserer… naja, kleinen Aussprache nach Coach Woobers Unterricht hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen. Zwar lächelten wir uns inzwischen immer wieder an, wenn wir uns auf den Fluren zufällig trafen, aber wirklich zu einer Unterhaltung kam es nie. Was wahrscheinlich auch an der Obhut Christis lag, unter der er jetzt stand. Ich konnte mich nicht erinnern, Jeldrik je ohne Christi gesehen zu haben, nachdem sie ihn scheinbar als ihr nächstes Opfer auserkoren hatte. Mir war es ohnehin schleierhaft, dass sie plötzlich so viel Interesse für Jeldrik aufbrachte.
Meistens traf ihr Beuteschema auf Kerle zu, die besonders beliebt oder begabt waren. Eben solche, um die sie jeder beneiden würde. Aber seither hatten die meisten Jeldrik noch nicht einmal wahrgenommen. Ganz anders seinen Bruder, auf den sich Christi wunderlicherweise nicht stürzte.

„Man sieht sich dann morgen beim Turnier.“, meinte Tyler noch immer etwas mürrisch und schwang sich seine Tasche um die Schultern. Ich beobachtete noch seufzend wie er beinahe fluchtartig meine Küche verließ, ehe ich mich ins Wohnzimmer begab und zum x-ten Mal in Rick Riordans „Percy Jackson: Diebe im Olymp“ las.

***

„Kylie, das ist ja extrem scharf!“, jammerte ich, den Mund voller Nachos, die wohl in Chillidip gebadet hatten. Ohne auf Kylies brüllendes Gelächter zu achten, sprang ich auf und rannte zum nächstbesten Getränkeautomaten. Ich nahm mir nicht die Zeit, mir vorher einen Becher zu besorgen oder die anderen protestierenden Schüler, vor die ich mich drängelte, zu berücksichtigen. Einzig das scharfe Zeug brennend in meinem Mund – und Kopf – habend, hielt ich einfach meinen Mund unter den Wasserspender und ließ die Cola hinein laufen. Um mich herum hörte ich Getuschel und Gekicher, aber das war mir egal, zu groß war die Erleichterung, dass das Brennen in meinem Mund nachließ.
„Macht man das heutzutage so?“, fragte plötzlich eine bekannte tiefe Stimme in mein Gesüffel, das sicher ziemlich bescheuert aussehen musste. Beim Klang seiner Stimme stockte ich und – wie konnte es anders sein – verschluckte mich auch prompt. Hustend und nach Luft ringend richtete ich mich auf und hatte auch wie erwartet Jeldriks breitgrinsendes Gesicht vor mir.
„Vielleicht sind die Becher ausgegangen.“, krächzte ich und hielt mir eine Hand an den Brustkorb, während ich mich an einem mokanten Lächeln versuchte.
„Ich könnte dir einen besorgen, wenn du willst.“, kicherte er, klopfte mir auf die Schulter und griff sich einen der Becher aus der Paillette, die neben dem Getränkeautomaten stand und reichte ihn mir. Das Gekicher um uns herum übernahm die Überhand und ich kam mir langsam ziemlich dämlich vor. Wahrscheinlich hatte ich zu allem Überfluss auch noch einen Tropfen Cola am Kinn hängen, das würde meiner Aktion Nachdruck verleihen. Bei diesem Gedanken fuhr ich mir vorsichtshalber gleich mal mit dem Arm über den Mund.
„Hat dir eigentlich noch keiner gesagt, dass man Schärfe nicht unbedingt mit Kohlensäure zu löschen versuchen sollte?“, kam plötzlich unerwartet die Frage meiner Besten aus der Runde, die sich um uns geschert hatte. Dunkel erinnerte ich mich, dass ich das tatsächlich schon einmal gehört hatte. Ich seufzte, das erklärte wohl auch dieses taube Gefühl meiner Zunge. Noch immer lachend trat Kylie aus der Menge, nahm mir den Becher aus der Hand und füllte ihn mit stillem Wasser, ehe sie ihn mir wieder gab. Kommentarlos trank ich ihren Inhalt und verfluchte innerlich die gesamte Welt. Nun kam ich mir wirklich, wirklich dämlich vor. Richtig bloß gestellt und das auch noch von meiner eigenen Torheit. Ich konnte das Blut, das sich mal wieder unaufhaltsam in meinem Kopf staute, förmlich riechen. Sofort als ich den Becher ausgetrunken hatte, zerdrückte ich ihn und warf ihn einfach auf den Boden, dann drängte ich mich durch die gackernde Menschenmenge. Kylie folgte mir und trug mir praktisch das Gelächter hinterher, auch wenn es nur ihres war. Diese Verräterin.


Wie erleichtert ich war, als wir kurz darauf, die Cafeteria hinter uns gelassen hatten und im Freien vor dem Sportplatz standen. Es war ja beinahe beindruckend wie sie die Umgebung hier draußen aufgerüstet hatten. Die Tribünen hatten sie mit schwarzem, grünem und gelbem Krepppapier dekoriert, das waren die Farben unserer Schule. In der Mitte außerhalb des Feldes, also zwischen zwei fahrbaren Tribünen, wurde eine selbstgeschreinerte Punktanzeigetafel aufgestellt. Auf der anderen Seite war sogar ein Standaufgebaut, wo wir Kunststofffinger und diverse andere Animierungsinstrumente kaufen konnten. Unverschämt. Die Schule fand auch immer Mittel und Wege, den Schülern ihr teilweise mageres Taschengeld abzuknöpfen. Wie zum Beispiel Kylie. Wenige Sekunden später fand ich mich nämlich zusammen mit ihr vor diesem Stand wieder und sie kaufte doch tatsächlich eine dieser unerträglich lauten Rasseln. Na, das konnte ja heiter werden. Die meisten hier machten so einen Aufruhr um das Turnier, als wäre es die Weltmeisterschaft und nicht nur irgendein lausiger High School Wettkampf. Für die Mädchen bot Phelim ja den perfekten Starsportler wie für andere David Beckham. Nur, dass Phelim nicht blond, sondern schwarzhaarig und etwas größer war.
Phelim, seine Mannschaft und das gegnerische Team wärmten sich auf dem Feld bereits für das Turnier auf, welches nach der Mittagspause beginnen sollte. Kylie beobachtete heißhungrig natürlich jeder Phelims Bewegungen, während sie an einem Strohhalm zog und wir querfeldein über den Fußballplatz marschierten.
Wir gingen gerade genau vor dem Fußballtor, als besagter Phelim plötzlich meinen Namen schrie: „Hey Eveline! Vorsicht!“
Woher wusste er den überhaupt meinen Namen? Aber ich hatte überhaupt keine Zeit weiter darüber nachzugrübeln. Als ich reflexartig den Kopf in seine Richtung drehte, fing meine Welt sofort an sich mit zu drehen. Phelims Kopf blieb mir von einem immer näher kommenden und verdammt hart geschossenen, schwarzweißen Ball verborgen. Außerstande mich zu rühren, sah ich zu, wie der Ball direkt auf mein Gesicht zuflog. In Blitzgeschwindigkeit und keinen Falls so wie man es aus Filmen – von wegen Zeitlupe – kannte. Deshalb bemerkte ich im ersten Moment auch gar nicht, dass es nicht der Ball war, was hart gegen meinen Kopf prallte. Jemand oder etwas packte mich in letzter Sekunde am Arm und zog mich zur Seite. Mir blieb noch Zeit für einen erschreckten Schrei, da knallte ich schon mit dem Kopf auf einen harten Widerstand, lag jedoch bereits innerhalb des Tores flach im Gras. Ich vernahm noch ein dumpfes Geräusch, das sich anhörte, als ob jemandem die Hose gerissen wäre, dann wurde ich auch schon wieder unsanft in die Senkrechte gezogen.


Für einen kurzen Moment war ich noch wie benommen und schielte den Mann, der mich an den Schultern aufrecht hielt, an als habe ich einige Tequilas zu viel gehabt.
„Eve, alles ok mit dir?“, fragte eine warme, sanfte Stimme und rüttelte mich leicht. Das half. Ich blinzelte noch einige Male bevor sich meine Sicht wieder klärte. Das erste was ich sah, war ein Paar smaragdgrüner Augen, die mich aus ihren Höhlen besorgt ansahen. Ich zog die Stirn graus, als ich erkannte, wessen Augen es waren… Dass sich dabei aber ein fürchterliches Ziehen in meinem Kopf meldete, war allerdings nicht geplant.
„Mein Kopf tut weh.“, murmelte ich und sah hinter mich, um zu erkundschaften, was die Ursache für meine Kopfschmerzen war. Ich erkannte sofort, dass der eiserne Balken des Tors und vor allem aber Jeldriks Stoß dagegen der Auslöser dafür waren. „Weil du, Vollhorst, mich gegen diesen Balken gestoßen hast!“, fuhr ich vorwurfsvoll fort und verengte meine Augen. Jeldrik tat es mir gleich, nahm die Hände von meinen Schultern und richtete sich auf.
„Wenn es dir lieber gewesen wäre, dass dein Kopf weggeballert wird, dann tut’s mir Leid, du Vollhilda!“, meinte er mit vor Sarkasmus triefender Stimme und wies mit ausgestreckter Hand auf das Fußballtor hin. Ich streckte den Hals und blickte in die Richtung, in die er zeigte. Auf den ersten Blick fiel mir nichts Ungewöhnliches auf bis ich registrierte, dass der Fußball einige Meter ‚hinter‘ dem Tor lag. Erneut legte ich die Stirn in Falten und nahm das Netz des Fußballtores genauer in Augenschein. Ich schluckte. Genau an der Stelle des Netzes, vor der ich vor einer Minute noch gestanden hatte, war nun ein Riss, den einfach nur Phelims Schuss verursacht haben konnte.
„Oh.“, war alles was ich dazu zu sagen wusste.


„Mann, Lin, echt! Dass du nie aufpassen kannst. Du bist so eine Trantüte!“, hörte ich mein Teuerste schimpfen, die sich gerade näherte und mit verschränkten Armen vor mir stehen blieb.
„Alles ok?“, rief der andere Wadim, während er auf uns zu joggte. „Sorry, hatte dich echt nicht gesehen.“, sagte er als er neben Kylie zum stehen kam. Dann verzog er den Mund zu einem bedauernden Lächeln und legte Kylie kurz die Hand auf die Schulter, ehe er mir seine Hand entgegenstreckte.
„Schon in Ordnung.“, sagte ich, während ich mich von ihm empor ziehen ließ und lächelte verzagt. Dann machte er sich auf, um seinen Ball zurückzuholen. Kylie hatte inzwischen die Arme schlaff an ihrem Körper hängen lassen und sah mit leicht geöffnetem Mund Phelim hinterher. Ich wusste, dass die Tatsache, dass er sie berührt hatte, für Kylie ein ganz großes Phänomen darstellte. Später durfte ich mir sich wieder irgendwelche Geschichten von wegen „Schicksal“ und „Fügung“ anhören. Seufz. Meine Verrückte.
„Komm, du Trantüte.“, meinte Jeldrik nach einer Zeit und ich sah kurz, wie seine Mundwinkel nach oben zuckten. „Ich bring dich nach Hause.“


Keine Viertelstunde später, saß ich neben Jeldrik auf dem Beifahrersitz in meinem ‚eigenen‘ Alpha und schmollte vor mich hin. Natürlich hatte von selbst nicht vorgehabt nach Hause zu gehen, aber meine verräterische Freundin bildete sich ein, eine Beule an meinem Kopf zu spüren und Coach Woober, der alles aus sicherer Entfernung beobachtet hatte, duldete keine Widerrede. Und selbstverständlich, hatte ich dagegen protestiert, dass Jeldrik meinen Wagen fahren sollte…
Bis wir am Haupteingang angekommen waren hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Und dann auch nur, weil er wissen wollte, wo ich geparkt hatte.
Wie es das Schicksal jeden Tag aufs Neue wollte hatte ich an diesem Tag wieder nur im hinteren Bereich einen Parkplatz ergattern können.
Als wir fast über den gesamten Schülerparkplatz schlendern mussten, streckte er mir vor meinem Wagen auffordernd die rechte Hand entgegen.
Okay… Wollte er jetzt ganz der Kavalier mir in den Wagen helfen oder wie sollte ich das verstehen?
Jeldrik musste gesehen haben, dass mir nicht ganz einleuchtete, was er von mir erwartete, denn er stöhnte genervt.
„Schlüssel.“, meinte er brüsk.
Ich setzte meine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.
„Meinen Wagen werde ich doch wohl noch selbst fahren dürfen oder?“
Was bildete sich der Kerl eigentlich ein?
Von seinem Gesicht war inzwischen jede Art von Nettigkeit abgebröckelt. Seine linke Hand ballte er so zur Faust, dass jede Ader seines angespannten Armes hervortrat.
„Weißt du, Eve.“, er biss kurz die Zähne zusammen, dann sprach er nach einem erneuten Stöhnen weiter. „Mir liegt was an meinem Leben. Sei vernünftig. Nur für den Fall, dass dein Kollaps während der Fahrt schlapp macht.“
Ich schnaubte. „So schlimm ist es grad auch wieder nicht.“, meinte ich schnippisch.
Er zog die Augenbrauen hoch und bedachte mich mit einem skeptischen Blick. Dann zuckten seine Finger kurz zweimal, was wohl heißen sollte „Gib schon her“. Als ob ich nichts gesagt hätte.
Ergeben seufzte ich, kramte dann widerwillig in meiner Hosentasche und ließ den Schlüssel in seine Hand fallen.
Jeldrik schloss mit einem zufriedenen breiten Grinsen die Finger darum und steuerte dann die Beifahrertür an. Als er sie öffnete, dahinter trat und mit einer einfachen Armbewegung in den Wagen wies, musste ich fast kichern, da sich meine Vermutung auf sein Kavaliergehabe damit teilweise doch noch bestätigt hatte.
Wenige Sekunden später war er um die Schnauze meines Alphas herum gegangen und ließ sich vor dem Lenkrad nieder. Ohne sich vorher umzusehen, wendete er aus der Parklücke und brauste über dem Parkplatz auf die Hauptstraße.


Sein Fahrstil war nicht weniger frivol als der von Rennfahrern. Wie war das? Er hinge an seinem Leben? Davon bemerkte ich jetzt aber nicht besonders viel. Ich kam mir vor wie auf einer Verfolgungsjagd in diversen CSI-Serien. Wir waren dann wohl die Kriminellen auf Flucht. Jeldrik warf mir einen flüchtigen Blick zu und grinste mokant.
„Das hilft dir in diesem Falle auch nicht mehr.“
„Wie bitte?“
Er nickte zu meiner Seitentür. Meine Finger hatten sich fest in den lederüberzogenen Türgriff gekrallt. Sie hinterließen sogar geringzeitig kleine Dellen, an der Stehle an die ich sie gepresst hatte, als ich trotzig meine Finger davon löste. Resigniert hob ich die Schultern.
„Mein Überlebensinstinkt geht wohl davon aus.“, murmelte ich. Er ließ ein keckes „Tz“ verlauten und lachte anschließend süffisant auf.


Doch er dachte nicht daran, seine Geschwindigkeit zu drosseln. Häuser, Schilder und was sich sonst noch so alles auf den Straßen tummelte rauschten in zu hoher Geschwindigkeit an uns vorbei – was meine Panik nicht unbedingt geringer fügte.
„Warum hältst du dich nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzung? Wir sind in einer Wohnsiedlung, weißt du?“, fragte ich nach ein paar Minuten sarkastisch. „Psychos wie du sind die Ursache für zahlreiche Crashs.“
Jeldrik zuckte ungeniert die Schultern. „Psychos wie ich sind Mitgrund, dass dein Vater seinen Job machen kann.“
Ich wollte schon kontern, aber just im nächsten Moment fiel mir etwas auf, was mich ihn verwirrt anblinzeln ließ.
„Woher weißt du, dass mein Vater Arzt ist?“, machte ich meiner Verwunderung Luft.
Jeldrik grinste unmerklich, doch sein Blick blieb auf der Straße.
„Ich denke so ziemlich jeder weiß, dass du die Tochter von Dr. Ethan Travis bist – die Stadt ist gesprächig. Außerdem ist sein Assistent ein enger Bekannter von mir.“ Er zuckte erneut mit den Schultern. „Bin ihm schon das ein oder andere Mal begegnet.“
„Du kennst Riley?“, fragte ich baff. Riley Dakoté war seit einigen Jahren der Arztassistent meines Vaters. Hin und wieder aß er bei meinem Vater und mir nach der Schicht zu Abend – was nicht oft der Fall war, da ihre Schichten meistens erst nach Mitternacht endeten, wenn ich für gewöhnlich schon schlief. Ich kannte ihn eigentlich ziemlich gut. Er war noch ziemlich jung und ich konnte mich wunderbar mit ihm unterhalten. Besonders seine sarkastische Art, die er des Öfteren zu Tage legte, war mir sympathisch. Man konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass jemand wie er ‚engen’ Kontakt zu jemandem wie Jeldrik pflegte.


Jeldrik runzelte die Stirn und sah nun doch kurz von der Straße zu mir auf.
„Ja, wir waren zusa-…“ Er räusperte sich und ließ den Satz unbeendet. „Ich kenne ihn sehr gut, ja.“
Wir waren zusammen? Wollte er das sagen? Hust. Oh Gott! Und Riley?! Nie im Leben hatte mich etwas vermuten lassen, dass er nicht hetero sein könnte. Im Gegenteil. Ich hatte ihn schon öfter dabei beobachtet, wie er eine der Krankenschwestern – soweit ich mich erinnern konnte hieß sie Ariana – begutachtet hatte, als wäre sie ein Pferd im Rennstall. Unmöglich, dass sie sein Geschmachte nie bemerkte, aber reagieren tat sie trotzdem nicht.
„Was ist?“, wollte Jeldrik wissen, der mein Schweigen wohl bemerkt hatte.
„Nichts.“, piepste ich.
Eine ungläubige Falte bildete sich zwischen seinen schmalen Augenbrauen. Wir standen vor einer roten Ampel und er hatte tragischerweise auch noch die Gelegenheit mich mit einem fragenden Blick zu taxieren.
„Ich…na ja.“, stammelte ich. „Ich wusste nicht, dass du… also… dass du… schwul… bist.“
Stille. Seine Augen weiteten sich für eine Sekunde und er starrte mich eine Weile einfach nur an.
Erst als hinter uns ein ungeduldiges Hupen ertönte und ich ein „Grün“ heraus brachte, brach er sein Schweigen.
Schallendes Gelächter füllte den gesamten Innensektor meines Wagens. Er hatte seinen Blick nun wieder zur Straße gerichtet, schaltete in den nächsten Gang und fuhr immer noch vor sich hin glucksend an.
Ich konnte ihn einfach nur verblüfft anstarren und nicht vermeiden, dass mein Gesicht roter wurde als eine Tomate es je sein könnte.


