SayaSayoko
Ungläubiger
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(vorübergehendes Titelbild)
Autor: SayaSayoko (Sarah)
Klappentext: Keiner vermag zu wissen, welche Wesen sich wirklich hinter den Wadims verbergen. Mit ihrer gehaltenen Eleganz und dem graziösen Charme sind sie nahezu unwiderstehlich. Diese Ansicht vertritt auch die junge Eveline voll und ganz. Es ist ihr schier unmöglich sich von dem mysteriösen Jeldrik fernzuhalten, selbst als er alles woran sie je geglaubt hat ins Wanken bringt. Und nicht nur das, genaugenommen bringt er sogar ihr ganzes Leben ins Wanken. Was früher oder später jedoch ohnehin geschehen musste, wenn man sich mit gefallenen Engeln herumschlägt.
Auszug: […] selbst jetzt… mit einer feinen Wunde, die sich von seiner Stirn über die Augenbraue erzog, … raubte sein Anblick mir den Atem. Auch die gräulichen Aschflecken auf der Haut nahmen ihm keinen Deut meines Begehrens. Ich nahm sie als Narben unserer Liebe. Auch wenn uns jetzt womöglich das gemeinsame Leben genommen werden sollte; unsere Empfindungen für einander würden uns auf Ewig erhalten bleiben.[...]
Soundtrack: Breaking Benjamin - Evil Angel
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Genre: Darkphantasie/-Mysteryromanze (keine Vampirgeschichte!)
Anmerkung: Hab mir ein paar Elemente und Namen aus der nordischen Mythologie geliehen, aber eigentlich wenig Legenden davon übernommen, sondern meine eigene gebastelt x) Personen, sowie die Wesen "Zyona" und "Exyus" entspringen allesamt meiner Fantasie! Mögliche Ähnlichkeiten sind Zufall, gibt es aber denk ich nicht^^.
Schauplätze: - gibt es wirklich, nur vielleicht nicht so wie ich sie beschreibe
Genug geredet - Enjoy!!
***
PROLOG
Bifröst(Dimensionenportal)
Voller freudiger Erwartung eilte sie über den breiten, weisen Schleier. Um sie herum war nichts als Leere. Wie ein tiefschwarzer Vorhang umzäunte die Dunkelheit den hellen, bodenlosen Weg, den sie entlang schwebte.
Sie kannte die Umgebung. Sie war hier schon einige Male gewesen, wahrscheinlich öfter als es irgendjemandem vergönnt sein sollte. Und dennoch fühlte es sich immer noch so ungewohnt befreiend an als wäre es das erste Mal.
Sie war sich sicher, das richtige getan zu haben, auch wenn es diesmal mehr schmerzte als bei ihren davorigen Leben.
In der Welt, in der sie sich die letzten Jahre aufgehalten hatte, würde man sagen, dass dies doch keine Lösung gewesen sei, es einen anderen Ausweg gegeben hätte. Aber wie könnte sie es den Sterblichen verübeln? Sie selbst war viele Jahre dieser Meinung gewesen und verabscheute das, was sie vor wenigen Augenblicken getan hatte. Doch sie wusste, dass sie nur so der Lösung bald einen Schritt näher sein konnte. Immerhin waren die menschlichen Hilfen ihr nicht von Nutzen.
Ihr tat es Leid, so über ihre Familie denken zu müssen. Und vor allem sie einfach ohne jegliche Erklärung zurück gelassen zu haben, aber es war die einzige Möglichkeit sie zu schützen. Und das ermutigte sie.
Noch immer konnte sie vor sich einzig den erleuchtenden Weg ausmachen. Die Finsternis verbarg in ihrer scheinbar endlosen Tiefe das Portal, ihr Ziel.
Und einige andere Dinge, die ihr zum Verhängnis wurden.
Sie sah ihn nicht kommen. Es war zu dunkel, um außer dem Pfad, überhaupt etwas erkennen zu können – wo es normalerweise ohnehin nichts als Leere zu sehen gab.
Es war ein Leichtes sie unerwartet anzugreifen, da ihr Horizont im Moment nicht hundertachtzig sondern nur dreißig Grad zu reichen schien. Es ist feige jemanden von hinten zu überfallen, das wusste er. Doch seit wann scherte er sich darum, was fair war oder nicht? Er war der geborene Intrigant. Es saß ihm quasi in der Seele niederträchtig zu sein.
Er sprang rapide hinter ihr aus dem Nichts – buchstäblich. Es blieb ihr nicht einmal die Zeit, seine Aura wahrzunehmen.
Ein schriller, erschrockener Schrei entfloh aus ihrer Kehle und brach die neuralgische Stille, was die Atmosphäre nun nicht gerade angenehmer machte.
Sie spürte den harten, mächtigen Körper hinter sich, welcher mit geschickten Bewegungen ihr den Arm hinter ihrem Rücken verdreht hatte und ihn nun schmerzhaft nach oben schob. Er machte es ihr unmöglich ihren Oberkörper zu bewegen. Und als sie instinktiv versuchte nach ihm zu treten, erklang ein metallisches Zischen, woraufhin er ihr keine Sekunde später etwas Hartes und Spitzes ans Rückgrat drückte. Sie erstarrte.
„Tere tulemast*, Frea.“, flüsterte er gefährlich nah an ihrem Ohr. „Wir wussten beide, dass es eines Tages so enden würde, nicht wahr, armas*?“
Sie erwiderte nichts, doch ihre zitternden Atemzüge verrieten ihm ihre Angst. Er lächelte maliziös und verstärkte den Druck der Klinge.
„Du wirst brav mitkommen, nehme ich an?“, fragte er spöttisch. Er erwartete keine Antwort, sondern führte sie vom Weg ab, geradewegs auf den schwarzen Vorhang zu.
Innerlich verfluchte sie Heimdall mit seiner dämlichen Vorsichtsmaßnahme. Dank ihm und Forseti war sie auf der Bifröst* lediglich ein beseelter Körper, der außer seiner Schönheit keine Göttlichkeit ausstrahlte.
In diesem Augenblick sehnte sie sich mehr als je zuvor nach ihrer Macht. Es wäre töricht und naiv sich jetzt gegen einen Gott wehren zu wollen, so vollkommen schutzlos. Sie brauchte die überirdische Energie in ihren Adern, um die einfältige Angst vertreiben zu können, die allein seine Stimme in ihr hervorrief.
Sie kannte den betrügerischen Gott hinter sich nur zu gut. Sie wusste, dass er bald mehr als nur direkte Drohungen anwenden würde, um sie sich unterwürfig zu machen.
„Warum… machst du es nicht kurz, …Vé?“, wollte sie wissen und versuchte das Bibbern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Vergebens.
Er lachte daraufhin höhnisch auf, bevor er ihr antwortete. „Weil ich das Vergnügen liebe, das weißt du doch.“, sagte er schlicht. Sie meinte, erneut ein Lächeln in seiner Stimme herauszuhören.
Die Dunkelheit tat sich auf. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich blind von ihm in die Schwärze führen zu lassen.
Ein junger Mann stand stetig am Rande des Geschehens. Schweigend und beobachtete.
Sie bemerkte ihn erst, als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten und die Schwärze sich grau gefärbt hatte.
„Machen wir doch ihrem Leid ein Ende.“, sagte die Gottheit in vorgetäuschter Güte an den jungen Mann gewandt. „Ich danke dir.“
„Bitte.“, antwortete er tonlos, doch in ihr tobten verzweifelte, freudige Hilferufe, als sie seine Stimme erkannte.
„Gott sei Dank.“, wisperte sie und machte ihrer Hoffnung Luft.
„Hilf mir!“ Es war kaum mehr als ein Piepsen.
Sie hörte, dass der junge Mann die Zähne knirschte. Und das war dann auch sein einziger Akt auf ihre Bitte gewesen.
Sie starrte ungläubig in das Gesicht des Mannes, obwohl sie nur seine Konturen erkennen konnte.
„Nägemiseni*“, raunte Vé und dann tat er das, was für sie schon die ganze Zeit offensichtlich gewesen war.
* „Tere tulemast“ = estnisch Guten Abend(vorkommende Fremdsprachen sind immer estnisch. Außerdem kann es sein, dass sie nicht immer zu 100% korrekt übersetzt sind - bin ja schließlich auch keine Estnin :P)
* „Armas“ = meine Liebe
* Bifröst = so nennt man laut der nordischen Mythologie die ‚Brücke’ zwischen Himmelsreich und Erdenwelt(in meiner Geschichte gibt es aber kein Himmelsreich, sondern den ‚Götterpalast’)
* „Nägemiseni“ = Gute Nacht
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Kapitel 1 - Die, mit den Perlen
Als ich die schwere, hölzerne Bibliothekstür hinter mir zugezogen hatte und ins Freie trat, machte der Himmel mit einem tiefen Grollen auf sich aufmerksam. Feine, graue Wolken überdeckten den Himmel, der vor wenigen Minuten noch strahlend blau über Chestertown geweilt hatte. Nun händigten sie der Stadt warmem Nieselregen aus.
Ich stöhnte und hielt mir die weiße Plastiktüte mit den Büchern über den Kopf, die mich zumindest etwas vor der Nässe schützen sollte.
Ich, vom Teufel gesegnetes Mädchen und daher vom Pech verfolgt, hatte versagt, als es darum ging, wer die Bücher für unser Geschichtsprojekt aus der Bibliothek zu besorgen hatte. Und da Kylie und Tyler die Vorstellung, ihre kostbare Freizeit in Bibliotheken zu verbringen, genauso wenig reizte wie mich waren sie mir erbarmungslos in den Rücken gefallen und machten mir diese Aufgabe Zuteil. Der Verrat an der ganzen Sache war ja, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal anwesend war, um zu protestieren.
So kam es also, dass ich an einem schwülen, regnerischen Sommertag trotz Führerschein durch die Straßen von Chestertown trottete. Schutzsuchend unter den schmalen Dachvorsprüngen der Kaufläden, nachdem ich festgestellt hatte, dass die Tüte als Regenschirmimitat nicht wirklich was taugte.
Der Nieselregen verwandelte sich binnen Sekunden in einen mäßigen Niederschlag und ich musste bestürzt zusehen, wie die lauen Windböen die Tropfen unter meine Dachtraufen jagten und somit meine Schutzvorkehrung zu Nichte machten. Gedanklich schmiss ich Petrus anklagende Worte entgegen und beschleunigte meinen Gang. Doch ich sollte nicht weit kommen.
Plötzlich rannte ich unachtsam gegen einen harten Widerstand, der unerwartet von rechts in Form eines jungen Mannes aus einem der Läden aufgetaucht war. Unsere Kollision stieß mich unsanft in Richtung Straße, woraufhin ihm – ebenso wie mir meine Tüte – etwas Kugeliges aus den Händen und kaum hörbar klirrend zu Boden fiel. Das konnte ich auch nur als dergleichen identifizieren, weil ich prompt darauf ausrutschte. Unheil erahnend knackste es unter meinen Füßen und im nächsten Moment fand ich mich auch schon auf dem Asphalt liegend und attackiert von tausend kühlen Wassertropfen wieder. Ich war hart mit dem Kopf aufgeprallt. Als ich mich mit leichtem Schwindelgefühl wieder aufrichtete, wünschte ich mir augenblicklich das Bewusstsein zu verlieren.
Bemerkenswert kräftige, flussgrüne Augen trafen die meine und sahen mich aus seinem wunderschönen Gesicht so vernichtend an, dass ich eigentlich tot hätte umfallen müssen – wenn ich im ersten Moment denn schon bemerkt hätte, dass er diesen Blick mir widmete. Aber wer einmal von diesen Augen visiert wurde, ‚kann’ an gar nichts anderes mehr denken als an den smaragdgrünen Farbring um seine Pupillen.
Sobald ich realisiert hatte, dass sein Blick auf keinerlei Freundlichkeit hinwies, versuchte ich meiner Intuition entsprechend meine Augen zu Schlitzen zu verengen, auch wenn ich noch nicht genau wusste, woher diese plötzliche Abscheu gegen mich her kam. Ich meine, ein Zusammenprall zweier Menschen kam doch in jeder zweiten Sitcom vor, ohne größere Katastrophen mit sich zu bringen. Außerdem war er mir in den Weg gelaufen! Warum also sah er mich so an als ob ich gerade seinen toten Hund wieder ausgegraben hätte?
Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Blickduell ausgehalten hatte – wahrscheinlich nicht mal eine Minute – aber irgendwann sah ich ein, es verloren zu haben und sah mich resigniert nach meinen Büchern um.
Zu meinem Bedauern fand ich sie aus der Tüte gerutscht und eines davon aufgeschlagen mit der Innenseite auf den nassen Pflastern neben mir wieder. Na toll.
Ich grummelte und rappelte mich wenig elegant wieder auf die Beine. Darauf bedacht seinem Blick nicht noch einmal zu begegnen, wandte ich mich von ihm ab und sammelte die inzwischen vom Regen durchweichten Bücher auf. Na, zurück in die Bibliothek konnte ich die jedenfalls nicht mehr bringen. Die durfte er mir gefälligst ersetzen!