„Du glaubst also…“, weiteres Gelächter seinerseits. „Du glaubst also wirklich, dass ich… ‚schwul’ bin? Wie um alles in der Welt kommst du denn auf den Schwachsinn?“
Peinlich berührt zuckte ich die Schultern. Er zog seine Augenbrauen so weit nach oben, wie es seine Sehnen zuließen und verfiel wieder in seinen Lachkrampf. Langsam machte mir sein nicht mehr enden wollendes Gebrülle Angst. Bekam er überhaupt noch Luft?
„Du wolltest doch“, fing ich vorsichtig an. „sagen, dass du mit ihm… zusammen warst?“ Irgendwie kam es als Frage über meine Lippen und nicht wie geplant als handfester Satz.
Immer noch vor sich hin quiekend schüttelte er kaum merklich den Kopf.
Mehr Antwort durfte ich wahrscheinlich nicht weiter erwarten. Und so war es auch. Er gluckste nur noch eine ganze Weile vor sich hin.


„Hier musst du jetzt abbiegen.“, wies ich ihm an, als wir inzwischen bei der letzten Abzweigung zu meiner Straße ankamen und er sich glücklicherweise wieder beruhigt hatte. Wahrscheinlich wäre das aber nicht einmal nötig gewesen. Immerhin war er den ganzen Weg über ohne meine Anweisungen zu Recht gekommen – weiß der Geier, woher er wusste, wo ich wohnte. Und ich wollte es auch nicht weiter wissen. Vermutlich würde ich sowieso keine Antwort erhalten.
Jeldrik bog wortlos in meine allseits geliebte fliederumsäumte Straße und machte ohne weitere Fragen vor meinem Haus Halt.
„Wo soll ich ihn abstellen?“, fragte er und nickte mit dem Kopf zur Motorhaube.
„Wie kommst du eigentlich nach Hause?“, wollte ich wissen und ließ seine Frage unbeantwortet – das würde ich später schon selbst erledigen.
Jeldrik ließ seine Schultern auf und ab sinken. „Ich lass mich abholen oder so.“
Ich legte die Stirn in Falten. „Haben doch grad alle Schule, oder?“
Er wedelte bestreitend mit der Hand. „Ich hab noch andere Möglichkeiten außer Phelim, Eve.“
Diskret nickte ich und wies ihm dann doch an, den Wagen auf der Auffahrt vor unserer Garage zu parken, welche sich gleich ans Haus schloss.


Nachdem Jeldrik getan hatte wie ihm geheißen, war ich auf direktem Wege zur Haustür gegangen. Ich war schon dabei die Türe aufzuschließen, als sich Jeldrik hinter mir räusperte.
„Was?“, fragte ich verwundert, drehte jedoch unbeirrt weiter im Schloss.
„Hast du nicht was vergessen?“
„Nicht das ich wüsste.“, nun ließ ich doch vom Schlüssel ab und drehte mich zu ihm um. „Tschüss?“, piepste ich dann, weil ich ihn so nah eigentlich nicht erwartet hatte. Jeldrik verzog das Gesicht und trat einen Schritt zurück. Aus unerklärlichen Gründen verärgerte mich das und das bekam er auch augenblicklich zu spüren.
„Erwartest du eine Bezahlung oder so?“, fragte ich und das kam gehässiger über meine Lippen als geplant.
„Ja… Nein. Nicht direkt. Ich erwarte nur deinen Dank.“
Bei aller Förmlichkeit, mir widerstrebte es ihm zu ‚danken’. Immerhin hatte ich ihn nicht gebeten, mich wie ein Kleinkind nach Hause zu verfrachten.
Seine Augen blitzten erwartungsvoll unter seinem Haarvorhang auf. Er taxierte mich mit jenem Blick, von dem ich genau wusste, dass ich ihn hassen würde.
Ohne meinen Blick von ihm zu wenden – auch deshalb, weil ich es gar nicht erst konnte – tastete ich nach dem Türgriff der Haustür hinter mir.
Jeldrik bewegte sich nicht, einzig eine Augenbraue zuckte sekundär nach oben.
Im selben Moment, in dem ich den Türgriff erfasste, nahm er seinen Blick von mir und ich Gans ergriff dies als Chance und verschwand augenblicklich hinter der Tür im Hausinneren.


Ich lehnte meinen Kopf gegen die Tür und atmete einmal tief durch, ehe ich mir mit voller Wucht die Hand vor den Kopf schlug, wie es auch vorhin im Wagen meinem Gefühl entsprochen hatte. Nun stand er vermutlich völlig verdutzt vor meiner Haustür und musste sich weiß Gott was über mich denken. Wer ließ einen schon nach einer berechtigten Dankesanforderung auch einfach stehen? Abgesehen von mir dummen Gans?! Aber wer forderte auch schon so direkt Dank an? Ich schüttelte verwirrt über uns ‚beide’ den Kopf.
Seufzend drückte ich den Türgriff wieder nach unten, trat auf den Boden blickend nach draußen und wollte zu einem argwöhnischen Danke ansetzten, aber da war niemand mehr, dem ich meinen Dank hätte aussprechen können.
Ein Windhauch blies mir meine tiefschwarzen gelockten Haare ins Gesicht und vor mir auf dem Boden eine gräuliche Feder in die Höhe. Umständlich strich ich mir meine Haarsträhnen hinters Ohr und hob die Feder vom Boden, die sacht wieder auf den Grund geglitten war. Sie war grober als ich es erwartet hatte. Ihre einzelnen Äste bogen sich nicht auf meiner unebenen Handfläche sondern behielten stur ihre Form. Sie war auch längst nicht so weich, wie man es von Federn gewohnt war. Rau rieb sie über meine Haut, als ich sie zwischen zwei Fingerspitzen nahm und damit ins Haus verschwand.


Der Anrufbeantworter blinkte rot auf, als ich den Korridor unseres Hauses betrat.
„Sie haben ‚eine’ neue Nachricht.“, ertönte die roboterhafte Frauenstimme, sobald ich den Abhörknopf gedrückt hatte. Anschließend ertönte eine sehr vertraute Stimme – die meines Vaters.
„Hallo Spätzchen.“, Papier raschelte im Hintergrund. „Mir ist wieder eingefallen, wo ich die Unterlagen von Gabriella McGurdian hingetan haben könnte. Wärst du so lieb und würdest sie mir in die Praxis bringen? Ich glaube…“, wieder raschelte Papier. „Also, sie müssten irgendwo im Wohnzimmer liegen… Bis spätestens 17.00 Uhr brauch ich sie.“
Irgendwo. Das Wohnzimmer war der größte Raum im Haus und ausgerechnet dort lässt er ‚irgendwo’ seinen Kram liegen. Seufzend ließ ich die Feder auf der Kommode liegen und schlenderte ins Wohnzimmer.
Der Raum war in einem hellen Jadegrün gestrichen. Einzelne Kunstwerke von irgendwelchen Landschaften zierten zusätzlich die Wand. Ein weißes Ledersofa, an dem meine Mutter sehr gehangen hatte und mittlerweile auch ich, stand mitten im Raum auf edlem Dunkelholzboden und an der gegenüberliegenden Wand hing Dads Prachtstück – ein Plasmafernseher. Der gläserne Couchtisch war auf einem scheußlichen Teppich aus Bärenfell platziert. Ich hatte schon mehrmals versucht meinen Vater davon zu überzeugen, das verratzte Ding endlich zu entsorgen, aber vergebens. Aus unerklärlichen Gründen fand er das Stück schrecklich antik und meinte so etwas würde unserem Wohnzimmer fehlen. Seufz.
Da auf dem Glastisch außer einer Schale mit Obst und einer Tageszeitung von letzter Woche – mein Dad kam nie dazu nur Eine zu lesen und dennoch besorgte er sich hin und wieder eine Aktuelle – nichts lag, beschloss ich in dem Korb neben der Couch zu wühlen in dem sich weitere diverse Zeitungen befanden.
Abgesehen von Automobil-, Fernseh-, Fashion- und Heilpflanzenmagazinen, einem dicken Wälzer mit der Aufschrift „How to be a Doctor“ – ich kicherte – und, hoppla, meinem alten Tagebuch fand ich nichts, dass einer Patientenakte nur ansatzweise ähnelte.
Ich sah mich noch einmal gründlich im Raum um, ehe den Korb ein zweites Mal durchstöberte und die Akte, naja viel mehr einzelne Aktenblätter dieser Gabriella, doch fand. Ich funkte kurz meinen Dad an, um Bescheid zu geben, dass ich vorbeikommen würde und machte mich dann auch den Weg zum Krankenhaus.


***


Riley wartete bereits an der Information auf mich. Er unterhielt sich gerade mit einer brünetten Schönheit – seine heiß begehrte Krankenschwester Ariana – die hinter dem Tresen stand und immer wieder an einer Tasse nippte. Riley schien sich in diesem Gebäude, das hauptsächlich von weiss regiert wurde äußerst wohl zu fühlen.
Ich hingegen war froh, Krankenhäuser soweit es ging meiden zu können. Hier roch es ständig nach Krankheit, Menschen in weissen Kitteln wuselten wie Ameisen gehetzt durch die Gänge und lächeln sah man hier kaum jemanden. Ja, Krankenhäuser deprimierten mich.
Ich räusperte mich mehrmals, um Riley aus seinem Flirtfieber zubekommen. Er war mächtig beschäftigt damit, auf alles – und mochte es noch so unlustig sein – los zu kichern, was Ariana sagte. Es tat mir fast Leid, Riley unterbrechen zu müssen, schließlich schien das heute so etwas wie eine Premiere zu sein, da Ariana ihm endlich Beachtung schenkte. Aber ich hatte es eilig diese muffige Krankenunterkunft so schnell wie möglich wieder verlassen zu können.
Beim dritten Räuspern gab ich es auf und stach ihm grob in die Seite. Wer nicht hören will, muss fühlen.
Riley zuckte kurz auf und sah mich dann verwirrt an.
„Ah, Lin. Da bist du ja endlich.“, meinte er dann lächelnd.
„Ja, seit knapp 10 Minuten.“, murrte ich genervt. Im Ernst. Es waren gefühlte 10 Minuten.
Riley lachte übertrieben amüsiert auf und tätschelte mir wie einem Kleinkind den Kopf. Demonstrativ wich ich einen Schritt zurück und funkelte ihn böse an.
Bei aller Liebe, an meinen Haaren wuschelt niemand rum.
„Hat dir mein Vater aufgetragen, mir zu zeigen, wie man mit Ariana flirtet oder mir etwas entgegen zu nehmen?“, fragte ich dann skrupellos und setzte ein hämisches Lächeln auf.
Rileys Lachen verstummte und er beäugte mich mit demselben giftigen Blick, den ich ihm gerade gesandt hatte, wie ich zufrieden feststellte.
Ariana lächelte mich entschuldigend an, pustete noch kurz über ihre Tasse und verschwand dann hinter einer Tür, die sich neben dem Tresen befand. Ich meinte zu sehen, dass sie rot wurde.


Riley sah ihr bedauernd nach, ehe er mich wieder grimmig anfunkelte.
Ungerührt zuckte ich die Schultern und Riley quittierte es mit einem säuerlichen Schnauben.
„Also, Linchen. Die Unterlagen?“, fragte er auffordernd und streckte mir seine Hand entgegen.
Ich hatte mir nicht die Mühe gemacht, die Blätter irgendwo ordentlich einzuordnen sondern einfach lose transportiert. Riley nahm sie mir forsch aus der Hand und studierte jedes einzelne Blatt mit konzentrierter Miene.
„Ja… Das dürften sie sein.“, meinte er dann nach geringer Zeit und lächelte mich freundlich an, während er eine seiner braunen Locken nach hinten strich. Meines Achtens nach waren sie mal wieder viel zu lang, aber Riley schien wohl der Ansicht zu sein, dass man als Arztassistent keine ordentliche Frisur brauchte. So hingen ihm all seine Locken schlaff am Kopf bis zum Ohrläppchen herab.
„Warum bist du eigentlich nicht in der Schule?“, fragte er nachdenklich.
„Hatte Kopfschmerzen.“, meinte ich brüsk.
Riley runzelte die Stirn. „Und jetzt nicht mehr?“
Prüfend tat ich es ihm gleich. Normalerweise müsste mein Kopf beim Verziehen der Stirn protestieren, aber nichts dergleichen geschah. Mir war gar nicht aufgefallen, dass sich meine Kopfschmerzen wohl in Luft aufgelöst hatten.
Ich schüttelte entschieden den Kopf.
Riley grinste breit und boxte mir freundschaftlich in den Arm. „Akute Unlust, verstehe.“
Ich verdrehte die Augen und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Musst du nicht irgendwie arbeiten oder so?“, fragte ich betont genervt.
Rileys Grinsen wurde noch breiter. Dass das überhaupt ging?
„Doch, doch. Genau. Danke. Ich wusste ich verplan grad irgendwas.“, meinte er sarkastisch und tätschelte mir noch provokant den Kopf.
„Bis die Tage, Linchen.“ Und schon lief er mit zügigen Schritten zum nächsten Fahrstuhl. Zu seinem Glück hatte sich gerade in diesem Augenblick einer aufgetan.
Ich sah ihm noch nach, winkte und wartete bis sich der Fahrstuhl wieder geschlossen hatte. Dann machte ich kehrt und lief durch die elektrischen Schiebetüren ins Freie.

 

SayaSayoko

Ungläubiger
Kapitel 4 - Die, mit dem Albtraum

Die Luft war ekelhaft stickig und kroch kratzend seine Lungen hinab. Er befand sich in einer der Sitznischen, noch immer an seinem ersten Martini nippend. Nur mit Widerwillen zwang er sich gelegentlich einen Schluck zu nehmen. Wenn die blonde Frau am gegenüberliegenden Stehtisch nicht permanent seinen Blick suchen würde, wäre der Martini schon längst in einem der naheliegenden Blumentöpfen gelandet, aus denen gigantische Palmen ragten. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis die Blondinne an genug Cocktails gezogen hatte und selbstbewusst zu ihm hinüber kommen würde. Er lächelte sie verspielt an, als sie ihm erneut einen Blick zu warf und betont langsam ihren Strohhalm zum Mund führte. Die Menschen waren einfach so berechnend. Es brauchte nicht viel, um sie in ihren Bann zu ziehen. Ein, zwei verwegene Blicke und eine virile Haltung genügten, um den Großteil der Frauen des Clubs auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen und den männlichen Anteil gegen sich aufzubringen. Genüsslich leckte sie sich über die Lippen und er konnte sie im dämmrigen Licht der Schwarzlichter glänzen sehen. Verführerisch legte sie den Kopf schief und fingerte an einer ihrer Haarsträhnen herum, während ihre Augen unter dem dunklen Wimperngranz lustvoll funkelten. Nicht zum ersten Mal bekam er solch einen Anblick geboten. Die typische weibliche Betörungskunst eben. Er wandte unbeeindruckt den Kopf ab und nahm einen kräftigen Schluck Martini, wobei es auch sein letzter war. Er hatte kleine Mühen, nicht das Gesicht vor Ekel zu verziehen, als ihm das nach Galle schmeckende Getränk die Kehle hinunter lief.


„Hey.“, raunte plötzlich eine Stimme nah an seinem Ohr.
Berechnend, ging es ihm erneut durch den Kopf und lächelte halbherzig bevor er gelassen den Kopf in Richtung Geräuschequelle drehte. Neben ihm hatte sich die Blondinne platziert und legte gerade leicht ihren Kopf auf ihre Handoberfläche auf. In der anderen Hand schwenkte sie ihren halbvollen Cocktail. Ihm entging nicht, dass der Ausschnitt ihres dunkelblauen Cocktailkleides inzwischen zwei Zentimeter tiefer lag als wie er es vor wenigen Minuten noch getan hatte. Er grinste höhnisch und ließ den Blick zu ihrem Gesicht schweifen. Sie spitze bezirzend die rotbemalten Lippen und ihr rechter Mundwinkel zog sich leicht nach oben. „Allein hier?“, fragte sie, darauf bedacht ihrer Stimme eine rauchige Note zu verleihen. Ihre Augen blitzen kurz auf, als er nicht sofort zur Antwort ansetzte. „Sieht ganz so aus.“, antwortete er und drehte seinen Oberkörper in ihre Richtung. Sie lächelte selig, nahm den letzten Schluck ihres Cocktails und tat es ihm gleich. Wobei sie fast unmerklich ihre Brust etwas herausstreckte und ihm ihre üppige Oberweite zur Show stellte. Ein durchaus reizender Anblick und jeder normale Mann wäre drauf angesprungen, aber er fand anderes Interesse an ihr. Sorgsam stellte sie ihr Glas ab und legte den Ellenbogen auf die Rückenlehne, wodurch sie problemlos seine Schulter mit ihrer Hand erreichen konnte. Nur ganz sanft strich sie mit den Fingern seinen Arm auf und ab. „Lust zu tanzen?“, fragte sie leise und griff mit der anderen Hand nach seiner. Er zögerte kurz. Eigentlich wollte er keine Zeit mehr verschwenden.
Sanft entzog er ihr seine Hand wieder. „Ich wollte eigentlich gerade aufbrechen. Aber du kannst mich gerne begleiten.“
Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, als müsse sie sich darüber besannen und nickte dann kurz. Lächerlich, dachte er, ich konnte deine Begeisterung vom ersten Moment an riechen.
Er zahlte noch eben seinen Martini und die sechs Drinks der fremden Blondinne. Respekt, sie schien für ihre schmächtige Figur ganz schön was zu vertragen. Gewiss war ihr der Alkohol schon anzumerken, aber es hielt sich in Maßen. Da hatte er schon andere Fälle erlebt.


Er bekam gerade sein Wechselgeld zurück, als sie ihm über den Rücken strich, ihm zuhauchte, dass sie sich noch kurz verabschieden wolle und ging mit zügigen Schritten zu dem Stehtisch, von dem aus sie ihn zuvor angeschmachtet hatte.
Er lehnte sich an die Bar und schloss die Augen. Es fiel ihm nicht schwer, die dröhnende Musik und das Getuschel und Gekreische der umliegenden Menschen auszuschalten und allein auf die Dinge zu lauschen, die ihn interessierten.
„Mit dem da willst du einfach weg, Lisanne?“, hörte er eine besorgte Frauenstimme zu seiner Blondinne sagen. Lisanne hieß sie also. Nette Information.
„Ja! Ist er nicht der Wahnsinn?“, die Blondinne bemerkte nicht einmal den argwöhnischen Unterton ihrer Freundin. Er verdrehte die Augen. Mit was für einem naiven Ding hatte er es denn hier zu tun?
„Und du bist sicher, dass das nicht irgend so ein Perversling ist?“, mischte sich eine Männerstimme ein. Lisanne schnaubte. Auch er stöhnte genervt und ging direkt auf das Grüppchen zu.
Als wäre es selbstverständlich, legte er ihr den Arm um die schmale Taille und fragte für jeden hörbar: „Bist du soweit? Meine Limousine steht bereit.“
Aus dem Augenwinkel sah er zufriedenstellend wie sich die Augen ihrer Freunde weiteten und roch wie ihr Argwohn der Bewunderung wich. Er lächelte zufrieden und sah in das Gesicht von Lisanne. Auch sie sah ihn mit großen, grünen Augen an und stotterte ein leises ‚Ja‘.


„Das ist doch keine Limousine.“, sagte Lisanne wenig später enttäuscht, als sich sein Wagen mit einem kurzen Blinken aufschloss.
Er zuckte die Schultern. „Nein, ich habe es nur eilig. War eben das erste was mir einfiel, um dich von deinen Freunden loszureißen.“
Schweigend öffnete er ihr die Tür zur Rückbank seines Wagens. Sie verzog den Mund und nickte dann jedoch kommentarlos, ehe sie einstieg. Er tat es ihr gleich.
Lisanne verschwendete keine Zeit. Er hatte den nach Honig duftenden Geruch ihrer Erregung zwar wahrgenommen, aber nicht damit gerechnet, dass sie so schnell die Initiative ergriff. Kaum, dass er die Seitentür zugezogen hatte, schwang sie sich auf seinen Schoß und machte sich daran, die Knöpfe seines Hemdes zu öffnen, während sie seinen Hals mit Küssen liebkoste. Für einen kurzen Moment war er noch wie benommen. Dann jedoch legte er seine Hände an ihre Hüften und grub die Finger in den Stoff ihres Kleides, während er sich einzig auf ihren Duft konzentrierte. Doch sie machte es ihm nicht ganz leicht, sich zu konzentrieren. Ihre Finger wanderten bereits über seine nackte Brust und glitten irgendwann gefährlich nah an seine Gürtellinie. Hey, irgendwo war er eben auch nur ein Mann. Außerdem erschwerte ihr ständiger Wechsel von seiner linken Halsseite zur rechten, das Einfangen des Geruches ihrer Energie. Mit einem frustrierten Seufzen, das in ihren Ohren wohl eher wohlig klang, legte er ihr die Hand unters Kinn und führte ihren leicht geöffneten Mund direkt vor seinen. Ihr Atem war schon ganz zittrig vor Erregung und vernebelte ihm die Sinne. Zu köstlich schmeckte ihr kraftvoller Atem auf seiner Zunge. Genussvoll nahm er ihr einen tiefen Atemzug, wodurch ihr Atem kurz ins Stocken geriet, doch sie war zu sehr mit ihren lüsternen Gefühlen beschäftigt, als dass sie dies irgendeiner Unnatürlichkeit zuschrieb. Lisanne nahm eine Hand von seiner Brust und legte sie ihm in den Nacken. Immer wieder fand ihr stoßweise kommender Atem den Weg in seine Lungen und reizte ihn mit dem Versprechen von mehr Energie. Er konnte einfach nicht anders und drängte ihr fordernd die Lippen auf. Aber nicht diese Ebene von fordernd, auf der sie sie glaubte. Es sehnte ihn nach ihrer Lebensenergie, ihrem Atem und nicht nach ihrer bedingungslosen Hingabe. Ohne, dass sie sich ihm wieder entziehen können hätte, sog er kontinuierlich und begierig ihr die Luft aus den Lungen. Sein Körper bebte und prickelte vor neuerrungener Kraft. Völlig in dem Rausch ihrer Energie gefangen, bemerkte er nicht einmal wie sich Lisannes Finger krümmten und in seine Haut bohrten. Auch, dass sie sich mit aller Macht gegen ihn wehrte, registrierte er nicht. In seinen Ohren rauschte sein Blut unaufhörlich, das ihre Energie in ihm zur Wallung gebracht hatte. Jede einzelne Sehne, jeder Muskel erfüllte sich mit neuer Kraft und war alles, was er zu seinem inneren Seelenfrieden für diese Nacht brauchte. In seinen Armen ließ Lisannes Widerstand langsam nach. Sie wurde schwach und ihre Lebensenergie schmeckte nicht mehr halb so süß, wie sie es vor wenigen Minuten noch getan hatte. Lisanne verlor das Bewusstsein und er löste seine Lippen von ihren.


***


In dieser Nacht erwachte ich keuchend und mit feuchter Stirn aus einem Albtraum: Christi und Jeldrik standen gemächlich im Schulflur, Christi lehnte an einem der Spinde. Jeldrik hatte seine Hände links und rechts von ihrem Kopf abgestützt. Sie sagte etwas, worauf hin Jeldrik lüstern grinste. Er sah sich um. Der Flur war leer. Außer mir und den Beiden war keiner hier. Doch Jeldrik schien mich gar nicht zu bemerken. Er sah durch mich hindurch. Sein Lächeln wurde breiter. Doch diesmal war es nicht mehr lüstern, viel mehr… siegessicher und bitter. Christis Züge erstarrten als Jeldrik sanft mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht strich. Dann ging alles ganz rasch. Unerwartet schnellte Jeldriks Hand nach hinten. Aus seinen Fingern fuhren lange Krallen, vielmehr sahen sie aus wie fünf kleine Sicheln. Ruckartig schlugen sie nach vorn unmittelbar in Christis Visage. Ich sah noch, dass sich Christi aus ihrer Bewegungslosigkeit befreite und verwirrt und zugleich schockiert auf ihre Todeswaffe starrte, ehe ich erwachte und mich im Bett aufsetzte.


Die Luft entfloh stoßweise aus meiner Lunge und ich hatte plötzlich wahnsinnige Kopfschmerzen. Ich zog die Beine an, lehnte meine Ellenbogen auf die Knie und legte meinen Kopf in meine Hände. Immer wieder überkam mich ein Schüttelfrost, als ich mir ausmalte, wie der Traum geendet hätte... Erst als ich mich nach einiger Zeit gesammelt hatte, bemerkte ich, dass mein Fenster offen stand. Seltsam… Ich konnte mich nicht erinnern es geöffnet zu haben. Ungeschickt strampelte ich meine Decke von mir und kletterte aus dem Bett. Wahrscheinlich war mein Vater nach der Arbeit ins Zimmer gekommen und schlussfolgerte auf Grund meiner Perlen auf der Stirn, dass ich es als zu warm im Raum empfand. Es war nicht weiter wichtig.
In dem riesigen Medikamentenauswahlschrank in der Küche holte ich mir noch eine Paracetamol gegen die Kopfschmerzen, ehe ich wieder ins Bett krabbelte und wieder im Reich der Träume versank – hoffend auf Angenehmere.

***


Die Sonne strahlte in ihrer vollen Pracht und schien mir grell ins Gesicht. Mist, verdammter. Wo hatte man die Sonnenbrille, wenn man sie brauchte? Richtig. Im Handschuhfach seines Wagens. Langsam krochen mir die Schweißperlen aus den Poren, während Kylie neben mir völlig im Gleichgewicht und mit besser sitzendem Makeup als das eines jeden Promis nebenher joggte. Richtig. Coach Woober hetzte uns gerade wie ein Irrer um den Sportplatz. Hut ab für seine Kondition und das mit Mitte fünfzig. Könnte mir ruhig etwas davon abgegeben, bei mir schien die Ausdauer irgendwie flöten gegangen zu sein oder so. Oder Kylie hatte sie mir geliehen. Und dabei meine ich das ‚Geliehen‘, was sie darunter versteht – nämlich unfreiwilliges Schenken. Ich hasste Sport. Es gab einfach keine andere Tätigkeit, die mich mit mehr Blamagen beglückte.
Coach Woober lief uns allen voran, ab und an drehte er sich um, um sicher zu gehen, dass sich zwischen seiner Herde kein Kaugummi bildete. Aber ich forderte ihn immer wieder heraus und so kam es zum dritten Mal in dieser Stunde dazu, dass der Coach meine athletischen Fähigkeiten bemängelte. „Mädchen, du sollst joggen und nicht gehen. Und Sie, Miss Ryan, passen Sie sich nicht dem Tempo Ihrer Freundin an. Es sei denn, Sie möchten auch den Eindruck einer Schildkröte erwecken.“ Die Gruppe vor mir kicherte. Ich verdrehte die Augen und verdrückte mir einen gehässigen Kommentar. Kaum dass Woober sich entschlossen hatte sich wieder umzudrehen, blieb ich stehen und stemmte eine Hand in die Hüfte. Seitenstechen ahoi. Ich verzog das Gesicht zu einer Maske, die mehr als deutlich machte wie unzufrieden in momentan war. Kylie joggte auf der Stelle und sah mich mit ihren großen schokoladenbraunen Augen erwartungsvoll an.
„Kylie du…“, ich musste Luft holen. „Du kannst auch ohne mich weiter laufen. Vermassle dir wegen mir nicht die Note.“
Kylie zuckte nachlässig die Schultern. „Das hol ich bei Volleyball wieder auf.“
Ich verdrehte die Augen. Das wenn ich nur auch könnte.
Woobers Herde war uns bereits mindestens 300 Meter voraus und zu meinem Glück hielt der Coach es wohl nicht mehr für nötig seine Gruppe zu überprüfen. Ich blinzelte gefrustet in die Sonne und strich mir eine Haarsträhne, die von Schweiß getränkt schon ganz klebrig war, aus der Stirn.
„Gehen wir duschen.“, meinte Kylie dann und warf wie auch ich noch einen kritischen Blick zum Coach. Sie war mittlerweile zum Stillstand gekommen und wartete mit verschränkten Armen darauf, dass meine Atmung wieder einen einigermaßen normalen Rhythmus annahm. Ich nickte heftig und kürte gedanklich Kylies Worte zum Vorschlag des Tages.


„Das gibt’s doch nicht!“, schimpfte ich und rüttelte mit aller mir gebliebenen Kraft an den Türen jeder einzelner Duschkabine. Als ich einsah, dass selbst die letzte nach dem vierten Versuch nicht aufschwang, kickte ich wütend gegen die Tür und gab ein genervtes Murren von mir. Da waren doch tatsächlich alle Duschkabinen verschlossen. Ich fuhr mir unstet durch mein Haar, das sowieso schon total verstrubbelt war und sah Kylie fragend an.
„Und jetzt?“
Kylie verschränkte die Arme unter ihrer üppigen Brust und spitze die rosaroten Lippen.
„Ich hätte da schon einen Vorschlag“, begann sie nach kurzer Überlegung und sah mich skeptisch an. „aber ich denke, dass davon nicht so begeistert wärst.“
Nun verschränkte auch ich die Arme und zog eine Augenbraue empor. „Warum sollte ich? Spuck ´s schon aus, Kylie!“
„Wir könnten bei den Herrenkabinen nachsehen.“, sie zuckte stoisch die Schultern. „Die haben jetzt eh noch alle gute zwanzig Minuten nichts Besseres zu tun als Coach Woobers Anweisungen nachzugehen.“
„Worauf warten wir dann noch?“, meinte ich lethargisch, mir nicht anmerken lassend, dass ich tatsächlich etwas von diesem Gedanken abgeneigt war. Ohne Kylies kleingläubigen Blick zu beachten, schnappte ich mir Handtuch und Kulturbeutel, die ich vor meiner Duschkabinendemolierung aufs Waschbecken gelegt hatte, und machte mich auf den Weg zur Herrenumkleide. Kylie stand noch einige Sekunden mir abtrünnig nachsehend vor den Duschkabinen, aber es dauerte nicht lang bis ich ihre Schritte hinter mir hörte.


Gefällig spürte ich, wie das kalte Wasser jede Phaser meiner überhitzten Haut abkühlte. Ich rieb mir mehrmals übers Gesicht und wurde glücklicher Zeuge wie der überflüssige Schweiß abgespült wurde. In diesem Moment hatte ich wirklich das Bedürfnis, die Duschkabine vorerst nicht mehr zu verlassen. Die kalte Dusche war eine erwünschte Abwechslung zu dem saunaähnlichen Wetter, das in Chestertown weilte. Aber wie immer konnte man sich sein Schicksal nicht aussuchen. Wenn ich also in den nächsten Minuten nicht nur im Handtuch bekleidet von einer Herde grölender, junger Männer entdeckt werden wollte, wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, in dem ich die Duschbrause abdrehen und zügig zurück in die Damenumkleiden eilen sollte. Die letzten prasselnden Tropfen genießend, drehte ich blind das Wasser ab und wickelte mir anschließend das Handtuch um den Körper.


„Und? Triffst du dich heute Nachmittag noch mit ihm?“
Ich zog gerade die Tür zur Mädchenumkleide hinter mir zu, als ich die piepsige Stimme von Nadine, einer von Christis Hofdamen, aus der anderen Seite der hölzernen Trennwand vernahm. Die arme Kylie. Jetzt tat es mir wirklich leid, dass ich mir beim Duschen so viel Zeit gelassen hatte und sie sich nun von Nadine bequatschen lassen musste. Aber von welchem ‚ihm‘ sprach sie da denn bitte?
„Ich gehe davon aus.“, perzipierte ich nun leider Gottes aus Christis Anwesenheit. Naja, wenigstens schien Kylie doch ihrer Ruhe gehabt zu haben.
Das Handtuch fest um die Brust gewickelt trat ich in ihr Sichtfeld und bemühte mich, ihnen keinen Blick zuzuwerfen. Auf deren abschätzige Blicke konnte ich gut und gerne verzichten. Einen kurzen Moment herrschte Stille, dann plapperten die Beiden jedoch kontinuierlich weiter. Kylie saß inzwischen wieder vollständig bekleidet einige Meter weiter hinten an die Spinte gelehnt auf dem Boden und las in einem Buch. Ich glaube, sie hatte mich noch nicht einmal bemerkt, als ich meinen Kulturbeutel neben ihr fallen ließ und aus dem Spint meine Klamotten fischte.
„Der war heute überhaupt nicht in der Schule, kann das sein?“, bohrte Nadine ihre herrische Freundin weiter.
„Nein. Sicher hat er verschlafen. Ich weiß jedenfalls nichts von…“, Christi legte eine kurze Pause ein. Verwirrt von ihrem plötzlichen Stopp, warf ich einen flüchtigen Blick in ihre Richtung. Wohl nicht flüchtig genug, denn Christi lächelte im gleichen Moment triumphierend in meine Richtung, ehe sie ihren Satz beendete. „…von Jeldrik.“
Ich biss die Zähne zusammen und fixierte einen Punkt auf der Spinttür, die ich fast im selben Moment zugeknallt hatte. Kylie war davon zusammen gezuckt und legte nun endlich ihr Buch zur Seite. Besagter ‚ihm‘ war also der gute Jeldrik. Natürlich.
„Vielleicht weil er die Schnauze voll von dir hat?“, meldete sich meine Beste spitz zu Wort und rappelte sich vom Boden auf. Ich hätte sie knutschen können. So unbeteiligt wie möglich löste ich meine Hand vom Spintgriff und schaute an Kylie vorbei in Richtung der beiden anderen Mädchen.
Christi gab mir wohl den heut schönsten Anblick, wie sie für einen Moment sprachlos die Augen zu Schlitzen verengte und wütend schnaubte. Ich glaubte Nadine neben ihr sogar leicht grinsen zu sehen, was dem Ganzen noch einen viel schöneren Eindruck verlieh.
„Davon hast du ja Ahnung, nicht Kylie? Du weißt wie sowas anfängt.“, fand Christi die Sprache wieder und warf Kylie einen mindestens genau so wirkungsvollen Kommentar entgegen. Der tragischerweise auch noch ins Schwarze traf. Kylie war damals genüge auf die Schnauze gefallen, weil sie einfach eine unglaublich anhängliche Art an sich und somit sich einige Typen vergrault hatte. Damals, heute war es eher umgekehrt. Aber die Tatsache, dass sie manche der Schüler immer noch als klammernde Furie abstempelten, machte ihr schwer zu schaffen.
Christi grinste noch einmal, sich ihres Sieges sicher, tippte Nadine an und sie verließen den Raum. Im selben Moment klingelte es zur Pause und die ersten Mädchen aus unserem Jahrgang stürmten die Umkleide.
„Ich verzieh mich mal in die Toiletten.“, murmelte ich und drückte mich mit Jeans und Top unter dem Arm geklemmt an der böse dreinschauenden Kylie vorbei.