Wut schnaubend drehte ich mich zurück in seine Richtung. Wider erwarten blickte ich nicht in ein Antlitz voller Zorn, sondern in eine schmerzverzerrte Maske, die mich in der Bewegung erstarren ließ. Der junge Mann hatte sich zwischenzeitlich ebenfalls abgewandt und kniete auf dem nassen Asphalt, was ihn scheinbar nicht zu stören schien. In seiner linken Hand hielt er eine antik aussehende Perlenkette, an deren Ende ein goldenes, kleines Medaillon baumelte. Mit der freien Hand sammelte er irgendetwas vom Boden auf, was ihm offenbar…wehtat. Sein Kiefer war aufeinander gepresst und es hätte mich nicht gewundert, wenn er augenblicklich losgeheult hätte.
Ich wagte einen Blick auf die grauen Pflaster vor ihm.
An mir nagte augenblicklich das Gewissen.
Zwei aprikofarben schimmernde Perlen lagen vor ihm und waren allem Anschein nach, von der Kette abgebrochen. Ohne weitere Umschweifen, befahl ich meinen Beinen in die Gänge zu kommen und kniete mich ihm gegenüber.
„Tut mir Leid.“, murmelte ich und wollte mich schon daran machen, ihm beim Einsammeln der Perlensplitter zu helfen.
Doch bevor meine Fingerspitzen auch nur in die Nähe der Perlen kamen, ließ mich ein abfälliges Zischen seinerseits innehalten.
„Verschwinde.“, zischte er barsch und ich sah, dass er auf seinem Oberschenkel eine Hand zur Faust geballt hatte, ehe ich in seine glanzlosen Augen sah, dessen Blick anklagend auf mir lag. Für einen Moment war ich noch wie benommen und starrte in sein reserviertes Gesicht.
Ich blinzelte verwirrt, um meine Fassung wieder zu gewinnen und erwiderte seinen Blick.
„Schön!“, meinte ich dann schnippisch und richtete mich auf.
Einen kleinen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, noch einmal, aber diesmal mit voller Absicht, auf die Perlen zu treten. Dann aber entschied ich, dass mein Zicken-Image auch ohne diese Aktion bestehen bliebe und eilte die vertrauten Straßen entlang, Richtung Heim.
Der Regen ließ natürlich nicht nach. Das hatte ich auch gar nicht erwartet. Und verwunderlicher weise störte es mich nicht einmal. Im Gegenteil, ich war sogar dankbar, dass er wohl versuchte mir die Wut aus dem Gesicht zu waschen. Was war das aber auch für ein eigenartiger Kerl gewesen?
Ich ballte die Hände zu Fäusten und versuchte den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich auf einmal das Bedürfnis in Tränen auszubrechen. Im Regen würde es ohnehin niemandem auffallen. Aber ich schämte mich vor mir selbst und so unterlies ich es, diesem Bedürfnis nachzukommen und biss mir auf die Unterlippe, während ich an den üppigen Backsteinhäuser vorbeistürmte. Diese waren eine der Touristenattraktionen. Eine Kultur unseres süßen Städtchens Chestertown. Auf mich wirkten sie ziemlich trostlos. Manchmal kam es mir so vor, als ob ich immer und immer wieder nur im Kreis lief, als würde ich gehen und nicht von der Stelle kommen wie das in Albträumen üblich ist. Alle sahen sie gleich aus. Tragischerweise lebte ich in einem dieser Häuser.
Ich konnte von Glück reden, dass auf der gegenüberliegenden Straße mich nicht ein weiteres Backsteinhaus frech anlächelte, sondern stattdessen eine bemerkenswert schöne Reihe von Fliederbäumen die Straße zierte.
Zuhause angekommen, hatte ich mich wieder einigermaßen in den Griff bekommen. Meine Wut war der Verwirrung gewichen, was nicht wirklich eine Besserung war. Nun biss an mir die Neugierde. Hatte ihm die Kette viel bedeutet? War sie sehr wertvoll? Von wem beziehungsweise ‚für‘ wen war sie? Seine eigene wohl kaum. Und warum interessierte mich das überhaupt?
Im Korridor schmiss ich die Tüte achtlos neben eine Kommode und wollte fast ohne weiteres in mein Zimmer stampfen. Dann jedoch hielt ich inne, als mein Blick auf das mit Metallrosen umrahmte Bild, welches oberhalb der Kommode hing, fiel. Ich lächelte verzückt und stellte mich vor das Bild. Es zeigte eine wunderhübsche Frau mit schwarzen kinnlangen Haaren, die stachelig in alle Richtungen standen. Ihre haselnussbraunen Augen waren von dichten schwarzen Wimpern umrahmt und sahen mir freundlich direkt in die Iris. Die leicht glänzenden Lippen wurden von einem bezaubernden Lächeln umspielt.
„Verzeihung – Hallo, Mom.“, murmelte ich, küsste meine Fingerspitze und drückte sie meiner Mutter auf die Lippen.
Meine Mutter starb vor vier Jahren. Ohne jegliche Vorwarnung war sie in der Woche vor meinem 14. Geburtstag eines Nachts unauffindbar verschwunden. Passanten zogen sie am Tag meines Wiegenfestes tot aus dem Chesapeake Bay. Seitdem feierten mein Dad und ich weder meinen noch seinen Ehrentag. Den angeblich schönsten Tag des Jahres, den Andere in Discotheken oder ähnlichem verbrachten, verbrachte ich auf dem Friedhof.
Ich seufzte tief über diese neuerlich bittere Tatsache, strich mit den Fingern über das Glas vor dem Gesicht meiner Mutter und begab mich in die Küche.
Am Esstisch saß mein Dad mit einem Wirrwarr von weißen und vergilbten Blättern vor sich.
„Irgendwo hier muss sie doch sein…“, murmelte er nachdenklich und kaute auf dem Zahnstocher in seinem Mund herum.
Die Luft roch noch nach vertrockneten Gewürzen von den Bratkartoffeln, die sich mein Vater vor wenigen Minuten wohl gegönnt haben musste.
Als ich ein Blick in seine Richtung warf und gerade zu einem Hallo ansetzten wollte, knallte er mit der geballten Faust und scheinbar mit aller Kraft gefrustet auf die hölzerne Tischplatte. Ich zuckte erschrocken zusammen und verschluckte meine dürftige Begrüßung wieder.
Mein Vater fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelbraune Haar, dessen Ansatz inzwischen wieder grau zu werden drohte.
Ich stand noch immer im Türrahmen, als ich mich räusperte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er sah mich mit unendlich müden Augen, unter denen sich leichte Falten abzeichneten, an und atmete schwer aus.
„Du solltest mehr schlafen, Dad.“, kommentierte ich sein Abbild und verschränkte die Arme vor der Brust.
Anstatt mich der Höflichkeit halber zunächst zu begrüßen oder auf meine Bemerkung einzugehen, machte er mir seiner Verärgerung sofort Luft.
„Entweder werde ich langsam alt und nähere mich dem Alzheimer oder aber meine Kollegen sind zu blöd, wichtige Unterlagen am richtigen Ort zu verstauen. Nämlich auf meinen Schreibtisch! Seit 4 Tagen such ich nun nach dieser verdammten Gabriella McGurdian!“ Er versuchte die verstreuten Blätter wieder einigermaßen aufeinander zu schieben und prägte dabei einige davon mit Knicken an den Ecken, aber das schien ihn nicht zu kümmern. „Was glaubst du, würde es für einen Skandal in der Stadt geben? Oh Gott, ich sehe die Schlagzeile schon vor mir. ‚Kant and Queen Anne‘s Hospital verschlampt private Unterlagen‘.“
Wie ein Grundschüler, der in aller Eile seine Hefte in die Tasche packt, um den Bus nicht zu verpassen, stopfte mein Vater die losen Blätter in seine Aktentasche und erhob sich vom Stuhl.
Als er auf mich zukam und meinen überforderten Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte er tief und machte vor mir Halt.
„Tut mir Leid, Eveline, Schätzchen. Aber als Chefarzt hat man es eben nicht immer leicht. Entschuldige bitte, dass du das immer zu spüren bekommst.“
Er legte sanft seine große, raue Hand an meine Wange und versuchte sich an einem Lächeln.
„Schon in Ordnung.“, sagte ich und erwiderte sein Lächeln, wobei es bei mir um einiges gekonnter aussah.
„Du weißt, wenn du-“, begann er, aber ich unterbrach ihn.
„Ja, wenn ich Unterlagen von Gabriella McGurdian finde, bringe ich sie dir.“
Er lächelte, aber diesmal ohne es erzwingen zu müssen.
„Ein Anruf tut’s auch!“
Mit diesen Worten nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und verließ den Raum, seine Aktentasche hatte er sich bereits unter den Arm geklemmt.
Wenig später hörte ich die Haustür ins Schloss fallen und war allein. Allein wie ich es inzwischen schon gewohnt war.
Seit dem Tod meiner Mutter stürzte sich mein Vater regelrecht in seine Arbeit. Stetig ließ er sich zu Überstunden einschreiben und kam manchmal volle 24 Stunden nicht nach Hause.
Es kam mir ab und an so vor, als würde er vor mir fliehen wollen und nicht vor dem Schmerz des Verlustes meiner Mutter. Aber auch mit diesem Gedanken hatte ich mich inzwischen abgefunden. Mein Vater hatte mir schon mehrmals beteuert, dass ich aussehe wie meine Mutter, als er sie kennen lernte. Vielleicht floh er vor dem Schmerz, ständig in das Gesicht einer toten Frau blicken zu müssen? Ich wusste es nicht und würde wahrscheinlich sowieso nie aus meinem Witwer schlau werden. Fragen wollte ich ihn nicht. Ich bekam es genauso wenig zustande ohne zittrige Stimme über meine Mom zu reden wie mein Vater. Obwohl es inzwischen einige Jahre her war, befand ich es noch als unmoralisch auf diesem Thema herumzureiten. Außerdem machte es mir Angst, dass die Tränendrüsen wohl doch austrocknen konnten. Also forderte ich sie schon gar nicht mehr heraus, indem ich einfach nicht mehr von ihr sprach oder groß über sie nachdachte.
Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich gar nicht vorstellen, welcher Schmerz an einem nagt, wenn man den wichtigsten Menschen in seinem Leben ohne Abschied verliert.
Es war als wäre mit meiner Mutter auch ein wichtiger Bestandteil meines Charakters verloren gegangen – meine Stärke, mein Selbstbewusstsein.
Damals war es immer sie gewesen, die mir Mut zusprach, die meinte, dass jeder wegen einer bestimmten Mission auf der Erde war. War es ihre Mission gewesen im zarten Alter von zweiunddreißig im Chesapeake Bay zu ertrinken?
Ich warf einen Blick zurück in den Korridor, indem das Bild meiner Mutter hing und schluckte schweren Herzens.
Am Abend rief mich völlig außer Sinne Kylie an und störte mich beim Verfolgen meiner Lieblingsserie.
Kylie hatte, so konnte man meinen, wirklich eine Talent dafür, im unpassendsten Moment ihrer Stimmung Kund zu tun. Sie erzählte von der unheimlichen Tragik, dass ihre Lieblingserie, die praktischerweise auch immer um diese Uhrzeit gelaufen war und ich somit ungestört die meine sehen konnte, bis zur nächsten Staffel nicht mehr kommen würde und sie somit beinah ein ganzes Halbjahr auf Chace Crawford verzichten müsse.
„Aber Phelim hat doch eigentlich auch eine bedeutende Ähnlichkeit mit ihm. Findest du nicht auch? Sie haben die gleichen Augen…“, plapperte sie nach einer kurzen, wirklich sehr kurzen, Überlegungspause weiter und verfiel in ihr übliches Geschmachte.
„Kylie, ich hab Besseres zutun als in den Augen eines Proleten zu verfallen.“, meinte ich unbeeindruckt und schüttelte genervt den Kopf.
„Wusstest du, dass er einen Bruder hat? Der ist mir noch nie aufgefallen…“, plapperte sie weiter, ohne auf meinen genervten Unterton einzugehen. „Aber kein Wunder. Er scheint ein ziemlich ruhiger Typ zu sein, den kann man unter mehr als Tausend Schülern schon mal übersehen.“
„Ja, Kylie. Aber weißt du, die Staffel meiner Serie ist noch nicht vorbei. Außerdem ist mir es egal, ob Phelim einen Bruder hat.“, meinte ich, jenseits aller Höflichkeit und beobachtete, wie der Hauptdarsteller im Bildschirm gerade seine Tabletten hinter einem Buchhalter verstaute, die Kamera ganz nah an sein Gesicht zoomte und seine lilafarben umränderte Augen zeigte.
Am anderen Ende der Leitung ertönte beinahe zeitgleich ein eingeschnapptes Schnauben.
„Na gut. Dann sehen wir uns morgen. Bis dann.“, und die Verbindung wurde unterbrochen.