Keine viertel Stunde später saß Kylie wutentbrannt neben mir auf dem Beifahrerplatz meines Alphas und bearbeitete geflissentlich mit ihren Fingernägeln den kunstlederbezogenen Sitz.
Tyler, der auf der Rückbank saß, beobachtete Kylies Treiben, während ein mokantes Lächeln stets seine Lippen umspielte. Ich war zu sehr damit beschäftigt die Klimaanlage auf Hochtouren zu bringen, um die ekelhaft schwüle Hitze im Wagen zu vertreiben, die mir ungemein das Atmen erschwerte.
„Sag mal, Kylie, was versuchst du damit zu erreichen, Lins Ledersitze zu demolieren?“, fragte Tyler belustigt, als ich gerade die Hauptstraße einschlug.
Mich hätte es nicht gewundert, wenn Kylie anstatt eine Antwort zu geben Tyler nur unmenschlich angeknurrt hätte, aber zu meiner Überraschung ignorierte sie Tylers herausfordernden Kommentar und schnaubte. Tyler kicherte unverhohlen und lehnte sich tief in den Sitz zurück.
„Ein kleine Kollision mit unserer guten Christi.“, klärte ich den feixenden Tyler in meinem Rücken auf und konnte nicht verhindern, dass sich auch über meine Lippen ein Lächeln schlich. Kylie kommentierte unser Gespräch nur mit einem weiteren Schnauben, so dass ich mir langsam Sorgen machte, sie fand das Ventil ihrer Wut nicht.
„Verstehe.“, gluckste Tyler. „Aber hey, Mädels. Kommt ihr heute Abend eigentlich zur ‚Rising Summer‘-Fete?“
„Findet die nach eurer Niederlage überhaupt noch statt?“, schlug Kylie nun sich ihrer Wut beugend zurück. Jetzt war es an Tyler beleidigt vor sich hin zu murren.
Erwartungsgetreu hatten unsere wilden „Ice Fighters“, so nannte sich die Schulmannschaft, gestern beim Turnier kläglich versagt, wie ich mitbekommen hatte. Offensichtlich hatte unser Überflieger mit Namen Phelim etwas Besseres zu tun, als unserer Schule nach Jahren des Debakels einen Sieg einzuheimsen. Jedenfalls war er gestern irgendwann klangheimlich vom Turnier verschwunden, obwohl über die Hälfte der Schule auf sein Talent vertraut hatte. Mit Phelim verschwand auch die Hoffnung auf den Gewinn und ich war nicht die Einzige geblieben, die das Turnier frühzeitig verlassen hatte.
Wie dem auch sei. Heute Abend sollte am Chesapeake Bay an einem Strand nördlich von Rock Hall wieder unsere alljährliche ‚Rising Summer’-Fete stattfinden. Großzügig von der Schule finanziert. Dass sie dieses Jahr aufgrund des Turnieres etwas geringfügiger ausfiel, störte eigentlich keinen, bis auf die Schülerband, die nun für die Musik aufkommen musste.
„Also, ja.“, murrte Tyler, nicht auf Kylies bissige Stichelei eingehend und verschränkte die Arme vor der Brust. Aus dem Augenwinkel sah ich Kylie selbstgefällig lächeln. Kylies Wut verflog langsam also wieder. „Da fällt mir ein…“, begann sie und sah mich an. „Lin, kannst du mir dieses eine dunkelrote Top leihen?“
Tyler seufzte nörglerisch und stopfte sich seine Kopfhörer, die er eigentlich so gut wie immer lässig um den Hals hängen ließ, in die Ohren, was wohl heißen sollte „Oh nein, Mädchengespräche“.
„Klar. Komm heute Abend einfach vorher vorbei.“, sagte ich und machte vor einer roten Ampel Halt.
Kylie neben mir gab einen bedrückten Laut von sich und kratze sich anschließend am Kopf. „Also, um ehrlich zu sein… Ich komm erst etwas später. Kannst du mir es nicht einfach jetzt geben? Ich lauf dann von dir aus nach Hause.“
Ich ließ meine Finger vom Lenkrad gleiten und sah die sich noch immer unschuldig am Kopf kratzende Kylie an. „Und warum, wenn man fragen darf?“
„Naja“, begann sie zögerlich. „Phelim kommt auch erst -“
„Die Wadims kommen?“, unterbrach ich sie. Viel zu interessiert, wie ich leider feststellen musste.
„Ja. Von Phelim weiß ich jedenfalls. Deinen Jeldrik musst du schon selbst fragen.“
Ich verengte die Augen und ließ ihre Anspielung unkommentiert, darauf wartend, dass sie weiter redete.
„Phelim kommt jedenfalls erst gegen halb elf. Von daher brauchst du mich auch nicht früher zu erwarten.“, fuhr sie grinsend fort und entließ endlich das Leder aus ihrer Gefangenschaft.
Ich schüttelte in gespielter Empörung den Kopf über Kylies Vorgehensweise.


Nachdem wir Tyler vor seiner Straße abgesetzt hatten, fuhren wir wie abgemacht zu mir nach Hause.
Wie es das Schicksal wollte, hatte sich im Korridor meines Hauses bereits von dem schwülen Wetter draußen eine Saunaatmosphäre verbreitet. Petrus musste mich hassen. Anders konnte es gar nicht sein. Stöhnend streifte ich mir die Schuhe von den Füßen und trottete mit der wieder bestens gelaunten Kylie in den ersten Stock, wo sich mein Zimmer befand.
Sie war ‚das’ Energiebündel schlecht hin. Was vielleicht auch ihre eins in Ausdauer erklärte, die ich absolut nicht nachvollziehen konnte. Ich war keine Niete in Sport, aber man konnte meine volle Aktivität einfach nicht länger als 10 Minuten beanspruchen.
„Oh, WOW. Ziehst du das heute an?“ Kylie war noch keine Minute in meinem Zimmer gestanden, da hatte sie sich schon auf meinen gut gefüllten Kleiderschrank gestürzt und machte sich daran, meine Ordnung in das reinste Desaster zu verwandeln. Sie wedelte mir mit einem rückenfreien grauen Top mit schwarzem Aufdruck vor der Nase herum. Ich nahm es ihr aus der Hand, um es genauer betrachten zu können.
„Ich weiß nicht. Hab mir darüber noch keinen Kopf gemacht.“, antwortete ich Schulter zuckend.
Kylie entriss es mir wieder, hob es prüfend vor meine Brust und legte abschätzend den Kopf schief.
„Ja, das ziehst du an. Ich hab Chucks in derselben Farbe.“, entschied sie und deutete auf ihre Füße, an denen wahrhaftig dasselbe mausgrau getragen wurde.
Mir was es gleich, was ich heute anziehen würde. Obwohl ich einen ausgeprägt guten Riecher für Mode hatte, machte ich nie sonderlich fiel daraus. Ich legte mehr Wert auf Bequemlichkeit. Das Top war locker geschnitten und würde wasserfallartig über meine Schultern hängen. Was Bequemlichkeit anging, hatte ich also nichts dagegen auszusetzen.
Kylie streifte sich die Chucks von den Füßen und durchstöberte gedanklich meinen Kleiderschrank.
„Und wo ist jetzt das Top?“, drängte sie und riss schon die nächste Kleiderschranktür auf, um dort ihr Wüsten fortzufahren. Glücklicherweise entdeckte ich den dunkelroten Fetzen hängend an der Lehne meines Schreibtischstuhles, bevor Kyle mehr als zwei Kleidungsstücke aus meinen Regalen achtlos um sich auf dem Boden verteilen konnte.
Sie nahm sie mir gierig aus den Händen, als wäre es der letzte Tropfen Wasser in der Wüste.
„Perfekt! Und…ähm…“, stammelte Kylie und zeigte auf ihre nackten Füße. „Da ich dir meine überlass, bräuchte ich jetzt welche von dir.“
„Ich könnt dir vielleicht…“, fing ich an und sah mich suchend im Zimmer um.
„…die roten Ballerinas geben?“, beendete Kylie meinen Satz hoffnungsvoll und klimperte mit den Wimpern.
Bei diesem Hundeblick war es unmöglich, ihr etwas abzuschlagen. Ich zuckte die Schultern, hob sie vom Boden neben meinem Bett auf und gab sie ihr.
Sie lächelte selig und ging damit zufrieden wie ein Kind, das ein Eis spendiert bekommen hatte nach unten.
„Ich beschränke mich heute auf Rot-schwarz.“, informierte sie mich, als sie im Korridor in die Ballerinas schlüpfte. „Rot – Die Farbe der Verführung.“, fügte sich kichernd hinzu.
„Der Liebe.“, verbesserte ich sie und zwinkerte. Kylie verdrehte theatralisch die Augen und grinste breit.
„Wie auch immer. Jedenfalls lasse ich mich heute nicht von Tyler heimfahren.“, entgegnete sie entschlossen, verfiel sichtlich in einen Tagtraum und verschwand hinter der Haustür.


Es war Spätnachmittag, als ich es endlich an der Zeit befand, mich für den Abend zu richten – Angefangen mit der Gesichtsrenovierung. Da vibrierte mein Handy. Ich war so konzentriert gewesen, dass ich unvermeidlich zusammen zuckte und mir mit der feinen Bürste meiner Mascara ins Auge stach. „Scheiße.“, fluchte ich und hüpfte auf und ab, während ich mir Wind in die Augen fächerte. Das brannte vielleicht!
Wenn ich gerieben hätte, hätte der Schmerz vielleicht eher ein Ende gefunden. Aber das ging natürlich nicht – sonst verschmierte ich ja alles.
Mein Handy gab einfach keine Ruhe. Da war jemand wohl mächtig hartnäckig. Das Brennen ließ langsam nach, aber noch immer tränte mein Auge. Ein Blick in den Spiegel verriet mir, dass ich bei meinem rechten Auge doch noch einmal von vorn anfangen durfte. Die Tränen hatten das Gröbste verschmiert und an meiner Wange hinterließ ein schwarzer Tropfen eine dunkle Spur. Ich fluchte wiederholt und tastete dann blind nach meinem Handy, dass ich an den Waschbeckenrand gelegt hatte.
Mit einem gemurrten „Ja“ nahm ich das Gespräch entgegen.
„Woho, Lin. Sachte!“, lachte jemand an der anderen Leitung.
„Tyler. Was gibt’s?“
„Ja, Tyler.“, er lachte erneut. „Hab ich dich grad bei irgendwas gestört? Oder warum so aggressiv?“
„Nein, ich begrüße einen immer so freundlich. Weißt du doch.“, meinte ich sarkastisch.
„Tut mir aber Leid.“, schlug er zurück – Sarkasmus ließ grüßen. „Ähm, ich wollte dich fragen, wie du gedenkst zur Fete zu kommen.“
Jetzt ließ endlich auch das Tränen langsam nach. Ich riss mir einige Blätter Klopapier von der Rolle und wischte mir damit die verschmierte Mascara von den Wangen.
„Mit dem Auto?! Wie denn sonst? Oder hättest du Lust 14 Meilen zu laufen?“
Wenn er ein bisschen nachdenken würde, wäre er selbst auf die Antwort gekommen. Ich hasste es, wenn man Fragen stellte, die man sich eigentlich selbst beantworten konnte.
„Nein, natürlich nicht.“, er räusperte sich. Wahrscheinlich war ihm mein bockiger Ton aufgefallen. „Du kannst auch bei mir mit fahren. Wäre ja irgendwie umständlich, wenn jeder von uns seinen Sprit verfährt, oder?“
„Mhm-mh. Hast Recht. Kylie auch schon gefragt?“
„Ja, aber sie will erst um zehn gehen und ich muss noch zum Soundcheck mit den Jungs.“ Tyler spielte in unserer Schulband und war dazu verflucht, den halben Abend damit zu verbringen auf den Tasten seines Keyboards herum zu klimpern und dazu seine Stimmbänder schwingen zu lassen. Obwohl er es liebte Musik zu machen, war ich mir sicher, dass es ihm lieber gewesen wäre mit seinen Freunden zu feiern.
„Aus unerklärlichen Gründen, sträubt sie sich dagegen schon um halb neun hin zu gehen.“, fuhr er fort.
Ich kicherte. „Ja, weil sie dann ganze zwei Stunden ohne Phelim sein muss.“
„Ohje, ganze zwei Stunden ohne ein Objekt der Begierde? Natürlich… Die Hölle für unsere gute Kylie.“, stimmte er in mein Lachen ein.
„Ja. Wobei sie noch nicht weiter gekommen ist, als ihn anzuschmachten.“, informierte ich ihn schmunzelnd. „Also, dann um halb neun?“
„Jo. Ich hol dich ab.“
Ich nickte, obwohl er es nicht sehen konnte und legte auf. Jetzt musste ich mich wieder meinem demolierten Gesicht zuwenden. Seufz. Lidschatten, Eyeliner, Kajal, Mascara… Die ganze Prozedur von vorn.


Pünktlich wie die Sonnenuhr stand Tyler um 20.30 Uhr vor meiner Haustür und hupte ungeduldig.
„Ja ja…“, flüsterte ich genervt vor mich hin und band mir Kylies Chucks zu Recht. Ich hatte mich für meine alte schwarze Hotpan entschieden, welche vom vielen Waschen inzwischen total verbleicht und mehr Grau als Schwarz war. Selbstlos wie ich ab und an war, hatte ich Kylie mal meine Bessere überlassen, die ich bis heute nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Mein langes lockiges Haar, um die mich regelrecht jeder beneidete, fiel mir wie ein nachtfarbener Wasserfall vom Rücken.
Erneut hupte Tyler auf der Straße – ganze dreimal hintereinander –, während ich noch hastig eine Nachricht für meinen Vater hinterließ.
Der Himmel hatte sich am Horizont inzwischen schon in alle Fassetten von leichtem Rosé bis hin zu sachtem Hellorange verfärbt, als ich ins Freie trat. Hinter der Stadt linste noch minimal die Sonne hervor.
Petrus schien es gut mit uns zu meinen. Die Luft war noch immer angenehm warm, fast sogar noch schwül und weit und breit war keine graue Wolke zu sehen. Herrlich.
Gut gelaunt ließ ich mich auf den Beifahrersitz von Tylers knallroten Opel Astra GTC fallen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Tyler ließ entgegengesetzt meiner Erwartung meine liebevolle Geste unkommentiert, schaltete in den ersten Gang und fuhr an.
Seltsamerweise freute ich mich nun richtig auf unsere ‚Rising Summer’ Fete und wenn Jeldrik kam, konnte ich mich vielleicht sogar angemessen bedanken…
 

SayaSayoko

Ungläubiger
Kapitel 5 - Die, mit den drei kämpfenden Adlern

Ich hatte den ganzen Weg über schelmisch gegrinst und sang zusammen mit Tyler jeden Song mit, der im Radio gespielt wurde, mit. Irgendwann hatte Tyler mich gefragt, ob ich etwas genommen hätte. So viel gute Laune, wäre er gar nicht von mir gewohnt. Ich kommentierte seine Aussage mit einem kecken Zungeblecken und lachte theatralisch.
Bestens gestimmt trotteten wir nun eine halbe Stunde später über den Strand nördlich von Rock Hall und dem Gratitude Hafen in Richtung Bühne. Wie jedes Jahr hatte man auf der gesamten Sandwiese Fackeln und Verstärker, welche schon mächtig zur Probe dröhnten, aufgestellt. Tyler lief mir mit langen Schritten voran. Die Bässe und schräge Gitarrensolos riefen wohl den Musiker aus ihm und er hatte es plötzlich mächtig eilig Teil der Töne zu sein. Ich hatte wirklich Mühe mit ihm Schritt zu halten.
Der Strand war noch verhältnisgemäß leer, da die Fete offiziell erst gegen neun starten sollte. Vereinzelt wuselten kräftige Männer, welche vermutlich die schweren Boxen und Instrumente transportiert hatten, Leute vom Dekorationsteam unserer High-School und vorzeitige Gäste aufgeregt herum. Leider jedoch niemand, den ich kannte. Also beschloss ich mir mit ein paar Drinks von der Bar, die 50 Meter von der Bühne entfernt war, die Zeit tot zu schlagen.
Während ich an meinem alkoholfreien Fruchtcocktail nippte, ließ ich den Blick immer wieder zu Bühne schweifen und lächelte Tyler und den Rest der Band freudig an, wenn sie mich sahen.


Ich achtete schon gar nicht mehr darauf, wen ich eigentlich angrinste, bis jemand mein Lächeln nicht erwiderte.
Jeldrik.
Ich seufzte tief, hüpfte von der Box, auf der ich mich drapiert hatte und ging zur Bühne.
Jeldrik hatte den Blick inzwischen wieder abgewandt und zupfte an einer Akustikgitarre herum.
Irgendeiner der Band – ich glaube, er hieß Dean – half mir auf die Bühne. Ich steuerte Jeldrik an, der nicht mehr von der Gitarre aufsah und ließ mich neben ihm nieder.
Er saß reglos auf einem dunkelroten Kissen und erst jetzt bemerkte ich, dass er die Augen geschlossen hatte und leise für sich einen Song spielte, den ich nicht identifizieren konnte.
Vorsichtig stupste ich ihm in die Seite, um ihn auf meine Anwesenheit aufmerksam zu machen. Jeldrik zuckte erschrocken auf, sah mich kurz irritiert an und dann wieder auf die Seiten seiner Gitarre. Ich schluckte einmal schwer und holte tief Luft.
„Danke.“, sagte ich und versuchte Kylies Hundeblick zu imitieren.
„Wofür?“, fragte er ohne mich eines Blickes zu würdigen und drehte an den Wirbeln. Somit war meine angestrengte Nachahmung für die Katz.
Ich pustete mir noch einmal ergeben Luft aus den Backen.
„Dafür, dass du dich um mich gekümmert und nach Hause gebracht hast.“
Jeldrik nickte und kräuselte den Mund. „Danke.“
Irritiert sah ich ihn an. „Wofür?“
„Dafür, dass du es doch noch über dich gebracht hast, mir zu danken.“, meinte er bescheiden und sah mich endlich auch an.
Ich lächelte breit, da ich mich an unsere erste Unterhaltung erinnert fühlte, die ähnlich verlaufen war. Ihm schien es gleichermaßen zu gehen, denn auch er grinste und bedachte mich mit einem warmen Blick.
Obwohl er mich diesmal genau so fesselte, wie jene andere Blicke von ihm empfand ich ihn diesmal keineswegs als unangenehm. Im Gegenteil.
Die Sonne war inzwischen untergegangen und über uns leuchteten schwach die ersten Sterne. Im tanzenden Licht der Fackeln funkelten Jeldriks Augen unvergleichbar schön. Wenn ‚schön’ überhaupt dem gerecht kam, was seine Augen ausstrahlten. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm ich nicht einmal mehr die dröhnenden Bässe um uns herum wahr und ich wünschte mir plötzlich, dass es ihm genauso ging…


„Huhu, Eveline!“, rief jemand über die Bässe hinweg, aber ich registrierte zu Anfang gar nicht, dass ich gemeint wurde.
Zeitweilig hielt Jeldrik noch seinen Blick auf mir, ehe er sich räusperte und in die Richtung sah aus der die Rufe kamen. Ich selbst schüttelte kurz verwirrt den Kopf, um ihn frei zu bekommen und tat es ihm gleich. Ungefähr 100 Meter von uns entfernt stand Kylie und wedelte wild mit den Armen. Ich lächelte und nickte ihr zur Begrüßung einmal zu. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jeldrik ihr schlicht winkte.
„Musst du jetzt auch spielen?“, fragte ich ihn zögernd und hoffte, dass die Antwort „nein“ lauten würde.
Jeldrik schüttelte nachdenklich den Kopf, dann lächelte er mich freundlich an. „Nein. Erst gegen halb eins. Da muss ich Tyler ablösen.“
Nur mit Mühen schaffte ich es, meine Begeisterung im Zaun zu halten und nickte möglichst gleichgültig.
„Du… kannst ja derweil mit uns rumhängen…“, fing ich vorsichtig an und fügte dann bitter hinzu: „Wenn du dich nicht schon mit -“
„Christi geht mir auf die Nerven.“, unterbrach er mich zornig und sah jäh in eine andere Richtung. Normalerweise hätte ich mich über diese Antwort gefreut, wenn mir nicht schlicht in diesem Moment etwas anderes in den Sinn gekommen wäre.
„Nerve ich -“, setze ich an, doch wieder schnitt er mir das Wort ab.
„Ich glaube, ich nerve dich eher.“, behauptete er und lachte süffisant auf.
Abermals schoss mir das Blut ins Gesicht und ich wendete den Kopf ab, damit er es nicht bemerkte.
„Nein. Du nervst mich nicht.“, murmelte ich leise und sah über die Menschenmenge, die sich nun langsam auf dem Strand verteilt hatte.
Jeldrik kicherte neben mir und plötzlich strich er mir die Haare hinters Ohr, die ich zuvor wie einen natürlichen Vorhang vor mein Gesicht fallen gelassen hatte.
„Du bist ja rot!“, stellte er amüsiert fest und zog seine Hand zurück. Augenblicklich schoss mir erneut Wärme ins Gesicht und mir wurde noch heißer. Ein Wunder, dass ich nicht schon längst explodiert war, so viel Hitze wie sich in meinem Kopf staute.
Ich ließ seine Bemerkung unkommentiert und nickte stattdessen zu einem Lagerfeuer, das jemand nahe am Wasser gelegt hatte. Einige Leute, darunter auch Kylie und andere meines Jahrgangs, tummelten darum und wippten im Takt der Bässe mit, die langsam eine Gestalt annahmen. Manche hielten Stöcke ins Feuer und grillten vermutlich Marshmallows oder Würstchen.
„Gehen wir dazu?“, fragte ich eintönig.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass er nickte. „Ja, die Band fängt sowieso bald an zu spielen. Bis dahin sollten wir hier weg sein.“
Jeldrik rappelte sich auf und streckte dann mir die Hand entgegen. Ich nahm sie und ließ mich von ihm empor ziehen.


Kylie versuchte gerade verzweifelt Derek, einer aus unserer Stufe, zum Tanzen zu überreden. Sie hatte seine Hände genommen und tanzten vor ihm mit einer Eleganz, um die ich sie jedes Mal beneidete. Dieser jedoch stand stocksteif da und sah zu allem Überfluss demonstrativ in eine andere Richtung. Ich sah wie Kylie seufzte, seine Hände wieder schlaff an seinen Körper fallen ließ und auf mich und Jeldrik zu hüpfte.
„Na, ihr zwei?“, trällerte sie übermutig und hing sich an meinen Arm.
„Wo ist Phelim?“, flüsterte sie dann leise, so dass nur ich sie hören konnte und drehte sich unauffällig zu Jeldrik um.
Ich zuckte die Schultern. „Das musst du ihn schon selbst fragen.“, wiederholte ich ihre Wort von heut Nachmittag und lächelte sie kokett an.
Jeldrik, der meine Worte gehört hatte – wie es auch beabsichtigt war –, wechselte interessiert den Blick zwischen mir und Kylie.
Kylie stöhnte leise murmelte irgendwas von wegen „Vielen Dank auch“ und wendete sich dann lächelnd Jeldrik zu.
„Na. Wo hast du denn deinen Bruder gelassen?“, fragte sie und tat so, als ob es sie nur nebensächlich interessierte. Was ihr erstaunlicherweise auch gelang.
Jeldrik grinste breit, sah über ihren Kopf hinweg, meinte: „Frag ihn doch selbst.“ Und nickte mit dem Kopf zur Bühne.
Kylie sah ihn kurz irritiert an, ehe sie den Kopf schüttelte und ihn in die Richtung drehte in die er gedeutet hatte.
Ihr Fernsehturm mit dem gelockten schwarzen Haupt stand vor der Bühne und wippte im Takt der Musik zusammen mit einem anderen Mädchen mit. Vorsichtig sah ich wieder zu Kylie. Ihr Blick verriet mir, dass wenn sie es könnte, sie dem Mädchen tausend Frösche an den Hals hetzen würde. Blind tastete sie nach meinem Arm zischte etwas, dass wie „Gleich zurück“ klang und stapfte in Richtung Bühne.


Jeldriks Brust neben mir bebte leicht und als ich zu ihm auf sah, hielt er sich die Hand vor den Mund. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und boxte ihn sanft vor die Brust.
„Ich mach uns mal solche selbst geschreinerten Spieße.“, kicherte er, zeigte auf die Stöcke, die einige ins Feuer hielten und lief davon.
Mit zwei dünnen Holzstücken und einem Taschenmesser bewaffnet kam er wenige Minuten später zurück. Ich hatte mich inzwischen vor dem Feuer neben einem Mädchen aus meiner Klasse niedergelassen und zwirbelte gelangweilt an meinen Locken herum. Jeldrik setzte sich neben mich in den Schneidersitz und fing am oberen Ende des Stockes an eine Spitze zu schnitzen. Das Mädchen war aufgestanden und hatte achtlos ihr eigenes Messer liegen gelassen, das ich mir jetzt schnappte und griff nach dem anderen Stock.
Jetzt saß ich also da mit Stock und Messer bewaffnet und hatte doch eigentlich überhaupt keine Ahnung, wie man eine ordentliche Spitze zu Stande brachte. Jeldrik setzte konzentriert immer wieder das Messer etwa zehn Zentimeter unterhalb des Hauptes an und dann splitterte jedes Mal ein Stück des Holzes in die Höhe, wenn er das Messer mit einer raschen Bewegung am Holz entlang reiben ließ, als ich zu ihm linste und versuchte mir seine Methode einzuprägen. So schwer schien es gar nicht zu sein.
Nun ja, das war wiederum leichter gesagt als getan. Als ich es versuchte ihm gleich zu tun, blieb ich ständig in irgendwelchen Rillen hängen, die ich selbst ins Holz graviert hatte und schaffte es Schluss endlich mir auch noch selbst ins Fleisch zu schneiden.
„Au!“, jammerte ich auf, ließ Stock und Messer fallen und steckte mir den Zeigefinger in den Mund.
Jeldrik lachte neben mir spöttisch auf. Er hatte das Stück Holz inzwischen in einen ansehlichen Spieß verwandelt und legte ihn bei Seite.
„Ich sagte doch, dass ich das mache.“, ließ er kichernd verlauten, griff nach dem vergewaltigten Stück Holz vor mir und streifte dabei augenblicklich mein nacktes Knie, was mir eine Gänsehaut hervor rief. Er selbst schien es wahrscheinlich gar nicht bemerkt zu haben, aber in mir kribbelte es plötzlich unaufhörlich. Ich nahm den Finger aus dem Mund, legte meine Hand auf die Stelle die er berührt hatte und rieb unmerklich daran. Ich hoffte, somit die Gänsehaut vertreiben zu können.
Jeldrik hatte während meines Kampfes mit mir selbst meinen Stock zum Spieß umfunktioniert und beäugte mich jetzt kritisch.
„Dir ist kalt oder?“, fragte er dann Stirn runzelnd und deutete auf meine Hand am Knie.
„Ich…äh.“, setzte ich an, doch Jeldrik befreite sich bereits aus seinem dünnen schwarzen Hemd, dass er über einem tiefblauen T-Shirt trug und legte es mir um die Schultern, was mich verstummen ließ.
„Ist nicht wirklich ´ne Verbesserung, aber vielleicht hilft es ja doch ein wenig.“, meinte er Schulter zuckend und zupfte mir den Kragen zu Recht.
Ich konnte nicht mehr tun, als hilflos zu nicken. Fehler. Jeldrik machte sich noch immer an dem Kragen zu schaffen und durch meine Bewegung fanden seine Finger sachten Kontakt zu meiner Haut und… Oh Gott! Ich war schrecklich kitzlig und konnte nicht verhindern, dass ich – so albern es auch sein mochte – den Kopf einzog und dämlich vor mich hin kicherte.
Jeldrik ließ irritiert die Arme sinken, legte den Kopf schief und grinste mich amüsiert an.
„Tut…tut mir Leid… Ich bin nur –“
„Kitzlig. Ja, verstehe.“, unterbrach er mich und verschränkte die Arme vor der Brust.


Niemals hätte ich gedacht, dass ich jemals so unbeschwert einen Abend mit Jeldrik verbringen würde. Meinen Plan, Jeldrik so schnell wie möglich wieder aus meinem Kopf zu verbannen, hatte irgendetwas in mir verdrängt und unerklärlicherweise ärgerte ich mich nicht einmal darüber. Inzwischen fühlte ich mich richtig wohl in seiner Nähe und bedauerte es jedes Mal, wenn menschliche Bedürfnisse uns zwangen, kurzzeitig getrennte Wege zu gehen. So seltsam dieser Kerl auch sein mochte, ich hatte das Gefühl ihn endlich wirklich kennen und vor allem mögen zu lernen.
„Ich wusste gar nicht, dass du dich unserer Schülerband angeschlossen hast.“, sagte ich irgendwann, während wir erbarmungslos Marshmallows im Feuer schmoren ließen.
Jeldrik ließ die Schulter auf und ab sinken und drehte seinen Spieß einige Male. „Du weißt noch so einiges nicht über mich.“, meinte er nachdenklich.
„Na, das können wir noch ändern. Spielst du gerne?“
Er zog die Augenbrauen zusammen und seinen Marshmallow aus dem Feuer. „Gitarre, meinst du?“, er nahm den Marshmallow von der Spitze und pustete an ihm. „Sonst wäre ich wohl kaum beigetreten, oder?“, fragte er und lachte neckisch. Als ich ihm nicht mehr als ein Schulter zucken entgegengesetzt hatte, seufzte er tief und lächelte mich entschuldigend an.
„Mein Vater hatte es mir einst beigebracht… Aber er ist…“
Jeldrik schluckte und schlug die Zähne zusammen. Sein Blick war leer. Er schien nur noch körperlich anwesend zu sein, geistig jedoch einige Jahre zurück.
„Ich… Das, das tut mir leid.“, stammelte ich und legte zögernd meine Hand auf seine.
Er schüttelte kurz den Kopf und landete somit wieder in der Gegenwart, ehe er den Blick auf unsere Hände senkte.
„Nein, das brauch es nicht. Er lebt noch. Nur… nur für mich ist er gestorben.“, erklärte er lächelnd und entzog mir seine Hand. Obwohl er lächelte, kam er mir in diesem Augenblick vor wie ein alter, einsamer Mann, der sich trotz allem durchs Leben schlägt.
„Übrigens. Dein Marshmallow brennt.“, fügte er schmunzelnd hinzu.
„Was – oh, Mist!“
Hastig zog ich den Stock aus dem Feuer. Nicht nur der Marshmallow brannte, sondern der dazugehörige Stock gleich dazu. Ich sprang in die Höhe und wedelte panisch mit dem Stock, was dummerweise, dass Feuer nur noch mehr anfachte. Jeldrik krümmte sich neben mir vor Lachen, während ich immer noch auf und ab sprang und versuchte meinen Marshmallow davor zu bewahren zu Asche zu werden.
Seinen Marshmallow zwischen den Zähnen, rappelte Jeldrik sich auf und kam auf mich zu.
„Essen kannst du den eh nicht mehr, also...“, nuschelte er neben dem Marshmallow zwischen die Zähne hindurch und ‚zeigte’ mir den Rest des Satzes, indem er mir meinen Stock aus dem Händen nahm und…
„Aber dann hab ich…“, setzte ich zum Protest an, doch da landete der Stock bereits mitsamt meinem Marshmallow im Feuer.
„…keinen Spieß mehr.“, beendete ich mürrisch meinen Satz und sah schmollend zu, wie mein Marshmallow dahin schmorte.
Jeldrik biss die Hälfte seines Marshmallows ab und hielt mir die andere Hälfte vor die Nase.
Ich kräuselte den Mund und tat so als ob ich darüber nachdenken müsste, sein Angebot anzunehmen. Jeldrik verdrehte die Augen gen Himmel, kicherte und hielt ihn mir so nah vor den Mund, dass der Marshmallow meine Lippen berührte. Da konnte ich nicht widerstehen, öffnete schmunzelnd den Mund und ließ ihn mir von Jeldrik hinein schieben.


„Ich kann dir…“, Jeldrik stockte und machte sich plötzlich ganz steif. Er riss schockiert die Augen auf und – so schnell konnte ich gar nicht gucken – stand plötzlich einige Meter weit entfernt mit dem Rücken zu mir.
„Ich… bin gleich zurück.“, sagte er noch und lief mit gehetzten Schritten über den Strand.
Einen Moment lang blieb ich noch verwirrt stehen und sah zu, wie er irgendwann hinter dem Gebüsch in der Dunkelheit verschwand. Warum war er jetzt so überstürzt abgehauen? Wenn ich das herausfinden wollte, musste ich meinen Beinen schleunigst befehlen in die Gänge zu kommen.
Ohne weitere Gedanken zu verschwenden schluckte ich hastig das warme Stück Marshmallow hinunter und stolperte eilig in die Richtung, in der Jeldrik verschwunden war.


Von irgendwo vernahm ich ein dumpfes Geräusch und ein ersticktes Stöhnen, als ich mich weit genug von der Festanlage entfernt hatte und die Bässe nur noch leise im Hintergrund hervordrangen. Ein erneuter dumpfer Schlag, jedoch deutlich lauter ließ mich vermuten woher die Geräusche kommen konnten. Ich wusste nicht warum, aber auf einmal fühlten sich meine Beine an als wäre Blei in ihnen und ich kam nur schleppend voran. Die Geräusche wurden immer deutlicher je näher ich dem kam. Irgendwann glaubte ich, Konturen von Menschengestalten in der Finsternis zu erkennen und beschleunigte meinen Schritt, obwohl seltsamerweise mein Instinkt danach schrie umzukehren.
„Dako –“, vernahm ich plötzlich eine bekannte schöne Stimme und blieb wie angewurzelt stehen, als sein Wort von einem lauten Knacken unterbrochen wurde.
Langsam gewöhnten meine Augen sich an die Dunkelheit und die Gestalten wurden schärfer, die sich unmittelbar 50 Meter von mir entfernt befanden. Sie schienen jedoch zu beschäftigt, als dass sie auf mich Aufmerksam wurden. Ständig entdeckte ich ihre schwarzen Schatten an einer anderen Stelle und… Verdammt, sie bewegten sich einfach zu schnell!
Einige Schritte vor mir und näher am Ort des Geschehens erstreckte sich ein hohes Gebüsch, das mir perfekt als Schutz dienen konnte. Ohne weiter lange zu überlegen, schlich ich zu ihm und stellte mich dicht dahinter. Verkroch mich sogar schon schier in dem Haufen von kratzenden Ästen und zwickenden, groben Blättern.


Jetzt, da ich nahe genug war, bemerkte ich erst, dass es drei Personen waren. Zwei davon standen jedoch immer beieinander, in welchen ich Phelim und Jeldrik erkannte. Die dritte Gestalt stand zu weit weg, als dass ich sie ausfindig machen konnte. Aus Phelims Rücken rankten zwei seltsame dunkle Gefieder in Gestalt von Flügeln, wie man sie bei Adlern kannte. Ebenso bei der Person, die weiter entfernt stand und angestrengt atmete, wie es auch Jeldrik tat, nur das seine deutlich heller waren. Was war das für eine Freakshow?
Phelim stützte seinen Bruder leicht, der jetzt ein gedämpftes Fauchen von sich gab, angeschlossen von einem trockenen Schrei. Sein T-Shirt riss in tausend Fetzen von seiner Brust und mit einem Male breiteten sich von seinem Rücken die homogenen Flügel aus, wie auch auf dem Rückgrat der anderen beiden. Einfach so. Aus dem Nichts!
Ich legte die Stirn in Falten und rieb mir die Augen. Halluzinierte ich?
„Du mieser Bastard!“, zischte Jeldrik zwischen den Zähnen hindurch. Im selben Moment wich Phelim ein Schritt von ihm zurück, Jeldrik schlug einmal mit den Flügeln auf und sprang in die Höhe. Die dritte Person lachte bitter und tat es ihm gleich.
Vom Himmel ertönten fast zeitgleich zwei klirrende, unerträglich hohe Geräusche, welche mich an das erinnerte, das erklang, wenn man mit den Fingernägeln über Schultafeln kratzte.
Im nächsten Augenblick hörte ich Jeldrik schmerzlich stöhnen und sah zu wie er unsanft auf den Grund zurück knallte. Instinktiv ging ich einen Schritt nach vorn soweit es das Gebüsch zu lies und streckte eine Hand nach ihm aus. Nahm sie aber sofort wieder zurück und schlug sie mir vor den Mund, um einen bestürzten Schrei zu ersticken, der mir entfleuchen wollte.
Er hatte erschrocken aufgekeucht, als er hart mit dem Rücken auf den Boden aufgeschlagen war. Links und rechts von ihm lagen noch geringzeitig seine Arme, aus dessen Händen sich ungewöhnlich lange Finger erstreckten. Sie wurden vom trüben Mondlicht reflektiert und schimmerten metallisch.
Die dritte Person befand sich blitzschnell wieder auf dem Boden und ging auf Jeldriks sich krümmenden Körper zu. Parallel dazu knurrte Phelim. Dasselbe klirrende Geräusch ertönte und aus seinen Fingern fuhren lange Krallen, die mich an Sicheln erinnerte. Augenblicklich danach warf er sich auf die andere Gestalt, welche unter seinem Gewicht dem Boden gerecht wurde.
Plötzlich hatte ich eine Art Déjà Vu… Ja natürlich! Erst letzte Nacht hatte ich geträumt, dass Jeldrik ähnliches mit seinen Fingern angestellt hatte.
„Gleich wachst du auf.“, redete ich mir erleichtert ein und war froh, nicht glauben zu müssen, was sich da gerade vor meinen Augen abspielte.
Jeldrik rappelte sich in der Zeit, in der Phelim und der Dritte fauchend am Boden aufeinander einschlugen, mühsam wieder auf, stürzte sich dazu und beförderte den Dritten mit einem angestrengten Kraftschrei einige Meter in die Luft. Beinahe gleichzeitig sprangen auch Jeldrik und Phelim in die Höhe.