So viel mal für den Anfang Bitte postet hier nichts dazu, sondern teilt mir eure Meinung immer in dem Thread hier mit: http://board.world-of-hentai.to/f211/blutfedern-maailma-lunastaja-125666/#post1382545
Danke!
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Kapitel 2 - Die, mit den Lauschern an der Wand
„Guten Morgen, Lin!“, vor meiner Haustür stand Kylie und strahlte mich an als hätte ich ihr ein Geschenk gemacht und nicht so wie man es um diese Uhrzeit von gewöhnlichen Menschen erwartet hätte.
„Morgen“, brummte ich mit bedeutend weniger Inbrunst und ließ sie eintreten. „Du bist früh dran.“
„Und du spät.“, bemerkte Kylie. Sie hob eine Augenbraue und begutachtete mich vom Haaransatz über mein gelbes Mickey-Maus-Shirt, dass ich schon seit meinem 12. Geburtstag besaß, bis hin zu meinen noch nackten Füßen. Ich lächelte sie wortlos an und versuchte das Blut, das sich in meinem Kopf stauen wollte, zu vertreiben.
„Ich weiß. Und deswegen geh ich jetzt nach oben und zieh mich mal um.“, murmelte ich und ließ Kylie im Korridor stehen.
„Sind das die Bücher aus der Bibliothek?“, fragte Kylie, als ich nach einer Weile wieder nach unten kam und sie am Küchentisch sitzend fand. Auf der Tischplatte lag die weiße Tüte, die sie wohl hier rein geschleppt hatte. Kylie sah mich nicht an während sie sprach und blätterte stattdessen eines der Bücher durch. Ihr skeptischer Gesichtsausdruck entging mir nicht.
„Die sehen aus als hätten sie eine Begegnung mit der Waschmaschine gemacht.“, flocht sie ein und deutete auf das verfilzte Buch, welches sich leicht gebogen hatte, in ihrer Hand.
„Ein Unfall.“, sagte ich Schulter zuckend und begab mich zum Kühlschrank, um mir eine Schüssel Cornflakes zu machen. Ich hatte ganz vergessen zu fragen, wie der Typ von gestern eigentlich hieß – Immerhin war er mir etwas für die Bücher schuldig!
„Ein Unfall?“, widerholte sie ungläubig. „Du hast die Tüte in die Waschmaschine gesteckt?“ Ihre Stimme klang jetzt so als würde sie grinsen.
Und das tat sie auch, als ich mich zu ihr umdrehte. Ich wusste, dass ihr sehr wohl klar war, dass ich das so nicht gemeint hatte, aber Kylie versuchte sich gelegentlich vergebens als Komikerin.
Ich schob die Augenbrauen zusammen und kicherte mein ‚Du bist unmöglich‘-Kichern.
„Ja, natürlich habe ich das. Ich dachte, so würden die vergilbten Blätter vielleicht wieder weiß werden.“, sagte ich sarkastisch und stellte mein inzwischen angerichtetes Müsli auf den Tisch, ehe ich mich Kylie gegenüber setzte. Diese kicherte leise und verstaute die Bücher wieder in der Tüte.
„Waren die von Anfang an so?“, fragte sie, als ich mir den ersten Löffel in den Mund geschoben hatte und ihn in der Schüssel drehte während ich kaute.
Seufzend ließ ich den Löffel los und antwortete widerwillig. „Nein. Irgend so ein Idiot ist gegen mich geprallt. Dabei ist mir die Tüte aus den Händen gefallen, die Bücher sind rausgerutscht und es hat geregnet.“ Ich zuckte die Schultern und nahm das Rühren meiner Cornflakes wieder auf. „Er hat sie beschädigt.“
„Er?“, fragte Kylie und es klang so als wollte sie einen bestimmten Namen hörn.
„Kylie, ich hab keine Ahnung, wie der Typ heißt. Was mich ziemlich verärgert“, ich schob mir einen weitern Löffel in den Mund, ehe ich Kylie ansah.
Kylies Augen weiteten sich und auf ihrem Gesicht breitete sich ein verschwörerisches Lächeln aus. Ich wusste, dass sie momentan einen ganz anderen Grund im Sinn hatte, warum mich die Tatsache, dass ich seinen Namen nicht kannte, so störte.
„Was?! Er muss mir die Bücher ersetzen!“, erklärte ich schmatzend und trank den Rest des Müslis aus der Schüssel heraus, obwohl noch einige Cornflakes in der Milch schwammen.
„Die Bücher ersetzen. Natürlich.“, sagte Kylie sarkastisch, schürzte die Lippen und nickte. Genervt stöhnte ich und stand auf.
„Ja, genau! Komm wir müssen los.“, erinnerte ich sie, legte meine Schüssel in die Spüle und ließ Wasser hinein laufen.
„Wie sah der Typ denn aus?“, fragte Kylie nachdenklich, als wir wenig später in meinem Wagen, einem sportlichen weißen Alpha Romeo, saßen.
„Keine Ahnung. Hab ihn mir nicht so genau angeguckt.“, log ich munter, obwohl ich sein Gesicht genau vor Augen hatte. Vor allem diese Augen, die mich zwar so erbost fixiert hatten, aber dennoch eine tiefgründige Schönheit besaßen.
Ich achtete nicht auf Kylies misstrauisches ‚Mhm‘ und tat so als müsse ich mich voll und ganz auf die Straße konzentrieren.
„Aber ich sag dir. Dieser Kerl war sowas von unhöflich!“, redete ich schnell weiter, weil ich wusste, dass Kylie wahrscheinlich gerade an anderen Hirngespinsten arbeitete, „ Ihm war auch etwas aus den Händen gefallen und als ich ihm helfen wollte, es einzusammeln, hat der nur ‚Verschwinde‘ gebrummt.“, erzählte ich zu Ende und versuchte seinen feindseligen Ton zu interpretieren. Dass ich dieses ‚Etwas‘ auch noch kaputt gemacht hatte, verschwieg ich ihr lieber.
Kylie blieb stumm. Als ich nach einer Weile vorsichtshalber zu ihr rüber linste– sie könnte ja in Ohnmacht gefallen sein oder sowas, denn ‚still sein‘ passte so gar nicht zu ihr – sah sie gedankenverloren aus dem Seitenfenster. Ich kam gerade an dem Gedanken an, dass sie die Bäume, an denen wir vorbeibrausten, zählen könnte, als sie mich triumphierend lächelnd ansah.
„Der mysteriöse Unbekannte.“, sagte sie schlicht und nickte sich selbst zustimmend.
Ich stöhnte. Kylies Mutter war Astrologin und daher durfte ich mir beinahe wöchentlich das Horoskop des Zwillings anhören. Sie ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven damit, vor allem wenn sie anfing zu spekulieren, was genau mich erwarten würde.
‚Ein sehr enger Freund will Ihnen näher sein als Ihnen lieb ist‘ hieß es vor zwei oder drei Monaten und seither beobachtete sie die Mimik und Gestik von Tyler mir gegenüber mit doppelter Aufmerksamkeit. Tyler war seit Ende des 2. Jahres auf der Middle School mein Ex-Freund und damals mein erster Freund. Naja, wenn man das überhaupt ‚Freund‘ nennen gekonnt hatte. Er war damals eben der erste Junge, mit dem ich mich super verstanden hatte. Und als es dann hieß, wir wären verliebt und zusammen – ohne auch nur einmal darüber gesprochen oder gar nachgedacht zu haben – hatten wir bis es wieder vorbei war, kein Wort miteinander gewechselt. Inzwischen waren wir im 3. Jahr der High School und Tyler der beste Freund, den man sich neben Kylie vorstellen konnte. Und nicht mehr. Aber das meiner hoffnungslos romantischen Freundin klar zu machen, war ungefähr so erfolgreich wie einen Löwen zu einer Reisdiät zu überreden.
Auch in dieser Woche blieb ich von Kylies astrologischen Berichten nicht verschont.
„Ihnen steht eine Begegnung mit einem mysteriösen, charmanten Jüngling bevor.“, wiederholte Kylie den Satz aus meinem Horoskop, den ich erst vor wenigen Tagen gehört hatte.
„Charmant!“, rief ich belustigt und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sag mal, Kylie Blaige, hast du mir nicht zugehört? Der Typ war alles, aber sicher nicht charmant!“
Kylie kicherte unbeirrt. „Du kennst ihn doch gar nicht! Vielleicht hatte er es eilig und du hast ihn mit deiner Knallaktion verärgert.“
Wohl eher mit meiner Trampelaktion, dachte ich bitter und bis mir auf die Oberlippe, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen.
„Unsinn.“, sagte ich stattdessen, „Ist ja auch egal. Dem werden wir eh nie wieder begegnen. Hast du die Tüte eigentlich mitgenohm‘?“
Eigentlich hatte ich diese Frage nur gestellt, um von unserem jetzigen Thema abzulenken. Zu erwarten war jedoch nicht, dass dieses Frage mit einem kleinlauten, schuldbewussten ‚Nein‘ beantwortet wurde.
Wir hatten über die Hälfte der Strecke schon hinter uns gebracht, aber das war jetzt unbedeutend. Uns blieb nichts anderes übrig als wieder zu mir nach Hause zu fahren und die Bücher zu holen. Und das, obwohl wir ohnehin schon spät dran waren.
Kylie und ich kamen natürlich zu spät zu unserer ersten Stunde. Ich war noch nie so dankbar, dass wir so ziemlich die gleichen Kurse belegt hatten. Denn jetzt würde ich nicht die einzige sein, die sich unserem bösartigen Coach Woober, der außerdem unser Mathelehrer war, stellen musste.
Trotz allem Ärger, den wir bekommen würden, schien es Kylie einfach nicht eilig zu haben. Sie wollte doch tatsächlich vor der Damentoilette haltmachen, um ihr Make-up aufzufrischen. Ich glaubte, ich traue meinen Ohren nicht!
„Kylie. Dafür haben wir jetzt um Himmelswillen wirklich keine Zeit!“, schimpfte ich. „Ich für meinen Teil möchte nicht nachsitzen.“
Doch sie blieb stur. „Doch! Wenn du mich nicht so durch die Flure hetzen würdest, wäre mein Make-up nicht verflossen! Außerdem geht Phelim Wadim auch auf diese Schule, falls du das vergessen hast!“, meinte sie und es klang fast verzweifelt. Sie war schlimm geworden. Seitdem sie vor einem Jahr einer der Jungs kaltblütig abserviert hatte, legte sie exorbitant viel Wert auf ihr Aussehen. Als ob es damals nur daran lag und nicht an der Tatsache, dass ihr Auserwählter bereits vergeben war.
Ich stöhnte genervt und ergab mich. Kylie lächelte selig und verschwand in der Damentoilette. Ich war wahrscheinlich auch gerade auf der Damentoilette gewesen, als Gott das Durchsetzungsvermögen verteilte.
Seufzend lehnte ich mich an die gelb verputzte Wand, ließ meine Tasche achtlos neben mir auf den Boden fallen und sah mich resigniert im leeren Korridor um. Ich sog scharf die Luft ein, als ‚er‘ unerwartet aus einem der Seitenkorridore geschlendert kam.
Zuerst schien er mich gar nicht zu sehen und lief unbeirrt direkt auf mich zu. Er hatte seinen Blick auf das hässlich ergraute Laminat unter seinen Füßen gerichtet. Die Tasche, die ihm um die Schultern hing, prallte beim Gehen stetig von seinem Oberschenkel ab. Seine Daumen hatte er lässig in die Gürtelriemen seiner schwarzen Hose geschoben und seine rostbraunen Haare sahen aus, als habe er sie heute noch nicht gekämmt, aber es passte zu ihm wie zu keinem anderen.
Erst als er über den Daumen gepeilt zehn Meter von mir entfernt war, sah er auf.
Sein Gesicht strahlte nicht den erwarteten Zorn aus, eher eine arrogante Gleichgültigkeit, als er mich entdeckte. Für einen Moment war ich noch ganz perplex. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dem Typen hier zu begegnen, geschweige denn ihm überhaupt nochmal entgegen treten zu müssen.
Ihm schien es ganz anders zu ergehen. Er sah mich an als hätte er genau gewusst, dass er mich hier antreffen würde und ich meinte, dass sein Weg genau in meine Richtung einschlug. Als er dann auch noch stehen blieb und den Mund aufmachen wollte, schnappte ich hastig meine Tasche vom Boden und rannte ohne ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen den Flur entlang.
Es war total kindisch, das wusste ich, aber es war genau das, was meine Intuition mir als Erstes riet.
Außerdem hatte ich ohnehin überhaupt keine Ahnung, was ich auf seine Beschuldigungen antworten sollte. Ich wusste, dass er mir Vorwürfe machen wollte, was sollte er sonst von einem zotteligen Mädchen wollen, das darüber hinaus auch ein Talent für Tollpatschigkeit besaß?
Dass jede einzelne Perle seiner Kette mehr wert hatte als all die Bücher zusammen, war klarer als Hokkaidos Mashu-See*.
Also war es die deutlich kleinere Blamage, einfach abzuhauen als außer Stande etwas zu sagen vor ihm zu stehen und Däumchen zu drehen. Und meine Schuld eingestehen wollte ich schon dreimal nicht!
Zwar völlig außer Atem, aber in Rekordzeit erreichte ich die Tür zum Mathematikkurs. Es war noch eine Minute, um zu verschnaufen, nötig, bevor ich ins Klassenzimmer eintreten konnte. Mist, verdammter. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Kylie den Teil mit der Entschuldigung zu überlassen. Dank meiner überstürzten Fluchtaktion durfte ich diese Hürde nun selbst bewältigen. Das ganze wäre ja alles nicht so tragisch, wenn es nicht Coach Woober wäre, den ich um Verzeihung bitten musste. Er war so ziemlich der strengste Lehrer der gesamten Chestertown High und kannte keine Gnade, was Pünktlichkeit betraf. „Wenn du zu einem Spiel nicht rechtzeitig erscheinst, scheidest du automatisch aus!“, sagte er immer. Dass es sich hierbei aber um Unterricht und Belehrung handelte und nicht um irgendeinen athletischen Wettbewerb, schien ihn keineswegs zu kümmern.
Ich holte noch einmal tief Luft, ehe ich anklopfte und ins Rauminnere schlüpfte.
„Miss Travis!“, rief Coach Woober in fadenscheiniger Freude. „Das wir Sie hier heute auch noch begrüßen dürfen.“
Ich unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und sagte stattdessen: „Ja. Tut mir Leid, Sir. Aber wir hatten etwas Wichtiges vergessen und mussten nochmal umdrehen.“
„Wir?“, hakte er nach und versuchte an mir vorbei in den Flur zu linsen.
„Ja, wir.“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Überrascht drehte ich mich um. Hinter mir stand – wer sollte es auch anderes sein – der Typ von eben mit Kylie im Schlepptau.
Fassungslos starrte ich erst in sein, dann in das begeistert grinsende Gesicht von meiner besten Freundin, die sich an seinen Arm gehangen hatte. Verräterin.
„Und Sie sind wer?“, fragte Coach Woober und hob eine Augenbraue.
Er räusperte sich, ehe er ihm antwortete. „Ich bin Jeldrik Wadim, Sir. Ich stehe seit letzter Woche ebenfalls auf ihrer Liste.“
Wadim. Ach du Schande. Das auch noch! Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir, eindeutig. Da hatte ich mich doch tatsächlich mit dem Bruder des begehrtesten Schülers unserer High-School angelegt.
Phelim und Jeldrik Wadim waren vor ein paar Wochen nach Chestertown gezogen und seither war Phelim der unangefochten erfolgreichste Charmeur der Chestertown High. Dass er bisher mehreren Mädchen reihenweise das Herz gebrochen hatte und es mit keiner länger als eine Woche aushielt, störte jedoch niemanden. Wie auch leider Kylie nicht.
„Ach ja! Sicher, Sie kommen aus dem Kurs der Sophomores*, nicht wahr?“, meinte der Coach, nachdem er seinen Namen auf seiner Liste entdeckt hatte und deutete auf einen der freien Plätze.
Jeldrik drängte sich an mir vorbei und beschlagnahmte den Platz, der eigentlich bisher immer meiner gewesen war. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Ich drehte mich verärgert zu Kylie um, diese aber zuckte nur bedauernd die Schultern und steuerte ihren gewöhnlichen Platz neben Jeldrik an. Dass sie dabei selig grinste, entging mir nicht.
Verräterin, Verräterin, Verräterin!
„Ah, ähm. Die Damen.“, hielt uns Coach Woober noch auf. „Hier sind Ihre Klausuren.“
Coach Woober blieb an seinem Pult sitzen und hob uns zwei Blätter entgegen.
Als ich ihm meine abnahm, fügte er, sodass nur ich hin verstehen konnte, hinzu: „Die sehen aber nicht sehr rosig aus.“ Und bedachte mich mit einem mahnenden Blick.
Ich erwiderte nichts darauf und ging ohne auf meine Note zu sehen zu dem einzig freien Platz. Der, der ganz hinten im Eck war und man den Lehrer nur noch mit Mühe verstehen konnte. Ich seufzte verärgert und erdolchte Jeldrik gedanklich und Kylie gleich dazu.
Ich wusste es, dass die Klausur den Bach runter gegangen war, bereits, als ich sie noch nicht einmal geschrieben hatte. Binomische Formeln waren noch nie so mein Ding gewesen. Schon gar nicht, wenn man auch noch darauf aufbauen sollte, wenn man noch nicht einmal die Grundkenntnisse begriffen hatte. Eigentlich war es unnötig die konkrete Note wissen zu wollen. Schlecht war sie ohnehin. Aber meine menschliche Neugierde war wie so oft nicht zu ignorieren und ich warf Widerwillen doch einen Blick auf meine Note.
Ein fettes, rotes F. Ungenügend. Na, diese Arbeit bekam mein Dad wohl besser nicht zu Gesicht.
Murrend stopfte ich die Klausur in meine Tasche und sah zu meinem einzigen Tischnachbarn. Es war ein blonder, blasser Junge, der noch von Akne geplagt war. Aber das schien ihn genauso wenig zu stören, wie das fette F, das ich auch auf seiner Klausur fand. Während Coach Woober mit uns die Matheklausur durchging in der Hoffnung, dass wir es schlussendlich doch noch Dreh raus haben könnten, spielte der Junge seelenruhig Playstation Portable. Wenn er seine Konzentration auf den Unterricht und nicht auf dieses ovale Gerät beziehen würde, könnte er mit Sicherheit auch auf ein C kommen. Aber wie gehabt, es schien ihn nicht zu kümmern.
Seufzend wandte ich mich von ihm ab und versuchte dem Unterricht zu folgen, wenngleich ich den Stoff einzig und allein akustisch verstand.
Obwohl ich eine gute viertel Stunde zu spät zum Unterricht kam, wollte diese Stunde einfach kein Ende nehmen. Sie zog sich und zog sich. Zeitweilen spielte ich sogar mit dem Gedanken meine Nagelfeile auszupacken – meine Finger hatten mal wieder dringend eine ordentliche Pediküre nötig – aber ich verwarf ihn wieder, als Coach Woober die Playstation Portable des Jungen neben mit entdeckt hatte und sie diesem wegnahm.
Es grenzte beinah an eine Wunder, dass ich nach einer Weile vergaß auf die Uhr zu sehen und der Unterricht dann doch schnell ein Ende fand. Mir kam die Schulglocke vor wie die Klingel des Christkindes, die meine Mom damals immer zu Weihnachten läutete, wenn ich zum Geschenke auspacken kommen gedurft hatte. Genau so eilig hatte ich es jetzt aus dem stickigen Klassenzimmer zu kommen, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass mich draußen keine Geschenke erwarten würden.
Kylie wartete an der Tür auf mich und strahlte als habe man sie gerade zur Schönheitskönigin gekürt.
„Warten Sie einen Moment, Mr. Wadim.“, sagte der Coach, als ich gerade bei Kylie ankam. Ohne jegliche Vorwarnung packte Kylie mich energisch am Arm und zog mich vor die Tür. Dann stellte sie sich neben diese und versuchte zu lauschen.
„Kylie.“, zischte ich mahnend.
„Pscht!“, machte sie und gestikulierte mit ihrer linken Hand, was mir wahrscheinlich zu verstehen geben sollte, dass ich zu schweigen hatte.
Ich schnaubte wütend und war schon im Begriff mich von der Tür zu entfernen, als mich ein Gedanke durchzuckte. Vielleicht hatte Jeldrik ja genauso eine Matheschwäche wie ich? Das würde mich zwar auch nicht weiter bringen, aber immerhin mit Sicherheit meinem Ego Vergnügen bereiten. Ohne weitere Umschweifen stellte ich mich neben Kylie, die gerade den letzten Schüler aus der Tür treten ließ, und lauschte.
„Sie haben sich ziemlich schnell eingewöhnt, Mr. Wadim. Ihre Noten sind überraschend gut.“, bekam ich leider Gottes das Gegenteil meiner Hoffnung zu hören. Ich widerstand dem Drang, verärgert wie ein Kleinkind mit dem Fuß aufzustampfen und hörte dennoch gespannt zu, was Coach Woober noch zu sagen hatte.
„Ich wünschte, ich könnte dies auch von einigen anderen Schülern behaupten.“ Er seufzte. „Ich weiß, Sie sind noch nicht lange hier und ich weiß ja nicht, wie es in den anderen Fächern bei Ihnen steht, aber meinen Sie, Sie könnten Zeit finden einer meiner Schülerinnen Nachhilfeunterricht zu geben? Ich möchte wenigstens ein paar meiner Schüler die Kurse in den Sommerferien erspar’n.“
Für einen Moment war es still. Aber dass Mr. Woober schließlich freudig weiter sprach, ließ mich darauf schließen, dass Jeldrik wohl stumm nickend zugestimmt haben musste.
„Wunderbar! Ich selbst bin noch nicht dazu gekommen mit ihr zu sprechen. Wie wär’s wenn sie direkt mal zu ihr hin gehen und ihr Bescheid geben?“
„Natürlich.“, hörte ich zum zweiten Mal an diesem Tag seine angespannte, aber auf eine gewisse Weise angenehme Stimme. Bei ihrem Klang setzte mein Herz kaum merklich einen Augenblick aus.
„Klasse! Sicher ist sie in der Pause in der Cafeteria. Ihr Name ist Eveline Travis.“
„Was?!“, platze es erschrocken aus mir heraus und zog ein Echo mit sich.
Impulsiv, wie ich war, hatte ich die Tür aufgerissen und stand, ehe ich mich versah, auf deren andere Seite. Es dauerte seine Zeit bis ich kapierte, dass das Echo, welches in meiner Stimme mitschwang, nicht ‚mein’ Echo war, sondern lediglich Kylies ebenso entsetztes ‚Was’. Im Gegensatz zu mir, war Kylie jedoch dort stehen geblieben, wo sie war.
Coach Woober sah nun verwirrt und Jeldrik mit hochgezogener Augenbraue das zierliche Mädchen mit den schwarz gelockten Haaren im Türrahmen an.
Ebenso schnell, wie meine Überschwänglichkeit gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Völlig perplex, als wüsste ich selbst nicht wie ich hierher gelangt war, repräsentierte ich mich nun den beiden argwöhnischen Augenpaaren. Ich schluckte und merkte, wie mein Gesicht langsam wärmer wurde.
„Ich… äh…“, stotterte ich und brach sofort wieder ab, weil mir selbst nicht ganz klar war, was ich eigentlich sagen wollte. Mich rauszureden war sowieso zwecklos. Ich war eine miserable Lügnerin und Coach Woober kannte mich lange genug, um das zu wissen.
„Gerade haben wir über dich gesprochen.“, sagte der Coach mit vor Spott triefender Stimme, als habe ich das nicht schon längst gewusst. Mir schoss noch mehr Hitze in die Wangen und ich war mir sicher, dass man das inzwischen auch sehen konnte.
Ich war vor Scham sogar so verzweifelt, dass ich geringzeitig mit dem Gedanken spielte, eine Ohnmacht zu imitieren. Aber dass man mir meine Schauspielerei ebenso wenig abkaufen würde, wie meine Lügen, kam mir gerade noch rechtzeitig in den Sinn, bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzten konnte.
„Zufälle gibt’s.“, fügte Jeldrik Coach Woobers Worten zynisch hinzu und bedachte mich mit einem mokanten Grinsen.
Und das war genau das, was ich gebraucht hatte. Mein kompromittiertes Gefühl wich augenblicklich der Wut und ich schlug hart die Zähne aufeinander.
Diffizil ignorierte ich, dass ich mich gerade komplett zum Affen gemacht hatte und ging auf Coach Woobers Bemerkung ein als wäre sie ein ernst gemeinter Satz gewesen.
„Ja, ich weiß. Aber Coach, das geht nicht.“, jammerte ich, obgleich mir bewusst war, dass es ohnehin überflüssig war. Jeldrik war mein letzter Tropfen Wasser in der Wüste. Meine einzige Möglichkeit, dem zusätzlichen Mathekurs zu entgehen.
Coach Woober zog beide Augenbrauen gen Himmel. Wobei es eine auch getan hätte. „So?“, sagte er keck und zog das „O“ in die Länge. „Und warum nicht?“
Flehend sah ich zu Jeldrik hinüber, der inzwischen lässig am Lehrerpult lehnte und unsere dürftige Kommunikation stumm verfolgte. Auf eine Reaktion seinerseits in Folge meines auffordernden Blickes, hätte ich bis zur nächsten Sonnenfinsternis warten können. „Der Lauscher an der Wand, hört seine eig’ne Schand’“, kam es mir in den Sinn.
„Weil… weil ich bereits einen Nachhilfelehrer habe!“, schoss es aus mir heraus, ohne dass ich groß darüber nachdachte. Ich war selbst überrascht wie glaubwürdig ernst ich diese Lüge zu Tage gebracht haben konnte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Coach Woobers skeptischer Blick nachdenklich wurde.