Für einen Moment war es still. Mein Verstand und die typische menschliche Neugierde zankten sich mal wieder um die Funktion meines Körpers. Ein Teil von mir dachte daran, dem Traum selbst ein Ende zu setzen und mich zu zwicken, um mich wach zu bekommen. Der andere Teil wollte schlicht erfahren, wie der Kampf zu Ende ging und war wie schon so oft der Stärkere von Beiden.
Zögernd richtete ich meinen Blick gen Himmel. Jeldrik, Phelim und der Dritte standen in bodenloser Höhe bewegungslos in der Schwärze der Nacht. Der Dritte lächelte unverhohlen und sprach zu ihnen. Zu meinem Bedauern hörte ich nur Gemurmel und Satzfetzen wie: „…findet… unserem Hochwohlgeboren… nur weil… umsonst Treue schenke.“ Dann lachte er laut und bitter. Phelim hatte sich wieder auf ihn stürzen wollen, doch der Dritte hatte mit den Flügeln geschlagen und Phelim wurde von einem kräftigen Windstoß durch die Luft geschleudert, fing sich jedoch wieder einige Meter über mir.
„Überlegt es euch!“, hörte ich die unidentifizierbare Gestalt hämisch brüllen, deren Stimme mir aber bekannt vorkam. Die Krallen des Dritten blitzen kurz im Schein des Mondes und er war verschwunden.
Für einen Augenblick hingen Jeldrik und Phelim noch bewegungslos in der Luft und schienen dem nachzusehen, der mir unsichtbar geworden war.
Phelim stieß verbittert Luft durch die Zähne, ehe auch er einmal kräftig mit den Flügeln schlug und von der Dunkelheit verschluckt wurde.
Jeldriks Flügel flatterten hastig, als sich seine Füße immer mehr dem Boden näherten.
Regungslos verharrte ich in dem von mir sicher geglaubten Versteck und hielt mir noch immer die Hand vor den Mund.
Jeldrik landete, anders als zuvor, sacht und mit einer Eleganz, die mir den Atem raubte, auf der Erde. Sein nackter Oberkörper war, wie ich im fahlen Licht des Mondes erkennen konnte an einigen Stellen mit Kratzern, aus denen minimal Blut heraus quoll, versäht. Trotzdem glich seine Brust der eines griechischen Gottes.
Ich ließ meine Hand sinken und sog scharf die Luft ein. Jeldrik blickte irritiert auf und drehte sich einmal um die eigene Achse.
Mist, verdammter! War mein Atemzug denn so laut gewesen?
Taumelnd machte ich einen Schritt zurück. Ein Ast knackste unüberhörbar laut unter meinen Füßen, wenn man in Betracht zog, dass um uns herum absolute Stille herrschte. Wenn er meinen Atemzug nicht gehört hätte, wäre er spätestens jetzt auf meine Anwesenheit aufmerksam geworden. Hundert pro.


Keinen Augenschlag später, war Jeldrik aus meinem Sichtfeld verschwunden. Plötzlich hatte mich jemand von hinten gepackt, sodass ich mit dem Rücken gegen dessen Brust gepresst wurde und drückte mir etwas Kaltes und Hartes unters Kinn. Ich lehnte den Kopf soweit zurück, wie es mir möglich war und umklammerte den Unterarm jener Person, die mir unmissverständlich die Kehle aufschlitzen wollte. Mein Atem ging schnell und stockend. Meine freie Hand zitterte, welche schlaff neben meinem Körper hing.
Darauf wartend, dass ein Spruch kam wie: „Wenn du versprichst, nicht zu schreien lasse ich dich am Leben“, blieb ich wie steif gefroren stehen und wagte es nicht einmal zu schlucken.
„E…E…Eveline?!“, ertönte unerwartet Jeldriks Stimme neben meinem Ohr.
Hastig ließ er von mir ab und ich hörte den Boden unter seinen Füßen knirschen, als er einige Schritte rückwärts taumelte. Noch ein anderes Geräusch, das sich anhörte, als ob ein Zelt davon geweht wurde, ertönte im Zusammenhang mit einem leichten Windzug. Erleichtert atmete ich tief die Luft ein.
„Du…Was… Was…Was suchst du hier?“, stammelte Jeldrik – unverkennbar. Es war Jeldrik. Ich schluckte kräftig und presste mir die Finger so fest in den Arm, dass es schmerzte.
Verflucht, noch mal! Warum wachte ich nicht auf?
Zitternd sog ich die Luft ein und drehte mich zögernd zu ihm um, wobei mir das Hemd, das er mir zuvor selbst umgelegt hatte, von den Schultern glitt.
Jeldrik starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und wartete geduldig darauf, dass ich zur Antwort ansetzte. Die Flügel und die beängstigenden Krallen waren verschwunden und er sah, abgesehen von den rot schimmernden Kratzern, wieder einigermaßen menschlich aus.
„Du…Das…“, fing ich an, doch stockte als ich bemerkte, wie bibbernd meine Stimme klang.
„Du… Du hast uns gesehen?“, half er mir aus der Reserve und sein Blick wurde angsterfüllt.
Ich schwieg. Mein Atem ging immer noch unnatürlich schnell und ich bohrte erneut, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war, die Finger in meinen Arm.
Um Jeldriks Blick zu entgehen, schielte ich auf das schwarze Hemd, das neben mir im sandigen Dreck lag und nickte kaum merklich.


„Du hast…“, setzte Jeldrik wie gehabt an, verstummte dann jedoch und drehte sich von mir. Unsicher blickte ich wieder zu ihm auf.
Er seufzte, legte sich die Finger an die Schläfen und massierte sie, als habe er Kopfschmerzen. Er wirkte reichlich verzweifelt.
Wiederholt seufzte er, wandte sich dann wieder mir zu und fuhr sich aufgebracht durchs Haar. Sein Blick verriet mir, dass ich ihn mit meinem Gesehenen in eine absolut ratlose Lage getrieben hatte.
Allein die dumpfen Bässe von der dröhnenden Musik der Festanlage drangen in der Stille zu uns. Ab und an hörte man amüsiertes Schreien der feierten Masse. Sogar die Wellen des Flusses, die an die Brandung schlugen, waren zu hören.
„Komm mit.“, flüsterte Jeldrik atemlos, machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück in Richtung Strand. Zuerst verstand ich nicht, was er da murmelte, hob dann aber hastig sein Hemd vom Boden und stolperte hinter ihm her.
Wollte er jetzt einfach wieder zurück zum Fest? Als ob nichts geschehen wäre? Einfach zurück… hinter dem Gebüsch hervor ins Getümmel treten… zusammen mit mir… Ach, du großer Gott! Die Leute mussten doch was vollkommen Falsches denken, wenn ich… zusammen mit einem Jungen,… der auch noch nur in Shorts gekleidet war… hinter Büschen auftauchte und… Allein der Gedanke ließ meine Wangen glühen! Ich sah es schon vor mir, wie uns alle mit Gekicher und Getuschel wieder in die Gesellschaft aufnahmen und sich die Köpfe nach uns verdrehten… Das konnte eine Woche geben. Und Christi? Oh Gott. Ich wollte mir gar nicht erst ausmalen, welche Rachepläne sie für mich schmieden würde. Die auch noch absolut unberechtigt wären!
Auch wenn ich wusste, dass es momentan absolut unpassend war, kam ich einfach nicht darum, dass mein Blick über Jeldriks ebenbürtigen Rücken glitt und an seinem wohlgeformten Hintern hängen blieb…


Die gedämpften Bässe wurden wieder lauter je näher wir dem Strand kamen. Inzwischen konnte ich auch wieder jedes einzelne Wort verstehen, das von Tyler gesungen wurde.
Jeldrik beschleunigte seinen Gang und mir fiel es sichtlich schwer mit ihm Schritt zu halten. Widererwarten schlug er aber nicht den Weg durch die Büsche ein, sondern ging strikt an ihnen vorbei und vorbei an dem Feiergetümmel in Richtung Hafen. Ich folgte ihm, obgleich ich mich immer wieder verwirrt – und auch irgendwie erleichtert – zum Strand umdrehte.
Der steinige Weg führte uns eine nicht allzu hohe, steile Klippe hinauf, auf dem einzig ein glatter flacher Fels stand. Jeldrik ließ sich auf diesen im Schneidersitz nieder und blickte in den Süden.
Obwohl es nur eine minimale Erhebung der Erdfläche war, hatte man von hier alles im Überblick. Rechts von uns konnte ich die Bühne unserer ‚Rising Summer’ Fete und die darum tanzenden Menschen ausmachen. Ich hörte das Wasser plätschern, indem sich einige vergnügten und sich gegenseitig nass spritzten.
Links grenzte der Gratitude Hafen an die Brandung und einige kleine Privatyachten und Containerschiffe steuerten gerade ihre Anlegestellen an.
Während ich die Aussicht bewunderte, hatte Jeldrik seinen Blick auf mich gerichtet und sah mich abwartend an.
Ich zog eine meiner dünn gezupften Augenbrauen in die Höhe.
„Also?“ Es überraschte mich selbst, wie gleichgültig ich die Worte beziehungsweise ‚das’ Wort über die Lippen gebracht hatte.
Jeldrik seufzte tief und sein Blick glitt zur Wasseroberfläche auf der sich der Mond spiegelte. Das Wasser glitzerte in deren Licht.
„‚Was hast du gesehen?“, murmelte er schroff ohne mich dabei anzusehen.
„Ich… Du…“, fiel ich in mein altbekanntes Stottern zurück. Widerwillig führte ich mir die Bilder meines Traumes vor Augen… wie aus Jeldriks Rücken graue Adlerflügel schlugen… er hart auf dem Boden aufkam…
Mein Blick fiel auf einen Kratzer der sich von seiner Brust unter die Achseln bis zur Wirbelsäule erstreckte und ich erschauderte.
„Tat es sehr weh?“, fragte ich leise und deutete mit dem Kopf auf seine Brust. Jeldrik sah mich noch einen Moment irritiert an, zog dann jedoch die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf nach unten, um die roten Streifen auf seiner Haut zu begutachten.
„Die heilen schnell wieder.“, sagte er achselzuckend. „Gib mir mein Hemd, wenn es dich stört. Ich brauch es ohnehin wieder, wenn ich später noch spielen soll.“
Ich riss die Augen auf. „Du willst… Du willst trotz allem“, ich machte eine ausschweifende Geste mit den Händen, die ihn und seine Kratzer einbegriff. „wieder zurück zur Fete?“
Erneut zuckte er die Schultern, streckte einen Arm aus und gab mir zu verstehen, dass ich ihm sein Hemd geben sollte.
Zaghaft machte ich einige Schritt auf ihn zu und ließ mich neben ihn auf den Felsen sinken. Als ich ihm sein Hemd, das über meinem Arm hing, hinhielt und seine Finger meine Haut berührten, zuckte ich auf Grund eines undefinierbaren Brennens unwillkürlich zusammen. Jeldrik schien es gar nicht bemerkt zu haben und glitt in die Ärmel seines Hemdes.
Stirn runzelnd betrachtete er kurz seinen Oberarm, der bereits von Stoff überzogen war.
„Was hast du mit meinem Hemd gemacht?“, fragte er dann verwundert und blickte dann auf den meinen.
Erst jetzt bemerkte ich, dass der Stoff von langen Rissen, die nicht zu verbergen waren, geziert wurde. Behutsam nahm er meinen Arm und streckte ihn aus, um ihn besser betrachten zu können. Ich tat es ihm gleich.
Mein rechter Ober- und Unterarm war übersäht mit feinen, kurzen Kratzern. Diese hatten wahrscheinlich auch das Brennen, dass ich eben gespürt hatte, verursacht.
Ich musste sie mir wohl zugezogen haben, als ich mich fast in dem Gebüsch verkrochen und die ‚Adler’ beobachtet hatte…


Jeldrik drehte meinen Arm vorsichtig und sah mich dann kurz nachdenklich an.
„Jetzt ist sowieso schon alles egal…“, murmelte er wie zu sich selbst und legte sachte seine andere Hand auf die Stelle, an der sich die meisten Kratzer erstreckten. Unwillkürlich zuckte ich unter seiner Berührung zusammen, stockte aber beinahe augenblicklich wieder, als zwischen seiner Hand und meiner Haut ein fahler Lichtstrahl hindurch drang. Erstaunt wechselte ich immer wieder den Blick zwischen seinem Gesicht und seiner Hand. Er hatte die Augen geschlossen und sein Gesicht war hinter einer angestrengten Maske versteckt.
Das Brennen unter seiner Berührung ließ nach, ebenso verglühte der leichte warme Lichtstrahl, bis er schließlich ganz erlosch und Jeldrik seine Hand von meinem Arm nahm.
„Du…Was…“, stotterte ich und starrte auf meinen Arm, der jetzt seltsamerweise unversehrt war. Prüfend tastete ich ihn ab und rechnete mit einem erneuerlichen Schmerz. Aber nichts dergleichen. Als… als hätte er mich ‚geheilt’.
„Du…“, setzte ich abermals an, verstummte jedoch, als ich bemerkte, dass er mich resigniert beobachtete. Jeldrik nickte kaum merklich und sein Blick glitt über meine Oberschenkel und blieb an meinen Waden haften.
„Sag mal, hast du irgendwie mitgemischt bei uns?“, fragte er Stirn runzelnd. Er griff nach meinen beiden Fußknöcheln und zog sie zu sich, wobei er auch meinen gesamten Oberkörper in seine Richtung drehte. „Du siehst ja schlimmer aus als ich.“ Fast lächelte er und ich machte mich auf ein spöttisches Lachen von ihm gefasst, doch stattdessen legte er beide Hände an meine Waden und verzog sein Gesicht nochmals zu jener konzentrierten Grimasse.
Sein Hemd hatte er noch nicht zugeknöpft und das müde Licht, das wieder zwischen unserer Haut hindurch pferchte, bestrahlte schwach seine Bauchmuskeln. Abermals raubte mir der Anblick von seiner (diesmal auch noch nackten) perfekt proportionierten Brust den Atem. Schwer zu glauben, dass ich nicht schon längst blau angelaufen war, so oft wie mir das in seiner Anwesenheit unterlief.
Nach – meiner Meinung nach – viel zu wenigen Sekunden ließ Jeldrik wieder von mir ab und schob meine Beine von sich. Ohne mich davor noch einmal anzusehen, machte er sich an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen und ließ seine Brust dahinter verschwinden.


„Ich hab ab dem Zeitpunkt zugeschaut, als… also… ‚Flügel’ auf deinem Rücken auftauchten.“, sagte ich irgendwann, weil mir aufgefallen war, dass ich auf seine eigentliche Frage gar nicht geantwortet hatte.
„Du wirst mir nicht glauben, dass du dir das alles nur eingebildet hast und es darauf belassen, oder?“, fragte er hoffnungslos. Ich schüttelte den Kopf. „Was bist du?“
Nervös kaute ich auf meiner Oberlippe, während ich beobachtete wie Jeldrik den letzten Knopf verschloss und auf eine Antwort von ihm wartete. Doch er schwieg.
„Du kannst mich und meine Fragen jetzt nicht so einfach ignorieren.“, hackte ich hartnäckig weiter nach und schmollte fast.
„Sonst…-“, setzte ich zur Drohung an, doch ich wurde von einen zornigen Schnauben von ihm unterbrochen.
„Sonst was? Wirst du es jedem erzählen? Ha! Die Klapsmühle würde dich mit Freuden aufnehmen!“, seine Worte troffen vor Spott und trafen mich unverzüglich.
Geknickt schüttelte ich den Kopf und führte meine weniger wirksame Drohung zu Tage.
„Sonst ignorier ich dich auch…“, flüsterte ich und kam mir augenblicklich vor wie ein kleines schüchternes Mädchen, das zum ersten Mal einem Jungen ihre Liebe gesteht.
Jeldrik grinste, kicherte, was dann in ein lautes Lachen aus der Tiefe seines Zwerchfells ausartete und sah mich bedauernd an.
„Das wäre mir sogar fast lieber.“, meinte er dann und lachte noch einmal spöttisch auf. „Aber ich kann das nicht so stehen lassen.“, fügte er seufzend hinzu und sah in die Ferne über den Fluss.