„Aha.“, meinte er und runzelte die Stirn, ehe er sich an Jeldrik wandte. „Dann hat sich die Sache wohl erledigt, Mr. Wadim. Aber Danke für ihre Bereitschaft.“
Der Coach nahm seine wuchtige Aktentasche vom Pult und verlies den Raum.
Ich hörte nur noch ein ersticktes „Huch“ kurz bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er war wohl der indiskreten Kylie in die Arme gelaufen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie jedes kleine Wort, das hier fiel, sensationslüstern mitverfolgt hatte.
Es tat mir fast Leid, dass sie das Interessanteste, dank ihrer Karambolage mit dem Coach, nun verpassen würde. Aber eben nur fast.
„Entschuldige.“, brach Jeldrik die Stille im Raum und sah mich unter seinem transparenten Vorhang, der ihm von der Stirn fiel, hindurch fragend an. Auch mir stand ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Hatte ich da gerade richtig gehört? ‚Er‘ bat ‚mich‘ um Verzeihung?
„Wo..Wofür?“, fragte ich ungläubig und kräuselte die Stirn. Jeldrik schluckte schwer und stieß sich vom Pult ab bevor er mir antwortete.
„Ich war gestern ziemlich unhöflich zu dir. Das tut mir Leid.“
Ich war fassungslos. Und allein deshalb brachte ich dann auch folgende Worte über die Lippen: „Nein, du… Ich meine, reine Unhöflichkeit ist leichter zu vergeben. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders reagiert. Tut mir Leid wegen der Kette.“ Ich lieferte doch tatsächlich ein Eigengeständnis ab. Bisher war mir nicht mal selbst bewusst gewesen, dass es mir wahrhaftig Leid tat.
Jeldrik lächelte mich müde an und fuhr sich durchs Haar, um seine Stirn freizubekommen und lief dann auf und ab.
„Nein. Da wo ich herkomme, haben Umgangsformen mehr wert als materielle Dinge, Eve.“
„Eve?“
Jeldrik hielt in der Bewegung inne und sah mich Stirn runzelnd an.
„Das ist doch dein Name?“
„Ja… Eveline. Genau.“, stammelte ich, „Aber woher weißt du das?“
Jeldriks Stirn glättete sich wieder und er lächelte mich kokett an. °
Aber er kam nicht dazu mir zu antworten, stattdessen zuckte er kurz zusammen. Und keine Millisekunde später stürmte ein goldblondes Mädchen ins Zimmer.
„Oh. Jeldrik. Hallo.“, sagte sie und lächelte ihn übertrieben breit an. Mich begrüßte sie nur mit einem missbilligenden Nicken, als sie mich entdeckte und sprach meinen Namen aus. „Eveline…“
Das Mädchen war niemand geringeres als Christine Warp. Ihre Familie besaß eine Drogeriefirma und man konnte sie als eines der Mädchen bezeichnen, die nur mit den Augen klimpern mussten, um Daddys Porsche zu bekommen. Würde ich in einem amerikanischen Teeniefilm festsitzen, dann würde sie ganz klar Promqueen werden. Aber dem war Gott sei Dank nicht so und sie war einfach nur ein steinreiches Mädchen, das sich einbildete mit ihrem hübschen Gesicht und Daddys Geld alles zu bekommen, was sie wollte. Dass das leider meistens auch der Wahrheit entsprach, verdrängte ich munter.
„Gut, dass ich dich treffe!“, trällerte Christi, warf ihr Haar zurück und legte auf dem dreckigen Laminat einen Catwalk hin, der auch mich zur Katzen werden ließ. Aber zu einer der Katzen, die biestig die Krallen ausfuhr, wenn man sich mit ihr anlegte.
Als wäre ich gar nicht hier, klemmte sie sich an Jeldriks Arm und zog ihn mit sich.
„Ich versteh Mathe überhaupt nicht und Coach Woober hat gemeint, dass ich bei dir Hilfe finde.“, hörte ich sie ihren Satz beenden und ich war allein in dem hallenden Klassenzimmer. Mhm. Mit diesem Problem war sie allerdings nicht allein. Ich seufzte und warf einen Blick auf die Tafel, die vor binomischen Formeln geradezu überquoll.
*Sophomores: Schüler der 10. Jahrgangsstufe in den USA, also der zweiten Klasse an einer High School (Jeldrik hatte in den ersten Wochen auf Grund seines angeblichen Rückstandes wegen dem Schulwechsel zuerst einen niedrigeren Kurs besucht, ehe man ihn in einen seines Alters gerechten Kurs steckte)
*Mashusee: soweit ich weiß, der klarste See der Welt
°Kommentar des Autors: Kurz hatte ich das Bedürfnis Jeldrik ‚Connections, Baby‘ sagen zu lassen :‘D
(vorübergehendes Titelbild)
Autor: SayaSayoko (Sarah)
Klappentext: Keiner vermag zu wissen, welche Wesen sich wirklich hinter den Wadims verbergen. Mit ihrer gehaltenen Eleganz und dem graziösen Charme sind sie nahezu unwiderstehlich. Diese Ansicht vertritt auch die junge Eveline voll und ganz. Es ist ihr schier unmöglich sich von dem mysteriösen Jeldrik fernzuhalten, selbst als er alles woran sie je geglaubt hat ins Wanken bringt. Und nicht nur das, genaugenommen bringt er sogar ihr ganzes Leben ins Wanken. Was früher oder später jedoch ohnehin geschehen musste, wenn man sich mit gefallenen Engeln herumschlägt.
Auszug: […] selbst jetzt… mit einer feinen Wunde, die sich von seiner Stirn über die Augenbraue erzog, … raubte sein Anblick mir den Atem. Auch die gräulichen Aschflecken auf der Haut nahmen ihm keinen Deut meines Begehrens. Ich nahm sie als Narben unserer Liebe. Auch wenn uns jetzt womöglich das gemeinsame Leben genommen werden sollte; unsere Empfindungen für einander würden uns auf Ewig erhalten bleiben.[...]
Soundtrack: Breaking Benjamin - Evil Angel
[video=youtube;POjQgExXH6A]http://www.youtube.com/watch?v=POjQgExXH6A&feature=related[/video]
Genre: Darkphantasie/-Mysteryromanze (keine Vampirgeschichte!)
Anmerkung: Hab mir ein paar Elemente und Namen aus der nordischen Mythologie geliehen, aber eigentlich wenig Legenden davon übernommen, sondern meine eigene gebastelt x) Personen, sowie die Wesen "Zyona" und "Exyus" entspringen allesamt meiner Fantasie! Mögliche Ähnlichkeiten sind Zufall, gibt es aber denk ich nicht^^.
Schauplätze: - gibt es wirklich, nur vielleicht nicht so wie ich sie beschreibe
Genug geredet - Enjoy!!
***
PROLOG
Bifröst(Dimensionenportal)
Voller freudiger Erwartung eilte sie über den breiten, weisen Schleier. Um sie herum war nichts als Leere. Wie ein tiefschwarzer Vorhang umzäunte die Dunkelheit den hellen, bodenlosen Weg, den sie entlang schwebte.
Sie kannte die Umgebung. Sie war hier schon einige Male gewesen, wahrscheinlich öfter als es irgendjemandem vergönnt sein sollte. Und dennoch fühlte es sich immer noch so ungewohnt befreiend an als wäre es das erste Mal.
Sie war sich sicher, das richtige getan zu haben, auch wenn es diesmal mehr schmerzte als bei ihren davorigen Leben.
In der Welt, in der sie sich die letzten Jahre aufgehalten hatte, würde man sagen, dass dies doch keine Lösung gewesen sei, es einen anderen Ausweg gegeben hätte. Aber wie könnte sie es den Sterblichen verübeln? Sie selbst war viele Jahre dieser Meinung gewesen und verabscheute das, was sie vor wenigen Augenblicken getan hatte. Doch sie wusste, dass sie nur so der Lösung bald einen Schritt näher sein konnte. Immerhin waren die menschlichen Hilfen ihr nicht von Nutzen.
Ihr tat es Leid, so über ihre Familie denken zu müssen. Und vor allem sie einfach ohne jegliche Erklärung zurück gelassen zu haben, aber es war die einzige Möglichkeit sie zu schützen. Und das ermutigte sie.
Noch immer konnte sie vor sich einzig den erleuchtenden Weg ausmachen. Die Finsternis verbarg in ihrer scheinbar endlosen Tiefe das Portal, ihr Ziel.
Und einige andere Dinge, die ihr zum Verhängnis wurden.
Sie sah ihn nicht kommen. Es war zu dunkel, um außer dem Pfad, überhaupt etwas erkennen zu können – wo es normalerweise ohnehin nichts als Leere zu sehen gab.
Es war ein Leichtes sie unerwartet anzugreifen, da ihr Horizont im Moment nicht hundertachtzig sondern nur dreißig Grad zu reichen schien. Es ist feige jemanden von hinten zu überfallen, das wusste er. Doch seit wann scherte er sich darum, was fair war oder nicht? Er war der geborene Intrigant. Es saß ihm quasi in der Seele niederträchtig zu sein.
Er sprang rapide hinter ihr aus dem Nichts – buchstäblich. Es blieb ihr nicht einmal die Zeit, seine Aura wahrzunehmen.
Ein schriller, erschrockener Schrei entfloh aus ihrer Kehle und brach die neuralgische Stille, was die Atmosphäre nun nicht gerade angenehmer machte.
Sie spürte den harten, mächtigen Körper hinter sich, welcher mit geschickten Bewegungen ihr den Arm hinter ihrem Rücken verdreht hatte und ihn nun schmerzhaft nach oben schob. Er machte es ihr unmöglich ihren Oberkörper zu bewegen. Und als sie instinktiv versuchte nach ihm zu treten, erklang ein metallisches Zischen, woraufhin er ihr keine Sekunde später etwas Hartes und Spitzes ans Rückgrat drückte. Sie erstarrte.
„Tere tulemast*, Frea.“, flüsterte er gefährlich nah an ihrem Ohr. „Wir wussten beide, dass es eines Tages so enden würde, nicht wahr, armas*?“
Sie erwiderte nichts, doch ihre zitternden Atemzüge verrieten ihm ihre Angst. Er lächelte maliziös und verstärkte den Druck der Klinge.
„Du wirst brav mitkommen, nehme ich an?“, fragte er spöttisch. Er erwartete keine Antwort, sondern führte sie vom Weg ab, geradewegs auf den schwarzen Vorhang zu.
Innerlich verfluchte sie Heimdall mit seiner dämlichen Vorsichtsmaßnahme. Dank ihm und Forseti war sie auf der Bifröst* lediglich ein beseelter Körper, der außer seiner Schönheit keine Göttlichkeit ausstrahlte.
In diesem Augenblick sehnte sie sich mehr als je zuvor nach ihrer Macht. Es wäre töricht und naiv sich jetzt gegen einen Gott wehren zu wollen, so vollkommen schutzlos. Sie brauchte die überirdische Energie in ihren Adern, um die einfältige Angst vertreiben zu können, die allein seine Stimme in ihr hervorrief.
Sie kannte den betrügerischen Gott hinter sich nur zu gut. Sie wusste, dass er bald mehr als nur direkte Drohungen anwenden würde, um sie sich unterwürfig zu machen.
„Warum… machst du es nicht kurz, …Vé?“, wollte sie wissen und versuchte das Bibbern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Vergebens.
Er lachte daraufhin höhnisch auf, bevor er ihr antwortete. „Weil ich das Vergnügen liebe, das weißt du doch.“, sagte er schlicht. Sie meinte, erneut ein Lächeln in seiner Stimme herauszuhören.
Die Dunkelheit tat sich auf. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich blind von ihm in die Schwärze führen zu lassen.
Ein junger Mann stand stetig am Rande des Geschehens. Schweigend und beobachtete.
Sie bemerkte ihn erst, als sich ihre Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten und die Schwärze sich grau gefärbt hatte.
„Machen wir doch ihrem Leid ein Ende.“, sagte die Gottheit in vorgetäuschter Güte an den jungen Mann gewandt. „Ich danke dir.“
„Bitte.“, antwortete er tonlos, doch in ihr tobten verzweifelte, freudige Hilferufe, als sie seine Stimme erkannte.
„Gott sei Dank.“, wisperte sie und machte ihrer Hoffnung Luft.
„Hilf mir!“ Es war kaum mehr als ein Piepsen.
Sie hörte, dass der junge Mann die Zähne knirschte. Und das war dann auch sein einziger Akt auf ihre Bitte gewesen.
Sie starrte ungläubig in das Gesicht des Mannes, obwohl sie nur seine Konturen erkennen konnte.
„Nägemiseni*“, raunte Vé und dann tat er das, was für sie schon die ganze Zeit offensichtlich gewesen war.