„Wie dann?“, fragte ich vorsichtig, nahm sein Kinn in meine Hände und drehte seinen Kopf zu mir zurück. Er schloss seine Finger um mein Handgelenk und führte es von seinem Gesicht.
„Im Normalfall würde ich dafür sorgen, dass ‚du’ nicht mehr stehen kannst.“, sagte er ruhig und sah mir dabei intensiv in die Augen, immer noch mein Handgelenk umschlossen.
Ich schluckte hörbar und bekam tatsächlich… Angst vor ihm. Es würde mich nicht wundern, wenn er meinen Herzschlag so laut hörte wie ich ihn jetzt spürte. Die Iris seiner Augen blitzten für einen kaum wahrnehmbaren Moment jadegrün auf.
„Ich… Ich werde niemandem etwas sagen. Ich…“, meine Stimme war eine Oktave höher und in meiner Panik verhaspelte ich mich. Jeldrik ließ meine Handgelenke los und legte seinen Finger auf meine Lippen.
„Glaubst du wirklich, dass ich dich noch… zum Schweigen bringe, nachdem ich dich… kennen gelernt habe?“, fragte er und bedachte mich mit einem warmen Blick.
Ich schwieg und wartete darauf, dass er weiter redete.
„Ich hoffe, ich kann dir vertrauen.“, fing er zögerlich an und nahm seinen Finger von meinen Lippen. Taxierte mich aber weiterhin eindringlich. Ich nickte und sog scharf die Luft ein.
„Ich erzähle dir nur das Nötigste und du musst mir versprechen, nicht weiter zu fragen.“, seufzte er, ehe er weiter sprach.
„Ich bin… wir sind… so eine Art böse Engel.“, Jeldrik lächelte bitter. „Halb Dämon, halb Zyona um genau zu sein.“
„Zyona?“, unterbrach ich ihn und zog die Augenbrauen zusammen.
„Keine Fragen. Schon vergessen?“, sagte er bestimmt, doch stieß dann ergeben Luft aus. „Ich schätze, ihr würdet uns ‚Engel’ nennen.“
„Heißt das, du bist eine Art Gesandter Gottes?“
Er lachte abfällig. „Wenn du unter Gott jemanden verstehst, der andere für sich in den Tod schickt…“, flüsterte er, aber es schien nicht wirklich an mich gerichtet zu sein.
„Also nicht…“, stellte ich leise fest.
„Über unseren… oder unsere Gebieter darf ich dir nichts sagen.“
„Warum halb Dämon?“, seine Bitte von wegen keine Fragen, war mir herzlich egal. Schande über mich, ja.
„Weil Phelim und ich... also… wir sind ursprünglich Zyona, aber… haben uns vor einiger Zeit dem Regent der Finsternis angeschlossen.“
„Seid ihr dann die ‚Bösen’?“, fragte ich und kam nicht umhin spöttisch zu kichern.
Jeldrik verzog schmerzlich das Gesicht und ich bereute meine Frage augenblicklich.
„Ich wünschte, ich könnte nein sagen… aber das wäre gelogen.“, er seufzte und schloss die Augen. „Ja, wir sind die Bösen.“



***

Hey Leser(ich hoffe doch laut den Klicks, dass es da doch welche gibt :D), würde mich echt freuen, mal was von euch zu hören ;) Nur nicht so schüchtern :P Hier nochmal der Link: http://board.world-of-hentai.to/f211/blutfedern-maailma-lunastaja-125666/ Danke :*
 

SayaSayoko

Ungläubiger
Kapitel 6 - Die, mit dem dämonischen Zyona

„War… War der andere dann einer von den ‚Guten’?“, tippte ich an und bemühte mich den Gedanken zu umgehen, dass vor mir ein Wesen saß vor dem ich eigentlich Angst haben sollte. Ein ‚Dämon’.
Jeldrik schnaubte verächtlich und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die wohl belustigt aussehen sollte. Aber ich wusste es besser. Es troff vor Abscheu.
„Ja. Oder eher nein. Er ist nur von der Rasse der Vollblutzyona.“
„Und warum…“, murmelte ich leise für mich. Es war also einer von der Seite, auf der Jeldrik und Phelim einst gestanden hatten. Ich musste gar nicht erst fragen, ob die Zyona und Dämonen sich mit Abneigung gegenüber standen. Aus unerklärlichen Gründen war mir das auf Anhieb klar gewesen.
„Nein. Keine Fragen. Ich rede und du gibst dich damit zufrieden was ich dir erzähle – erzählen kann.“, sagte er so normativ, dass ich den Mund unverzüglich wieder zuklappte, als ich im Begriff war nachzufragen.
Um uns herum hörte man die Grillen singen und den Fluss rauschen. Menschen schrien und vergnügten sich mit ihres Gleichen, die schweren Ankerketten von Schiffen klirrten bis sie den Grund erreichten, irgendwo sang die Nachtigall ihr einsames Lied… Es war eine so friedvolle ‚normale’ Nacht in Maryland und dennoch erschien mir alles so überdimensional. Der natürliche Klang der Natur, des Lebens, der Menschen… Sie passten einfach nicht zu den Bildern meines ‚Traumes’… aus dem ich aus welchen Gründen auch immer nicht erwachte.
„Ich kann dir nur so viel sagen.“, fing Jeldrik nach scheinbar endlosen Sekunden des Schweigens endlich an zu sprechen. „Da ich ein Halbwesen bin, habe ich mehr Kraft, als normale Dämonen und mehr Sinne. Ich wurde aus zwei dynamischen Mächten, sagen wir mal ‚geschaffen’. Die meisten Exyus – so nennen wir Vollblutdämonen – und sogar Zyona treten uns mit sehr viel Respekt gegenüber, aber dieser Abschaum von Da-“, er räusperte sich. Seine Stimme hatte plötzlich einen bitteren Ton angenommen. „…der Zyona weiß etwas über uns, was ihm Vorteile verschafft. Bedeutende.“ Jeldrik schlug die Zähne zusammen und sah in die Ferne.
Zyona, Exyus. Mir schwirrte der Kopf. Welcher normale Mensch kam bei diesem Wesen-Wirrwarr schon mit? Ach, halt – verzeih. Jeldrik war ja überhaupt kein Mensch. Er war ein… ein…tja, was war er? Ein Zy-us?
„Er hat uns in der Hand.“, flüsterte Jeldrik kaum hörbar und ballte die Hände zur Faust.
„Wenn… Du sagtest doch, dass ihr immense Kräfte habt. Stärker als die Dämonen seid. Ich meine, hat der… der ‚Zyona‘ keine Angst, dass…?“ Ich boxte die Faust in meine andere Handfläche und gab ein dumpfes Geräusch von mir. Die Frage, ‚was’ er denn über sie wusste, unterdrückte ich mühsam.
Jeldrik kicherte kurz über meine lächerliche Imitation der Gewalt.
„Das sollte er. Brauch er aber nicht.“, seufzte er dann. „Uns ist es untersagt unseres Gleichen zu töten. Und wird dann ebenso mit dem Tod bestraft.“
„Aber ihr seid doch stärker. Ihr könntet euch doch wehren, wenn sie es vor hätten oder?“, entgegnete ich verständnislos. Wo war das Problem?
„Keiner legt sich mit dem Regent an.“, sagte er sachlich und sah mir dabei bestimmt in die Augen.


Seine Augen schimmerten leicht im sachten Licht des Mondes. Vielleicht sollte es mir Sorgen machen, dass ein Geschöpf der Finsternis mich dermaßen einfach in seinen Bann ziehen konnte. Aber im Gegenteil. Ich genoss seinen Blick, den ich einst hasste.
„Ist dir eigentlich klar, dass du mich gerade zu einem Mord überreden wolltest?“, fragte er schmunzelnd und ich zuckte zusammen.
So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Jeldrik sah wohl das Entsetzen, das sich unmissverständlich auf meinem Gesicht ausgebreitet hatte, denn er gluckste leise.
„Dann hätten wir das Thema wohl abgeschlossen.“, schlussfolgerte er auf mein Schweigen und sah fast… erleichtert aus. ‚Abgeschlossen’ traf es meiner Meinung nach jedoch überhaupt nicht. Mir kam es vor, als ob ich nur die Einleitung in ein Buch, welches dicker als die Bibel war, erhalten hätte – und selbst diese gekürzt wurde.
Ich wäre nicht Eveline Travis, wenn ich es bei seinen kargen Antworten belassen hätte. Aber wie es das Schicksal wollte klingelte just in diesem Moment mein Handy.
Eigentlich hatte ich nicht vor, ran zu gehen. Stattdessen wollte ich meinen Kopf, der nur so vor Fragen sprudelte, Antworten liefern, sobald das Klingeln endlich verklungen war. Doch Jeldrik stöhnte genervt und deutete mit dem Kopf auf meine Hosentasche, die mit ihrem Stoff etwas Viereckiges verbarg. Eine lautlose Aufforderung das Gespräch anzunehmen.
„Ja, Tyler?!“, murrte ich genervt ins Telefon, als ich es widerwillig doch aus der Hosentasche gezogen und den Namen auf dem Display gelesen hatte. Warum rief er auch immer in den ungünstigsten Momenten an? Wenigstens hatte ich jetzt keine Mascara zur Hand, die ich mir ins Auge befördern konnte…
„Das wird wohl doch langsam zur Gewohnheit mit dem freundlichen Umgangston, mh?“, mutmaßte er und lachte neckisch. Ich überging seine Stichelei, um das Gespräch kurz zu halten.
„Was gibt es?“
„Ist Jeldrik bei dir?“, gab er eine Gegenfrage zurück.
Ich stockte. War es unmoralisch, nein zu sagen, obwohl er genau vor mir saß? Tyler war sicher die Ruhe um mich herum aufgefallen. Was würde er denken, wenn ich mich zusammen mit Jeldrik ohne Abschied von der Party entfernt hatte? Ich kannte die Antwort und entschied mich kurzerhand für Nein.
„Nein. Weshalb?“, wollte ich dennoch wissen.
„Weil er mich abzulösen hat.“, kurze Pause. „Und ich möchte jetzt auch gehen.“ Damit entriss er mir den spannenden Roman endgültig.
„Oh.“, machte ich monoton und fügte dann zögerlich hinzu, nachdem ich Jeldrik geringzeitig nachdenklich angesehen hatte: „Aber ich weiß, wo er ist und… ich denke… er kann mich auch nach Hause fahren.“
So leicht kam Jeldrik mir nicht davon. Ich würde schon noch Möglichkeiten finden, ihn mit meinen Fragen zu löchern.
Er sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, schwieg dann jedoch und wandte seinen Blick mit einem frustrierten Seufzen von mir ab.
„Oh. Na gut…“, Tyler klang unsicher. „Dann… dann kann ich ja jetzt nach Hause fahren, oder?“
Verwirrt runzelte ich die Stirn. „Ja, natürlich. Spricht doch nichts dagegen, oder?“
„Ja…ja hast Recht.“, stammelte er und legte auf.
Kopfschüttelnd schob ich mein Handy zu und wieder in meine Hosentasche.


Jeldrik sah sich über die Schultern in Richtung Norden zum Festgelage, als ich meinen Blick wieder ihm zuwandte.
„Du musst Tyler jetzt ablösen.“, brach ich schließlich die Stille und schnaubte resigniert. Ich musste mich dem Schicksal wohl oder übel – vorerst – ergeben.
Jeldrik nickte schwach, immer noch zum Strand blickend. „Ich weiß.“, sagte er gedämpft ohne mich anzusehen.
Ich war schon – wenn auch widerwillig – im Begriff aufzustehen, doch noch ehe ich mich versah, hatte mich eine Hand an den Schultern wieder zurück auf den Stein gedrückt und verweilte auch weiterhin dort. Warmer Atem mit süßlichem Geruch strömte mir ins Gesicht, während die Hand von meinen Schultern über meinen nackten Arm glitt und an meiner Hand verharrte.
„Versprich mir, dass…“, Jeldrik zögerte. „Das klingt jetzt abgedroschen, aber…“ Er strich mir die Haare aus dem Gesicht, welche mir inzwischen strähnig vor die Augen gefallen waren und sah mich fast schmerzerfüllt an. „Du musst mir vertrauen.“, bat er mich dann schließlich eindringlich und seufzte.
Ich konnte nicht mehr als nervös „Okay“ zu piepsen und war unheimlich dankbar dafür, dass das Mondlicht zu schwach war um meine Röte im Gesicht sichtbar zu machen.
Jeldrik nahm seine Hand von meiner, streckte sie mir aber unmittelbar nachdem er sich erhoben hatte wieder entgegen. Es hatte mich unheimlich flatterig gemacht, sein Gesicht so nah vor meinem zu wissen. Ich war mir nicht sicher, ob meine Stimmbänder – und vor allem meine Seele selbst – sich wieder soweit beruhigt hatten, dass ich sprechen konnte, also nahm ich sie ohne Umschweifen und ließ mich von ihm zurück zum Fest ziehen.
Einem dämonischen Engel vertrauen… Ha! Sehr ironisch! Aber ich tat es.


Er ließ meine Hand auch dann nicht los, als wir unabdingbar leider doch den Weg zwischen die Büsche eingeschlagen hatten und in Sichtweite der tanzenden Meute waren. Und ich wäre nicht Eveline Travis, wenn ich ihm spätestens jetzt nicht meine Hand entzogen hätte. Tja… aber anscheinend schien ich wirklich nicht Eveline Travis zu sein, denn aus unerklärlichen Gründen ‚konnte’ ich seine Hand nicht los lassen. Ich hätte Jeldrik Wadim wegen fahrlässiger Freiheitsberaubung anzeigen können.
Einige bekannte Gesichter hatten ihre Blicke schon bevor Jeldrik und ich ins Licht der Fackeln traten, erstaunt auf uns gerichtet – oder viel mehr auf unsere Hände. Manche hatten sogar aufgehört zu tanzen und tuschelten ungehalten. Die Presse wäre nichts gegen diese sensationsgierige Masse.
„Und eine Anzeige wegen Nötigung.“, erweiterte ich meine Liste seiner Strafen so laut, dass nur Jeldrik es hören konnte. Widererwarten schien er sofort zu wissen, was ich meinte, drückte leicht meine Hand und kicherte gesellig.
Ohne jede Bemühung bahnte er uns einen Weg mitten durch die wild tanzenden Leute direkt zur Bühne. So geschenkt verlief es aber nur, weil sie uns ohnehin Platz machten, auch wenn nur deshalb, um uns besser begaffen zu können. Jeder, bis auf eine…
Christi bewegte sich nicht vom Fleck, als unser Weg unmittelbar ihren Tanzbereich kreuzte. Mit verschränkten Armen stand sie wie ein Türsteher vor Jeldrik und mir und schien mich in Gedanken zu erstechen. Als ihr wütender Blick in Jeldriks Gesicht wanderte, seufzte dieser genervt.
„Was läuft denn hier?“, fragte sie mit einem scheinheiligen Lächeln auf den Lippen. Mir war bis dato noch nie aufgefallen wie unangenehm schrill ihre Stimme klang.
„Siehst du doch. WIR laufen hier. Und jetzt mach Platz, Christi, ich muss spielen.“, ließ er so distanziert verlauten, dass in mir ein düsteres Lächeln hervorgerufen wurde.
Christi ließ entrüstet und mit offenem Mund die Arme neben ihren Körper sinken, dachte jedoch nicht daran aus dem Weg zu gehen, sodass Jeldrik wiederholt genervt stöhnte und sie sanft beiseiteschob.
Mit mir an der Hand drängte er sich ohne sie noch eines Blickes zu würdigen an ihr vorbei und ich meinte, ihn ebenso düster lächeln zu sehen wie ich es gerade getan hatte.
Es war unmanierlich, ich weiß, aber ich kam nicht umhin sie siegessicher anzulächeln. Sie quittierte es mit einem Blick, der hätte töten können, wenn sie die nötigen Fähigkeiten dazu gehabt hätte.


Dean und die restliche Band hielt die Menge momentan nur instrumental in Stimmung. Wie es schien war Tyler bereits nach Hause gefahren. Wenn die Band angefangen hätte zu singen, so wusste ich, wäre es in eine dilettantische Version des Ballermanns ausgeartet. Blamabel.
Als wir uns endlich soweit vorgedrängt hatten, dass wir vor der Bühne standen, umfasste Jeldrik meine Taille und hob mich mit einer erstaunlichen Leichtigkeit auf den Rand der Bühne. Ebenso geschmeidig schwang er sich wenig später auf die Bühne, schnappte sich die E-Gitarre, die an einer der massigen Boxen lehnte und ging auf direktem Wege zur Bühnenmitte vor ein vereinsamtes Mikrofon.
Probeweise tippte er gegen dieses, begrüßte dann das Getümmel und die Band sprang in einen anderen Takt über. Ich war darauf gefasst gewesen, dass Jeldriks Stimme – die ohnehin schon bezaubernd klang – mir mindestens genauso Gänsehaut bereiten würde wie die von dem Sänger der Band FM Static Trevor McNevan. Aber ich hatte mich geirrt. Sie klang besser. Weicher und irgendwie schmeichelnd.
Gewohnheitsgemäß schloss ich die Augen und gab mich die nächsten zwei Stunden dem Klang seiner Stimme hin…
Irgendwann legte die Band eine kurze Pause ein und Jeldrik hatte sich neben mir in die Hocke gesetzt.
„Hast du was dagegen, wenn wir sofort nach Hause gehen, wenn ich hier fertig bin?“, wollte er wissen und hatte sich noch ein Stück näher zu mir heran gelehnt, während Christi uns mit hasserfüllten Blicken strafte. Jeldrik schien es jedoch nicht einmal zu bemerken, erhob sich wieder nachdem ich den Kopf geschüttelt hatte und die Band spielte weiter.