* „Tere tulemast“ = estnisch Guten Abend(vorkommende Fremdsprachen sind immer estnisch. Außerdem kann es sein, dass sie nicht immer zu 100% korrekt übersetzt sind - bin ja schließlich auch keine Estnin :P)
* „Armas“ = meine Liebe
* Bifröst = so nennt man laut der nordischen Mythologie die ‚Brücke’ zwischen Himmelsreich und Erdenwelt(in meiner Geschichte gibt es aber kein Himmelsreich, sondern den ‚Götterpalast’)
* „Nägemiseni“ = Gute Nacht
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Kapitel 1 - Die, mit den Perlen
Als ich die schwere, hölzerne Bibliothekstür hinter mir zugezogen hatte und ins Freie trat, machte der Himmel mit einem tiefen Grollen auf sich aufmerksam. Feine, graue Wolken überdeckten den Himmel, der vor wenigen Minuten noch strahlend blau über Chestertown geweilt hatte. Nun händigten sie der Stadt warmem Nieselregen aus.
Ich stöhnte und hielt mir die weiße Plastiktüte mit den Büchern über den Kopf, die mich zumindest etwas vor der Nässe schützen sollte.
Ich, vom Teufel gesegnetes Mädchen und daher vom Pech verfolgt, hatte versagt, als es darum ging, wer die Bücher für unser Geschichtsprojekt aus der Bibliothek zu besorgen hatte. Und da Kylie und Tyler die Vorstellung, ihre kostbare Freizeit in Bibliotheken zu verbringen, genauso wenig reizte wie mich waren sie mir erbarmungslos in den Rücken gefallen und machten mir diese Aufgabe Zuteil. Der Verrat an der ganzen Sache war ja, dass ich zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal anwesend war, um zu protestieren.
So kam es also, dass ich an einem schwülen, regnerischen Sommertag trotz Führerschein durch die Straßen von Chestertown trottete. Schutzsuchend unter den schmalen Dachvorsprüngen der Kaufläden, nachdem ich festgestellt hatte, dass die Tüte als Regenschirmimitat nicht wirklich was taugte.
Der Nieselregen verwandelte sich binnen Sekunden in einen mäßigen Niederschlag und ich musste bestürzt zusehen, wie die lauen Windböen die Tropfen unter meine Dachtraufen jagten und somit meine Schutzvorkehrung zu Nichte machten. Gedanklich schmiss ich Petrus anklagende Worte entgegen und beschleunigte meinen Gang. Doch ich sollte nicht weit kommen.
Plötzlich rannte ich unachtsam gegen einen harten Widerstand, der unerwartet von rechts in Form eines jungen Mannes aus einem der Läden aufgetaucht war. Unsere Kollision stieß mich unsanft in Richtung Straße, woraufhin ihm – ebenso wie mir meine Tüte – etwas Kugeliges aus den Händen und kaum hörbar klirrend zu Boden fiel. Das konnte ich auch nur als dergleichen identifizieren, weil ich prompt darauf ausrutschte. Unheil erahnend knackste es unter meinen Füßen und im nächsten Moment fand ich mich auch schon auf dem Asphalt liegend und attackiert von tausend kühlen Wassertropfen wieder. Ich war hart mit dem Kopf aufgeprallt. Als ich mich mit leichtem Schwindelgefühl wieder aufrichtete, wünschte ich mir augenblicklich das Bewusstsein zu verlieren.
Bemerkenswert kräftige, flussgrüne Augen trafen die meine und sahen mich aus seinem wunderschönen Gesicht so vernichtend an, dass ich eigentlich tot hätte umfallen müssen – wenn ich im ersten Moment denn schon bemerkt hätte, dass er diesen Blick mir widmete. Aber wer einmal von diesen Augen visiert wurde, ‚kann’ an gar nichts anderes mehr denken als an den smaragdgrünen Farbring um seine Pupillen.
Sobald ich realisiert hatte, dass sein Blick auf keinerlei Freundlichkeit hinwies, versuchte ich meiner Intuition entsprechend meine Augen zu Schlitzen zu verengen, auch wenn ich noch nicht genau wusste, woher diese plötzliche Abscheu gegen mich her kam. Ich meine, ein Zusammenprall zweier Menschen kam doch in jeder zweiten Sitcom vor, ohne größere Katastrophen mit sich zu bringen. Außerdem war er mir in den Weg gelaufen! Warum also sah er mich so an als ob ich gerade seinen toten Hund wieder ausgegraben hätte?
Ich weiß nicht, wie lange ich dieses Blickduell ausgehalten hatte – wahrscheinlich nicht mal eine Minute – aber irgendwann sah ich ein, es verloren zu haben und sah mich resigniert nach meinen Büchern um.
Zu meinem Bedauern fand ich sie aus der Tüte gerutscht und eines davon aufgeschlagen mit der Innenseite auf den nassen Pflastern neben mir wieder. Na toll.
Ich grummelte und rappelte mich wenig elegant wieder auf die Beine. Darauf bedacht seinem Blick nicht noch einmal zu begegnen, wandte ich mich von ihm ab und sammelte die inzwischen vom Regen durchweichten Bücher auf. Na, zurück in die Bibliothek konnte ich die jedenfalls nicht mehr bringen. Die durfte er mir gefälligst ersetzen!
Wut schnaubend drehte ich mich zurück in seine Richtung. Wider erwarten blickte ich nicht in ein Antlitz voller Zorn, sondern in eine schmerzverzerrte Maske, die mich in der Bewegung erstarren ließ. Der junge Mann hatte sich zwischenzeitlich ebenfalls abgewandt und kniete auf dem nassen Asphalt, was ihn scheinbar nicht zu stören schien. In seiner linken Hand hielt er eine antik aussehende Perlenkette, an deren Ende ein goldenes, kleines Medaillon baumelte. Mit der freien Hand sammelte er irgendetwas vom Boden auf, was ihm offenbar…wehtat. Sein Kiefer war aufeinander gepresst und es hätte mich nicht gewundert, wenn er augenblicklich losgeheult hätte.
Ich wagte einen Blick auf die grauen Pflaster vor ihm.
An mir nagte augenblicklich das Gewissen.
Zwei aprikofarben schimmernde Perlen lagen vor ihm und waren allem Anschein nach, von der Kette abgebrochen. Ohne weitere Umschweifen, befahl ich meinen Beinen in die Gänge zu kommen und kniete mich ihm gegenüber.
„Tut mir Leid.“, murmelte ich und wollte mich schon daran machen, ihm beim Einsammeln der Perlensplitter zu helfen.
Doch bevor meine Fingerspitzen auch nur in die Nähe der Perlen kamen, ließ mich ein abfälliges Zischen seinerseits innehalten.
„Verschwinde.“, zischte er barsch und ich sah, dass er auf seinem Oberschenkel eine Hand zur Faust geballt hatte, ehe ich in seine glanzlosen Augen sah, dessen Blick anklagend auf mir lag. Für einen Moment war ich noch wie benommen und starrte in sein reserviertes Gesicht.
Ich blinzelte verwirrt, um meine Fassung wieder zu gewinnen und erwiderte seinen Blick.
„Schön!“, meinte ich dann schnippisch und richtete mich auf.
Einen kleinen Augenblick spielte ich mit dem Gedanken, noch einmal, aber diesmal mit voller Absicht, auf die Perlen zu treten. Dann aber entschied ich, dass mein Zicken-Image auch ohne diese Aktion bestehen bliebe und eilte die vertrauten Straßen entlang, Richtung Heim.
Der Regen ließ natürlich nicht nach. Das hatte ich auch gar nicht erwartet. Und verwunderlicher weise störte es mich nicht einmal. Im Gegenteil, ich war sogar dankbar, dass er wohl versuchte mir die Wut aus dem Gesicht zu waschen. Was war das aber auch für ein eigenartiger Kerl gewesen?
Ich ballte die Hände zu Fäusten und versuchte den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich auf einmal das Bedürfnis in Tränen auszubrechen. Im Regen würde es ohnehin niemandem auffallen. Aber ich schämte mich vor mir selbst und so unterlies ich es, diesem Bedürfnis nachzukommen und biss mir auf die Unterlippe, während ich an den üppigen Backsteinhäuser vorbeistürmte. Diese waren eine der Touristenattraktionen. Eine Kultur unseres süßen Städtchens Chestertown. Auf mich wirkten sie ziemlich trostlos. Manchmal kam es mir so vor, als ob ich immer und immer wieder nur im Kreis lief, als würde ich gehen und nicht von der Stelle kommen wie das in Albträumen üblich ist. Alle sahen sie gleich aus. Tragischerweise lebte ich in einem dieser Häuser.
Ich konnte von Glück reden, dass auf der gegenüberliegenden Straße mich nicht ein weiteres Backsteinhaus frech anlächelte, sondern stattdessen eine bemerkenswert schöne Reihe von Fliederbäumen die Straße zierte.
Zuhause angekommen, hatte ich mich wieder einigermaßen in den Griff bekommen. Meine Wut war der Verwirrung gewichen, was nicht wirklich eine Besserung war. Nun biss an mir die Neugierde. Hatte ihm die Kette viel bedeutet? War sie sehr wertvoll? Von wem beziehungsweise ‚für‘ wen war sie? Seine eigene wohl kaum. Und warum interessierte mich das überhaupt?
Im Korridor schmiss ich die Tüte achtlos neben eine Kommode und wollte fast ohne weiteres in mein Zimmer stampfen. Dann jedoch hielt ich inne, als mein Blick auf das mit Metallrosen umrahmte Bild, welches oberhalb der Kommode hing, fiel. Ich lächelte verzückt und stellte mich vor das Bild. Es zeigte eine wunderhübsche Frau mit schwarzen kinnlangen Haaren, die stachelig in alle Richtungen standen. Ihre haselnussbraunen Augen waren von dichten schwarzen Wimpern umrahmt und sahen mir freundlich direkt in die Iris. Die leicht glänzenden Lippen wurden von einem bezaubernden Lächeln umspielt.
„Verzeihung – Hallo, Mom.“, murmelte ich, küsste meine Fingerspitze und drückte sie meiner Mutter auf die Lippen.
Meine Mutter starb vor vier Jahren. Ohne jegliche Vorwarnung war sie in der Woche vor meinem 14. Geburtstag eines Nachts unauffindbar verschwunden. Passanten zogen sie am Tag meines Wiegenfestes tot aus dem Chesapeake Bay. Seitdem feierten mein Dad und ich weder meinen noch seinen Ehrentag. Den angeblich schönsten Tag des Jahres, den Andere in Discotheken oder ähnlichem verbrachten, verbrachte ich auf dem Friedhof.
Ich seufzte tief über diese neuerlich bittere Tatsache, strich mit den Fingern über das Glas vor dem Gesicht meiner Mutter und begab mich in die Küche.
Am Esstisch saß mein Dad mit einem Wirrwarr von weißen und vergilbten Blättern vor sich.
„Irgendwo hier muss sie doch sein…“, murmelte er nachdenklich und kaute auf dem Zahnstocher in seinem Mund herum.
Die Luft roch noch nach vertrockneten Gewürzen von den Bratkartoffeln, die sich mein Vater vor wenigen Minuten wohl gegönnt haben musste.
Als ich ein Blick in seine Richtung warf und gerade zu einem Hallo ansetzten wollte, knallte er mit der geballten Faust und scheinbar mit aller Kraft gefrustet auf die hölzerne Tischplatte. Ich zuckte erschrocken zusammen und verschluckte meine dürftige Begrüßung wieder.
Mein Vater fuhr sich mit den Fingern durch das dunkelbraune Haar, dessen Ansatz inzwischen wieder grau zu werden drohte.
Ich stand noch immer im Türrahmen, als ich mich räusperte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.
Er sah mich mit unendlich müden Augen, unter denen sich leichte Falten abzeichneten, an und atmete schwer aus.
„Du solltest mehr schlafen, Dad.“, kommentierte ich sein Abbild und verschränkte die Arme vor der Brust.
Anstatt mich der Höflichkeit halber zunächst zu begrüßen oder auf meine Bemerkung einzugehen, machte er mir seiner Verärgerung sofort Luft.
„Entweder werde ich langsam alt und nähere mich dem Alzheimer oder aber meine Kollegen sind zu blöd, wichtige Unterlagen am richtigen Ort zu verstauen. Nämlich auf meinen Schreibtisch! Seit 4 Tagen such ich nun nach dieser verdammten Gabriella McGurdian!“ Er versuchte die verstreuten Blätter wieder einigermaßen aufeinander zu schieben und prägte dabei einige davon mit Knicken an den Ecken, aber das schien ihn nicht zu kümmern. „Was glaubst du, würde es für einen Skandal in der Stadt geben? Oh Gott, ich sehe die Schlagzeile schon vor mir. ‚Kant and Queen Anne‘s Hospital verschlampt private Unterlagen‘.“
Wie ein Grundschüler, der in aller Eile seine Hefte in die Tasche packt, um den Bus nicht zu verpassen, stopfte mein Vater die losen Blätter in seine Aktentasche und erhob sich vom Stuhl.
Als er auf mich zukam und meinen überforderten Gesichtsausdruck bemerkte, seufzte er tief und machte vor mir Halt.
„Tut mir Leid, Eveline, Schätzchen. Aber als Chefarzt hat man es eben nicht immer leicht. Entschuldige bitte, dass du das immer zu spüren bekommst.“
Er legte sanft seine große, raue Hand an meine Wange und versuchte sich an einem Lächeln.