Wie geplant verließen wir gegen halb vier nachts den Strand von Rock Hall durch die allseits bekannten Büsche. Nicht ohne neugierige Blicke im Rücken, versteht sich.
„Warte.“, verlangte er kurz angebunden und rannte zu einem der Sträucher, die um uns lagen.
Achtlos zerrte er irgendein großes Vehikel, welches ich als Motorrad identifizieren konnte, aus dem Geheck und klopfte anerkennend auf dessen Sitz. Der Lack seines eher weniger vorhandenen Schutzblechs glänzte leicht. Selbst ich erkannte, dass seine Maschine nicht mehr alle Schutzbleche vorwies, die es einst besessen hatte.
Jeldrik hob den Sitz an und brachte einen Helm, eine Motorradjacke und vermutlich einen Nierengurt zum Vorschein. Teilnahmslos hob ich eine Augenbraue und beobachtete ihn dabei wie er sich den Gurt umschnallte.
„Die hat auch schon so einiges mitgemacht, oder?“, fragte ich argwöhnisch und deutete auf das Stahl – und Kabelgewirr, welches nicht mehr von Schutzblech verborgen wurde. Ich konnte kein einziges Teil benennen. Jeldrik sah augenblicklich auf.
„Sie ist noch nicht fertig.“, murrte er dann und es klang fast so, als ob er das Ding, das er eben noch so lieblos aus dem Gebüsch gezerrt hatte, verteidigen wollte.
„Und warum versteckst du dein Prachtstück in einem Busch voller kratzendem Gestrüpp?“, fragte ich und hob abermals die Augenbraue.
„Weil es hier viele gibt, die auf eine Kawasaki Ninja sehr erpicht sind.“, erklärte er und seufzte genervt. Als ob das so selbstverständlich wäre!
„Und weil Stahl nicht so empfindlich gegen störrische Äste ist wie deine Haut. Kommst du jetzt?“, fragte er keck grinsend und hob mir die Jacke inklusive Helm entgegen.
Ich riss panisch die Augen auf. Ach du Schreck! Jetzt wurde auch mir klar, warum Jeldrik so skeptisch die Augenbrauen in die Höhe gezogen hatte, als ich Tyler sagte, er würde mich nach Hause fahren. Ich auf so einer Maschine? Ich schauderte. Jeldrik war selbst mit dem Auto schon ein unsittlicher Fahrer, wie ich gestern schon erfahren durfte. Wenn ich es mir Recht überlegte, wollte ich gar nicht erst wissen wie er sich auf einem Motorrad benahm. Mist, verdammter! Aber was blieb mir jetzt auch noch anderes übrig? Hättest mich ruhig vorwarnen können, dachte ich garstig.
Ungeduldig wedelte Jeldrik mit seinem Equipment herum und schwang sich dann schon mal auf seine Maschine. Ich stand noch eine Weile reglos da und starrte ihn an. Hin und her gerissen, ob ich mir nicht lieber doch eine andere Mitfahrgelegenheit suchen sollte, kaute ich nervös auf meiner Unterlippe.
„Eveline, komm jetzt. Oder ist es dir lieber, wenn ich dich fliege?“, drängte er und verdrehte die Augen. Fliegen? Wollte er mich jetzt…? Ach, Moment. Das konnte er theoretisch ja wahrhaftig tun. Doch sein Verhalten der letzten beiden Stunden war so menschlich gewesen, dass ich schier vergaß, was er wirklich war. Gedanklich schlug ich mir die Hand vor den Kopf.
Geistesgegenwärtig schüttelte ich den Kopf und machte taumelnde Schritte auf Jeldrik und seine Maschine zu. Mit zittrigen Händen nahm ich ihm erst die Jacke und dann den Helm aus den Händen. Den Helm zwischen die Beine geklemmt, schlüpfte ich umständlich in die Motorradjacke. Sie war mir mindestens fünf Größen zu groß, wenn nicht sogar mehr. Ich wollte mir gar nicht erst vorstellen wie lächerlich das aussah. Und schwer war sie! Mir war es ein Rätsel wie Biker solch bleierne Jacken tragen und gleichzeitig das Gleichgewicht halten konnten.
Jeldrik zog den Helm zwischen meinen Beinen hervor und drückte ihn mir auf den Kopf. Seine Finger fanden abermals unumgänglich Kontakt zu meiner Haut, als er die Riemen des Helms unterhalb meines Kinns zu Recht zog. Ausgerechnet am Hals – meine feinbesaitete Stelle! Ich kniff die Augen zusammen und biss mir auf die Unterlippe, um das Kichern zu unterdrücken.
„Empfindlich?“, schmunzelte Jeldrik leise, doch werkelte erbarmungslos weiter in der Nähe meines Halses herum. Ich antwortete ihm nicht. Denn ich wusste, dass, wenn ich jetzt den Mund aufmachte, meine Selbstbeherrschung den Bach runter fließen würde. Oh, bitte lass es schnell vorbei sein, betete ich in Gedanken.
Als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, legte Jeldrik gegen alle Erwartungen seine Hand an meinen Hals und kraulte mir provokant den Nacken. Das war es dann mit meiner Selbstdisziplin.
Erschrocken quiekte ich laut auf und sprang instinktiv ein paar Schritte zurück. Und Jeldrik? Tja, er lachte ungehalten.
„Ihr Menschen seit so amüsant!“, brüllte er und hielt sich die Hand an den Bauch.
Meine Augen wurden schmal und ich war drauf und dran – Dämon hin oder her – ihm an den Hals zuspringen. Doch gutmütig wie es manchmal war, verkniff ich mir sogar einen kratzbürstigen Kommentar und machte keine Anstalten mich hinter ihn auf seine Kawasaki zu schwingen, obgleich ich keine Ahnung hatte, ob der Sozius-Sitzplatz meinen kurzen Beinen überhaupt gerecht kam.
Zu meinem Glück – und meiner größten Zufriedenheit – konnte ich mich auch ohne nur das Heck mit dem Fuß zu streifen, hinter Jeldrik platzieren und legte ihm die Hände an die Seiten.
Seine Lachmuskeln verloren allmählich an Schwung und er ließ die Kawasaki mit einem Kickstart laut brummend an. Erschrocken schrie ich auf, als das Motorrad unter uns – wie es zu erwarten, aber ich dennoch nicht darauf gefasst war –zu beben begann. Reflexartig schlang ich gleichzeitig meine Arme um Jeldriks Mitte. Ich hörte ihn kichern und so was wie „Ich hätte dir eh geraten, dich besser fest zu halten“ über den lauten Motor hinweg rufen und er gab Gas. Die Reifen quietschten unter uns und fuhren dann mit einem Elan über den gekiesten Weg.


Wie ich es geahnt hatte, war sein Fahrstil auf zwei Rädern nicht weniger waghalsig als der auf vier. Sogar noch um einige Grade schlimmer. Nach weniger als 100 Metern hatte ich mein Gesicht an seiner Schulter verborgen und stellte mir vor, wie hinter uns nur noch Staubwolken zu sehen waren. Und ich hätte schwören können, dass es auch genauso aussah wie man es aus Actionfilmen kannte. Auf das Wissen, wie hoch die Tachonadel nach nur wenigen Sekunden gestiegen war, hatte ich gut und gerne verzichtet. Viel mehr machten mir aber noch die Kurven Angst, in welche sich Jeldrik meines Erachtens nach viel zu sehr reinlegte. Jedes Mal kämpfte ich mühsam gegen das Verlangen an, einen Fuß auf den Asphalt zu stellen, um uns vom Boden abzustoßen und uns somit wieder in die Gerade zu bringen. Aber ich wusste natürlich, dass ich damit nur das Gegenteil erreicht hätte. Und auch auf diese Erfahrung wollte ich dankbar verzichten.
Ich kann nicht sagen, wie erleichtert ich schlussendlich war, als Jeldrik eine viertel Stunde später vor meinem Haus den Motor ausschaltete und ich befreit gedanklich den Boden küsste, den ich nun wieder untern den Füßen spüren durfte. Auch wenn die Fahrt noch ein gewisses Schwindelgefühl nach sich zog und ich somit genauso unsicher auf dem Grund schwankte wie ich auch hinter Jeldrik saß.
Dass Jeldrik mich beim Arm nahm und behutsam zum Haus zog, als auch er von seiner Maschine gestiegen und wieder alles unter dem Sitz verstaut war, bewies mir, dass mein Wanken wohl offensichtlicher zu sein schien, als ich es vermutet hätte.
„Du bist ganz schön müde, oder?“, flüsterte er ungelenk, als ob er nichts Besseres zu sagen wüsste und zog mich neben sich auf den Treppenabsatz vor der Haustür. Müde, Ha! Ich wäre fit wie ein Turnschuh, wenn unser Renommist etwas mehr Rücksicht auf die weniger Geschwindigkeitsgewöhnten unter uns genommen hätte.
„Mh-mh“, machte ich und schüttelte leicht den Kopf. Mir war übel, ansonsten war mein Körper ausgeruht! Abgesehen von meinen Augenlidern… Ich gähnte herzhaft und Jeldrik schmunzelte. Na gut, ich wurde wahrhaftig langsam müde. Aber es gab einfach noch zu viele Fragen, die in meinem Kopf schwirrten. Bevor diese nicht beantwortet wären, könnte ich ohnehin nicht schlafen.
„Du, Jeldrik?“, fing ich vorsichtig an und bemühte mich fit zu klingen. Jeldrik legte sich die Hände in den Nacken, überkreuzte die Beine und lehnte sich gegen die hölzerne Haustür. „Mh?“, gab er dann von sich und schluckte hörbar.
„Wer… also…“, ich zögerte und biss mir wie schon so oft an diesem Abend auf die Unterlippe. Der Himmel war dicht bewölkt, selbst der Mond schien verschwunden zu sein, welcher mir heute schon mehrmals ehrenvollen Dienst erwiesen hatte. Zum Beispiel um die Konturen von Gestalten im Mondlicht besser erkennen zu können…
„Wie ist das denn bei euch? Ich meine, du und Phelim ihr seid hier und… na ja, scheint ein einigermaßen ‚normales’ Leben zu führen… Der Zyona auch?“
Ich hörte wie Jeldriks Zähne aufeinander schlugen. „Ein Nachleben.“, verbesserte er mich scheinbar automatisch. WOW, ich hatte eine Antwort erhalten. Na ja, wenn auch nur indirekt… und eine weitere Frage dazu… Verflucht!
„Ein Nachleben?“
Er seufzte qualvoll. Kurz überlegte ich, ob er wohl besser sehen konnte als normale Menschen und ihm mein neugieriger Blick aufgefallen war, aber ich hatte keine weitere Gelegenheit weiter darüber zu grübeln.
Ich hörte, dass er sich bewegte. Augenblicke später blies mir warmer Atem ins Gesicht. Das beantwortete meinen Gedankengang.
„Keine Fragen.“, hauchte er und ich schluckte hörbar, denn sein Atem war meinem Mund plötzlich näher als erwartet. Ein zarter, warmer Windhauch kitzelte mir über die Lippen und meine Nackenhärchen stellten sich auf.
Irgendwo läuteten die Kirchenglocken. Ich war in diesem Moment zu derangiert, als dass ich genau ausmachen konnte woher das Geläut kam, obgleich ich im Normalfall genau wusste wo sich die Kirche befand.
Nach dem vierten Schlag war eine kaum wahrnehmbare Pause, die Glocken nahmen einen tieferen Klang an und läuteten einmal… Zweimal.
Zittrig glitt mein Atem durch meine Lippen und meine Gedanken vernebelten sich zunehmend. Trotz, dass ich nur seine Konturen in der währenden Dunkelheit ausmachen konnte, machte mich die Tatsache oder eher die bloße Vermutung, sein Gesicht so nah vor meinem zu haben, schrecklich nervös. Ich blinzelte ein paarmal umnachtet, ehe ich die Augen schloss und abwartete, was geschehen würde. Zwischen uns herrschte prickelnde Elektrizität, sie durchfuhr mich wie ein schwacher Stromschlag. Die Sekunden verstrichen, nichts geschah. Obwohl das Kribbeln standhielt, wurde die Situation von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Enttäuschender.


Als ich schließlich blinzelnd meine Lider wieder öffnete, traf mein Blick auf flussgrüne, funkelnde Augen. Der Himmel hatte sich inzwischen Dunkeltürkis gefärbt, sodass ich Jeldrik einigermaßen erkennen konnte. Wie lang hatte ich denn vor ihm gesessen und absurd die Augen geschlossen gehalten? Sein Mund war leicht geöffnet, sein Blick sah seltsam leer und resigniert aus. Nur mit Mühen schaffte ich es, meinen Blick von ihm zu reißen und mich leise zu räuspern, während ich meinen Kopf abwandte.
Ein kühler Windhauch aus östlicher Richtung blies mir die Haare ins Gesicht und verursachte mir eine Gänsehaut. Ich schlotterte. Hotpants und Top erwiesen sich selbst im Hochsommer als äußerst unangebracht, was solch späte Stunden betraf. Was mir dummen Gans auch wieder reichlich früh einfiel. Ich seufzte.
„Ich glaube, für heute ist genug. Geh rein und schlaf dich aus.“, meinte Jeldrik, der mich plötzlich mit gewissen Argwohn beäugte, aber beruhigender war als diese Leere eben. Ich nickte unsicher und rappelte mich dann unbeholfen von dem kalten Marmorboden auf.
Jeldrik tat es mir wenig später gleich, als ich den Hausschlüssel aus meiner Hosentasche gefingert und ins Schloss gesteckt hatte und sprang den Treppenabsatz hinunter. Er war auf halbem Wege schon bei seinem Motorrad, als ich irritiert die Hand vom Schloss sinken ließ und ihm ängstlich nachsah.
„Nein, du…“, rief ich und er sah mich fragend an. „Du… Geh nicht.“, bat ich und streckte ihm meine Hand entgegen. Jeldrik blieb noch eine Weile unschlüssig stehen. Seine Maschine stand vor unserem Gartentor am Straßenrand.
„Du kannst sie in unsere Garage stellen.“, meinte ich, als ich sein Problem erkannt hatte und ließ die Hand zurück neben meinen Körper fallen. Er schien noch kurz zu überlegen, nickte dann aber und hüpfte auf seine Kawasaki zu, während ich mich wieder dem Haustürschloss widmete.
„Wo geht die Garage denn auf, Eve?“, hörte ich wenig später klar und deutlich seine Stimme, obwohl ich bereits im Korridor stand und auf ihn wartete.
Ach ja, klar. Unsere Garage öffnete sich nur auf einen Code.
„Warte.“, rief ich und stolperte zurück nach draußen zur Garage. Jeldrik sah mich kurz verwirrt an, als ich um die Ecke bog und mich an einem weißen Kästchen, welches an der Hauswand angebracht war, zu schaffen machte. Schob dann jedoch wortlos sein Motorrad hinters Tor und folgte mir ins Haus und in mein Zimmer.


„Willkommen in meinem bescheidenen Reich.“, flötete ich, als ich meine Zimmertür hinter ihm schloss.
Meine Wände waren hellviolett gestrichen und manchen Ecken wurden von schwarz aufgezeichneten Ranken geziert. Neben einem großen Metallschrank, der die gesamte westliche Wand einnahm, einem Schreibtisch vor dem einzigen – aber gigantischen – Fenster und meinem eisernen Himmelbett neben der Tür gestalteten grüne Pflanzen und graue Poster von Menschen in ihrer natürlichen Umgebung den Raum.
Jeldrik stieß einen anerkennenden Pfiff aus und steuerte aufs Bett zu. Mit einem lauten Seufzer ließ er sich quer auf es fallen und schloss die Augen. Die Situation war irgendwie ziemlich beklemmend. Außer Tyler und meinem Vater hatte noch nie jemand anderes Männliches auf meinem Bett gelegen. Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen und sah mich unsicher im Raum um.
Durchs Fenster konnte ich sehen, dass sich die Sonne am Horizont zum Aufbruch bereit machte und ich schnaubte unzufrieden. Wenn ich eines hasste, dann Licht beim Einschlafen.
„Ich… geh mich mal umziehen und so was.“, stammelte ich. Jeldrik ließ die Augen geschlossen und nickte schwach.
Einen Moment stand ich noch zögernd im Raum, schnappte mir dann aber mein Schlaf-T-Shirt, welches ich morgens immer über meine Schreibtischstuhllehne schmiss und verließ eilig mein Zimmer.
Stöhnend lehnte ich mich von außen gegen meine Tür und widerstand dem Drang gegen sie zu schlagen. Was hatte ich mir eigentlich dabei gedacht, ihn noch mit rein zu schleppen? Ich lachte abfällig. Gar nichts, genau. Schnaubend fuhr ich mir durch die Haare und befahl meinen Beinen sich Richtung Bad zu bewegen.
Im Spiegel über dem Waschbecken sah mir ein Mädchen mit leichtem aprikofarbenem Teint entgegen. Um ihre Augen lagen dunkle Ringe von ihrer verschmierten Mascara. Die langen schwarzen Locken, sie sonst immer voluminös um ihr Gesicht lagen, klebten bis zu einer Delle knapp unterhalb des Kinns an ihrem Kopf. Vermutlich von dem Helm, den sie davor getragen hatte. Ihre schmalen Lippen sahen trocken aus.
„Kein Wunder, dass er dich nicht küssen wollte.“, sagte ich zu dem Mädchen, das mein Spiegelbild war, seufzte und wendete den Blick von ihr ab.
Am Waschbeckenrand lagen noch verstreut meine Schminkutensilien von heute – nein, gestern Abend. Zerstreut wechselte ich immer wieder den Blick zwischen dem Mädchen vor mir und meiner Mascara. Es wäre albern sich jetzt vor dem Schlafengehen nach zu schminken, oder?
Kopfschüttelnd verwarf ich den Gedanken wieder und ließ alles in einer Schublade unter dem Waschbecken verschwinden, ehe ich mir einen Waschlappen schnappte und mein Gesicht von Kosmetik befreite.


Als ich zurück in mein Zimmer kam, brach die Sonne schon minimal hinterm Horizont hervor und hatte den Himmel in helles Orange getaucht.
Jeldriks Schuhe lagen vor meinem Bett, er lag mit dem Rücken zur Wand im hinten Teil meines Bettes und schnaufte friedlich. Er schlief. Ich blinzelte noch mal zum Fenster, ging dann aber auf Zehenspitzen, als ich mich entschlossen hatte, dass es zu laut gewesen wäre die Jalousien herunter zu lassen, zum Bett und legte mich eng vor ihn. Er schnaubte unruhig, legte dann wahrscheinlich unbewusst einen Arm um meine Mitte und nahm den Takt seines friedlichen Atmens wieder auf. Keine fünf Minuten später war auch ich im Land der Träume – obgleich ich mir nicht sicher sein konnte, ob ich das nicht schon die ganze Zeit gewesen war.
 
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