„Schon in Ordnung.“, sagte ich und erwiderte sein Lächeln, wobei es bei mir um einiges gekonnter aussah.
„Du weißt, wenn du-“, begann er, aber ich unterbrach ihn.
„Ja, wenn ich Unterlagen von Gabriella McGurdian finde, bringe ich sie dir.“
Er lächelte, aber diesmal ohne es erzwingen zu müssen.
„Ein Anruf tut’s auch!“
Mit diesen Worten nahm er seine Jacke von der Stuhllehne und verließ den Raum, seine Aktentasche hatte er sich bereits unter den Arm geklemmt.
Wenig später hörte ich die Haustür ins Schloss fallen und war allein. Allein wie ich es inzwischen schon gewohnt war.
Seit dem Tod meiner Mutter stürzte sich mein Vater regelrecht in seine Arbeit. Stetig ließ er sich zu Überstunden einschreiben und kam manchmal volle 24 Stunden nicht nach Hause.
Es kam mir ab und an so vor, als würde er vor mir fliehen wollen und nicht vor dem Schmerz des Verlustes meiner Mutter. Aber auch mit diesem Gedanken hatte ich mich inzwischen abgefunden. Mein Vater hatte mir schon mehrmals beteuert, dass ich aussehe wie meine Mutter, als er sie kennen lernte. Vielleicht floh er vor dem Schmerz, ständig in das Gesicht einer toten Frau blicken zu müssen? Ich wusste es nicht und würde wahrscheinlich sowieso nie aus meinem Witwer schlau werden. Fragen wollte ich ihn nicht. Ich bekam es genauso wenig zustande ohne zittrige Stimme über meine Mom zu reden wie mein Vater. Obwohl es inzwischen einige Jahre her war, befand ich es noch als unmoralisch auf diesem Thema herumzureiten. Außerdem machte es mir Angst, dass die Tränendrüsen wohl doch austrocknen konnten. Also forderte ich sie schon gar nicht mehr heraus, indem ich einfach nicht mehr von ihr sprach oder groß über sie nachdachte.
Wenn man es nicht selbst erlebt hat, kann man sich gar nicht vorstellen, welcher Schmerz an einem nagt, wenn man den wichtigsten Menschen in seinem Leben ohne Abschied verliert.
Es war als wäre mit meiner Mutter auch ein wichtiger Bestandteil meines Charakters verloren gegangen – meine Stärke, mein Selbstbewusstsein.
Damals war es immer sie gewesen, die mir Mut zusprach, die meinte, dass jeder wegen einer bestimmten Mission auf der Erde war. War es ihre Mission gewesen im zarten Alter von zweiunddreißig im Chesapeake Bay zu ertrinken?
Ich warf einen Blick zurück in den Korridor, indem das Bild meiner Mutter hing und schluckte schweren Herzens.
Am Abend rief mich völlig außer Sinne Kylie an und störte mich beim Verfolgen meiner Lieblingsserie.
Kylie hatte, so konnte man meinen, wirklich eine Talent dafür, im unpassendsten Moment ihrer Stimmung Kund zu tun. Sie erzählte von der unheimlichen Tragik, dass ihre Lieblingserie, die praktischerweise auch immer um diese Uhrzeit gelaufen war und ich somit ungestört die meine sehen konnte, bis zur nächsten Staffel nicht mehr kommen würde und sie somit beinah ein ganzes Halbjahr auf Chace Crawford verzichten müsse.
„Aber Phelim hat doch eigentlich auch eine bedeutende Ähnlichkeit mit ihm. Findest du nicht auch? Sie haben die gleichen Augen…“, plapperte sie nach einer kurzen, wirklich sehr kurzen, Überlegungspause weiter und verfiel in ihr übliches Geschmachte.
„Kylie, ich hab Besseres zutun als in den Augen eines Proleten zu verfallen.“, meinte ich unbeeindruckt und schüttelte genervt den Kopf.
„Wusstest du, dass er einen Bruder hat? Der ist mir noch nie aufgefallen…“, plapperte sie weiter, ohne auf meinen genervten Unterton einzugehen. „Aber kein Wunder. Er scheint ein ziemlich ruhiger Typ zu sein, den kann man unter mehr als Tausend Schülern schon mal übersehen.“
„Ja, Kylie. Aber weißt du, die Staffel meiner Serie ist noch nicht vorbei. Außerdem ist mir es egal, ob Phelim einen Bruder hat.“, meinte ich, jenseits aller Höflichkeit und beobachtete, wie der Hauptdarsteller im Bildschirm gerade seine Tabletten hinter einem Buchhalter verstaute, die Kamera ganz nah an sein Gesicht zoomte und seine lilafarben umränderte Augen zeigte.
Am anderen Ende der Leitung ertönte beinahe zeitgleich ein eingeschnapptes Schnauben.
„Na gut. Dann sehen wir uns morgen. Bis dann.“, und die Verbindung wurde unterbrochen.
So viel mal für den Anfang Bitte postet hier nichts dazu, sondern teilt mir eure Meinung immer in dem Thread hier mit: http://board.world-of-hentai.to/f211/blutfedern-maailma-lunastaja-125666/#post1382545
Danke!
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Kapitel 2 - Die, mit den Lauschern an der Wand
„Guten Morgen, Lin!“, vor meiner Haustür stand Kylie und strahlte mich an als hätte ich ihr ein Geschenk gemacht und nicht so wie man es um diese Uhrzeit von gewöhnlichen Menschen erwartet hätte.
„Morgen“, brummte ich mit bedeutend weniger Inbrunst und ließ sie eintreten. „Du bist früh dran.“
„Und du spät.“, bemerkte Kylie. Sie hob eine Augenbraue und begutachtete mich vom Haaransatz über mein gelbes Mickey-Maus-Shirt, dass ich schon seit meinem 12. Geburtstag besaß, bis hin zu meinen noch nackten Füßen. Ich lächelte sie wortlos an und versuchte das Blut, das sich in meinem Kopf stauen wollte, zu vertreiben.
„Ich weiß. Und deswegen geh ich jetzt nach oben und zieh mich mal um.“, murmelte ich und ließ Kylie im Korridor stehen.
„Sind das die Bücher aus der Bibliothek?“, fragte Kylie, als ich nach einer Weile wieder nach unten kam und sie am Küchentisch sitzend fand. Auf der Tischplatte lag die weiße Tüte, die sie wohl hier rein geschleppt hatte. Kylie sah mich nicht an während sie sprach und blätterte stattdessen eines der Bücher durch. Ihr skeptischer Gesichtsausdruck entging mir nicht.
„Die sehen aus als hätten sie eine Begegnung mit der Waschmaschine gemacht.“, flocht sie ein und deutete auf das verfilzte Buch, welches sich leicht gebogen hatte, in ihrer Hand.
„Ein Unfall.“, sagte ich Schulter zuckend und begab mich zum Kühlschrank, um mir eine Schüssel Cornflakes zu machen. Ich hatte ganz vergessen zu fragen, wie der Typ von gestern eigentlich hieß – Immerhin war er mir etwas für die Bücher schuldig!
„Ein Unfall?“, widerholte sie ungläubig. „Du hast die Tüte in die Waschmaschine gesteckt?“ Ihre Stimme klang jetzt so als würde sie grinsen.
Und das tat sie auch, als ich mich zu ihr umdrehte. Ich wusste, dass ihr sehr wohl klar war, dass ich das so nicht gemeint hatte, aber Kylie versuchte sich gelegentlich vergebens als Komikerin.
Ich schob die Augenbrauen zusammen und kicherte mein ‚Du bist unmöglich‘-Kichern.
„Ja, natürlich habe ich das. Ich dachte, so würden die vergilbten Blätter vielleicht wieder weiß werden.“, sagte ich sarkastisch und stellte mein inzwischen angerichtetes Müsli auf den Tisch, ehe ich mich Kylie gegenüber setzte. Diese kicherte leise und verstaute die Bücher wieder in der Tüte.
„Waren die von Anfang an so?“, fragte sie, als ich mir den ersten Löffel in den Mund geschoben hatte und ihn in der Schüssel drehte während ich kaute.
Seufzend ließ ich den Löffel los und antwortete widerwillig. „Nein. Irgend so ein Idiot ist gegen mich geprallt. Dabei ist mir die Tüte aus den Händen gefallen, die Bücher sind rausgerutscht und es hat geregnet.“ Ich zuckte die Schultern und nahm das Rühren meiner Cornflakes wieder auf. „Er hat sie beschädigt.“
„Er?“, fragte Kylie und es klang so als wollte sie einen bestimmten Namen hörn.
„Kylie, ich hab keine Ahnung, wie der Typ heißt. Was mich ziemlich verärgert“, ich schob mir einen weitern Löffel in den Mund, ehe ich Kylie ansah.
Kylies Augen weiteten sich und auf ihrem Gesicht breitete sich ein verschwörerisches Lächeln aus. Ich wusste, dass sie momentan einen ganz anderen Grund im Sinn hatte, warum mich die Tatsache, dass ich seinen Namen nicht kannte, so störte.
„Was?! Er muss mir die Bücher ersetzen!“, erklärte ich schmatzend und trank den Rest des Müslis aus der Schüssel heraus, obwohl noch einige Cornflakes in der Milch schwammen.
„Die Bücher ersetzen. Natürlich.“, sagte Kylie sarkastisch, schürzte die Lippen und nickte. Genervt stöhnte ich und stand auf.
„Ja, genau! Komm wir müssen los.“, erinnerte ich sie, legte meine Schüssel in die Spüle und ließ Wasser hinein laufen.
„Wie sah der Typ denn aus?“, fragte Kylie nachdenklich, als wir wenig später in meinem Wagen, einem sportlichen weißen Alpha Romeo, saßen.
„Keine Ahnung. Hab ihn mir nicht so genau angeguckt.“, log ich munter, obwohl ich sein Gesicht genau vor Augen hatte. Vor allem diese Augen, die mich zwar so erbost fixiert hatten, aber dennoch eine tiefgründige Schönheit besaßen.
Ich achtete nicht auf Kylies misstrauisches ‚Mhm‘ und tat so als müsse ich mich voll und ganz auf die Straße konzentrieren.
„Aber ich sag dir. Dieser Kerl war sowas von unhöflich!“, redete ich schnell weiter, weil ich wusste, dass Kylie wahrscheinlich gerade an anderen Hirngespinsten arbeitete, „ Ihm war auch etwas aus den Händen gefallen und als ich ihm helfen wollte, es einzusammeln, hat der nur ‚Verschwinde‘ gebrummt.“, erzählte ich zu Ende und versuchte seinen feindseligen Ton zu interpretieren. Dass ich dieses ‚Etwas‘ auch noch kaputt gemacht hatte, verschwieg ich ihr lieber.
Kylie blieb stumm. Als ich nach einer Weile vorsichtshalber zu ihr rüber linste– sie könnte ja in Ohnmacht gefallen sein oder sowas, denn ‚still sein‘ passte so gar nicht zu ihr – sah sie gedankenverloren aus dem Seitenfenster. Ich kam gerade an dem Gedanken an, dass sie die Bäume, an denen wir vorbeibrausten, zählen könnte, als sie mich triumphierend lächelnd ansah.
„Der mysteriöse Unbekannte.“, sagte sie schlicht und nickte sich selbst zustimmend.
Ich stöhnte. Kylies Mutter war Astrologin und daher durfte ich mir beinahe wöchentlich das Horoskop des Zwillings anhören. Sie ging mir manchmal ziemlich auf die Nerven damit, vor allem wenn sie anfing zu spekulieren, was genau mich erwarten würde.
‚Ein sehr enger Freund will Ihnen näher sein als Ihnen lieb ist‘ hieß es vor zwei oder drei Monaten und seither beobachtete sie die Mimik und Gestik von Tyler mir gegenüber mit doppelter Aufmerksamkeit. Tyler war seit Ende des 2. Jahres auf der Middle School mein Ex-Freund und damals mein erster Freund. Naja, wenn man das überhaupt ‚Freund‘ nennen gekonnt hatte. Er war damals eben der erste Junge, mit dem ich mich super verstanden hatte. Und als es dann hieß, wir wären verliebt und zusammen – ohne auch nur einmal darüber gesprochen oder gar nachgedacht zu haben – hatten wir bis es wieder vorbei war, kein Wort miteinander gewechselt. Inzwischen waren wir im 3. Jahr der High School und Tyler der beste Freund, den man sich neben Kylie vorstellen konnte. Und nicht mehr. Aber das meiner hoffnungslos romantischen Freundin klar zu machen, war ungefähr so erfolgreich wie einen Löwen zu einer Reisdiät zu überreden.
Auch in dieser Woche blieb ich von Kylies astrologischen Berichten nicht verschont.
„Ihnen steht eine Begegnung mit einem mysteriösen, charmanten Jüngling bevor.“, wiederholte Kylie den Satz aus meinem Horoskop, den ich erst vor wenigen Tagen gehört hatte.
„Charmant!“, rief ich belustigt und schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Sag mal, Kylie Blaige, hast du mir nicht zugehört? Der Typ war alles, aber sicher nicht charmant!“
Kylie kicherte unbeirrt. „Du kennst ihn doch gar nicht! Vielleicht hatte er es eilig und du hast ihn mit deiner Knallaktion verärgert.“
Wohl eher mit meiner Trampelaktion, dachte ich bitter und bis mir auf die Oberlippe, um meine Gedanken nicht laut auszusprechen.
„Unsinn.“, sagte ich stattdessen, „Ist ja auch egal. Dem werden wir eh nie wieder begegnen. Hast du die Tüte eigentlich mitgenohm‘?“
Eigentlich hatte ich diese Frage nur gestellt, um von unserem jetzigen Thema abzulenken. Zu erwarten war jedoch nicht, dass dieses Frage mit einem kleinlauten, schuldbewussten ‚Nein‘ beantwortet wurde.
Wir hatten über die Hälfte der Strecke schon hinter uns gebracht, aber das war jetzt unbedeutend. Uns blieb nichts anderes übrig als wieder zu mir nach Hause zu fahren und die Bücher zu holen. Und das, obwohl wir ohnehin schon spät dran waren.
Kylie und ich kamen natürlich zu spät zu unserer ersten Stunde. Ich war noch nie so dankbar, dass wir so ziemlich die gleichen Kurse belegt hatten. Denn jetzt würde ich nicht die einzige sein, die sich unserem bösartigen Coach Woober, der außerdem unser Mathelehrer war, stellen musste.
Trotz allem Ärger, den wir bekommen würden, schien es Kylie einfach nicht eilig zu haben. Sie wollte doch tatsächlich vor der Damentoilette haltmachen, um ihr Make-up aufzufrischen. Ich glaubte, ich traue meinen Ohren nicht!
„Kylie. Dafür haben wir jetzt um Himmelswillen wirklich keine Zeit!“, schimpfte ich. „Ich für meinen Teil möchte nicht nachsitzen.“
Doch sie blieb stur. „Doch! Wenn du mich nicht so durch die Flure hetzen würdest, wäre mein Make-up nicht verflossen! Außerdem geht Phelim Wadim auch auf diese Schule, falls du das vergessen hast!“, meinte sie und es klang fast verzweifelt. Sie war schlimm geworden. Seitdem sie vor einem Jahr einer der Jungs kaltblütig abserviert hatte, legte sie exorbitant viel Wert auf ihr Aussehen. Als ob es damals nur daran lag und nicht an der Tatsache, dass ihr Auserwählter bereits vergeben war.
Ich stöhnte genervt und ergab mich. Kylie lächelte selig und verschwand in der Damentoilette. Ich war wahrscheinlich auch gerade auf der Damentoilette gewesen, als Gott das Durchsetzungsvermögen verteilte.
Seufzend lehnte ich mich an die gelb verputzte Wand, ließ meine Tasche achtlos neben mir auf den Boden fallen und sah mich resigniert im leeren Korridor um. Ich sog scharf die Luft ein, als ‚er‘ unerwartet aus einem der Seitenkorridore geschlendert kam.
Zuerst schien er mich gar nicht zu sehen und lief unbeirrt direkt auf mich zu. Er hatte seinen Blick auf das hässlich ergraute Laminat unter seinen Füßen gerichtet. Die Tasche, die ihm um die Schultern hing, prallte beim Gehen stetig von seinem Oberschenkel ab. Seine Daumen hatte er lässig in die Gürtelriemen seiner schwarzen Hose geschoben und seine rostbraunen Haare sahen aus, als habe er sie heute noch nicht gekämmt, aber es passte zu ihm wie zu keinem anderen.
Erst als er über den Daumen gepeilt zehn Meter von mir entfernt war, sah er auf.
Sein Gesicht strahlte nicht den erwarteten Zorn aus, eher eine arrogante Gleichgültigkeit, als er mich entdeckte. Für einen Moment war ich noch ganz perplex. Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dem Typen hier zu begegnen, geschweige denn ihm überhaupt nochmal entgegen treten zu müssen.
Ihm schien es ganz anders zu ergehen. Er sah mich an als hätte er genau gewusst, dass er mich hier antreffen würde und ich meinte, dass sein Weg genau in meine Richtung einschlug. Als er dann auch noch stehen blieb und den Mund aufmachen wollte, schnappte ich hastig meine Tasche vom Boden und rannte ohne ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen den Flur entlang.
Es war total kindisch, das wusste ich, aber es war genau das, was meine Intuition mir als Erstes riet.
Außerdem hatte ich ohnehin überhaupt keine Ahnung, was ich auf seine Beschuldigungen antworten sollte. Ich wusste, dass er mir Vorwürfe machen wollte, was sollte er sonst von einem zotteligen Mädchen wollen, das darüber hinaus auch ein Talent für Tollpatschigkeit besaß?
Dass jede einzelne Perle seiner Kette mehr wert hatte als all die Bücher zusammen, war klarer als Hokkaidos Mashu-See*.
Also war es die deutlich kleinere Blamage, einfach abzuhauen als außer Stande etwas zu sagen vor ihm zu stehen und Däumchen zu drehen. Und meine Schuld eingestehen wollte ich schon dreimal nicht!
Zwar völlig außer Atem, aber in Rekordzeit erreichte ich die Tür zum Mathematikkurs. Es war noch eine Minute, um zu verschnaufen, nötig, bevor ich ins Klassenzimmer eintreten konnte. Mist, verdammter. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Kylie den Teil mit der Entschuldigung zu überlassen. Dank meiner überstürzten Fluchtaktion durfte ich diese Hürde nun selbst bewältigen. Das ganze wäre ja alles nicht so tragisch, wenn es nicht Coach Woober wäre, den ich um Verzeihung bitten musste. Er war so ziemlich der strengste Lehrer der gesamten Chestertown High und kannte keine Gnade, was Pünktlichkeit betraf. „Wenn du zu einem Spiel nicht rechtzeitig erscheinst, scheidest du automatisch aus!“, sagte er immer. Dass es sich hierbei aber um Unterricht und Belehrung handelte und nicht um irgendeinen athletischen Wettbewerb, schien ihn keineswegs zu kümmern.
Ich holte noch einmal tief Luft, ehe ich anklopfte und ins Rauminnere schlüpfte.
„Miss Travis!“, rief Coach Woober in fadenscheiniger Freude. „Das wir Sie hier heute auch noch begrüßen dürfen.“
Ich unterdrückte ein entnervtes Stöhnen und sagte stattdessen: „Ja. Tut mir Leid, Sir. Aber wir hatten etwas Wichtiges vergessen und mussten nochmal umdrehen.“
„Wir?“, hakte er nach und versuchte an mir vorbei in den Flur zu linsen.
„Ja, wir.“, sagte plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Überrascht drehte ich mich um. Hinter mir stand – wer sollte es auch anderes sein – der Typ von eben mit Kylie im Schlepptau.
Fassungslos starrte ich erst in sein, dann in das begeistert grinsende Gesicht von meiner besten Freundin, die sich an seinen Arm gehangen hatte. Verräterin.
„Und Sie sind wer?“, fragte Coach Woober und hob eine Augenbraue.
Er räusperte sich, ehe er ihm antwortete. „Ich bin Jeldrik Wadim, Sir. Ich stehe seit letzter Woche ebenfalls auf ihrer Liste.“
Wadim. Ach du Schande. Das auch noch! Das Schicksal meinte es nicht gut mit mir, eindeutig. Da hatte ich mich doch tatsächlich mit dem Bruder des begehrtesten Schülers unserer High-School angelegt.
Phelim und Jeldrik Wadim waren vor ein paar Wochen nach Chestertown gezogen und seither war Phelim der unangefochten erfolgreichste Charmeur der Chestertown High. Dass er bisher mehreren Mädchen reihenweise das Herz gebrochen hatte und es mit keiner länger als eine Woche aushielt, störte jedoch niemanden. Wie auch leider Kylie nicht.
„Ach ja! Sicher, Sie kommen aus dem Kurs der Sophomores*, nicht wahr?“, meinte der Coach, nachdem er seinen Namen auf seiner Liste entdeckt hatte und deutete auf einen der freien Plätze.
Jeldrik drängte sich an mir vorbei und beschlagnahmte den Platz, der eigentlich bisher immer meiner gewesen war. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
Ich drehte mich verärgert zu Kylie um, diese aber zuckte nur bedauernd die Schultern und steuerte ihren gewöhnlichen Platz neben Jeldrik an. Dass sie dabei selig grinste, entging mir nicht.
Verräterin, Verräterin, Verräterin!
„Ah, ähm. Die Damen.“, hielt uns Coach Woober noch auf. „Hier sind Ihre Klausuren.“
Coach Woober blieb an seinem Pult sitzen und hob uns zwei Blätter entgegen.
Als ich ihm meine abnahm, fügte er, sodass nur ich hin verstehen konnte, hinzu: „Die sehen aber nicht sehr rosig aus.“ Und bedachte mich mit einem mahnenden Blick.
Ich erwiderte nichts darauf und ging ohne auf meine Note zu sehen zu dem einzig freien Platz. Der, der ganz hinten im Eck war und man den Lehrer nur noch mit Mühe verstehen konnte. Ich seufzte verärgert und erdolchte Jeldrik gedanklich und Kylie gleich dazu.
Ich wusste es, dass die Klausur den Bach runter gegangen war, bereits, als ich sie noch nicht einmal geschrieben hatte. Binomische Formeln waren noch nie so mein Ding gewesen. Schon gar nicht, wenn man auch noch darauf aufbauen sollte, wenn man noch nicht einmal die Grundkenntnisse begriffen hatte. Eigentlich war es unnötig die konkrete Note wissen zu wollen. Schlecht war sie ohnehin. Aber meine menschliche Neugierde war wie so oft nicht zu ignorieren und ich warf Widerwillen doch einen Blick auf meine Note.
Ein fettes, rotes F. Ungenügend. Na, diese Arbeit bekam mein Dad wohl besser nicht zu Gesicht.
Murrend stopfte ich die Klausur in meine Tasche und sah zu meinem einzigen Tischnachbarn. Es war ein blonder, blasser Junge, der noch von Akne geplagt war. Aber das schien ihn genauso wenig zu stören, wie das fette F, das ich auch auf seiner Klausur fand. Während Coach Woober mit uns die Matheklausur durchging in der Hoffnung, dass wir es schlussendlich doch noch Dreh raus haben könnten, spielte der Junge seelenruhig Playstation Portable. Wenn er seine Konzentration auf den Unterricht und nicht auf dieses ovale Gerät beziehen würde, könnte er mit Sicherheit auch auf ein C kommen. Aber wie gehabt, es schien ihn nicht zu kümmern.
Seufzend wandte ich mich von ihm ab und versuchte dem Unterricht zu folgen, wenngleich ich den Stoff einzig und allein akustisch verstand.
Obwohl ich eine gute viertel Stunde zu spät zum Unterricht kam, wollte diese Stunde einfach kein Ende nehmen. Sie zog sich und zog sich. Zeitweilen spielte ich sogar mit dem Gedanken meine Nagelfeile auszupacken – meine Finger hatten mal wieder dringend eine ordentliche Pediküre nötig – aber ich verwarf ihn wieder, als Coach Woober die Playstation Portable des Jungen neben mit entdeckt hatte und sie diesem wegnahm.
Es grenzte beinah an eine Wunder, dass ich nach einer Weile vergaß auf die Uhr zu sehen und der Unterricht dann doch schnell ein Ende fand. Mir kam die Schulglocke vor wie die Klingel des Christkindes, die meine Mom damals immer zu Weihnachten läutete, wenn ich zum Geschenke auspacken kommen gedurft hatte. Genau so eilig hatte ich es jetzt aus dem stickigen Klassenzimmer zu kommen, auch wenn mir durchaus bewusst war, dass mich draußen keine Geschenke erwarten würden.
Kylie wartete an der Tür auf mich und strahlte als habe man sie gerade zur Schönheitskönigin gekürt.
„Warten Sie einen Moment, Mr. Wadim.“, sagte der Coach, als ich gerade bei Kylie ankam. Ohne jegliche Vorwarnung packte Kylie mich energisch am Arm und zog mich vor die Tür. Dann stellte sie sich neben diese und versuchte zu lauschen.
„Kylie.“, zischte ich mahnend.
„Pscht!“, machte sie und gestikulierte mit ihrer linken Hand, was mir wahrscheinlich zu verstehen geben sollte, dass ich zu schweigen hatte.
Ich schnaubte wütend und war schon im Begriff mich von der Tür zu entfernen, als mich ein Gedanke durchzuckte. Vielleicht hatte Jeldrik ja genauso eine Matheschwäche wie ich? Das würde mich zwar auch nicht weiter bringen, aber immerhin mit Sicherheit meinem Ego Vergnügen bereiten. Ohne weitere Umschweifen stellte ich mich neben Kylie, die gerade den letzten Schüler aus der Tür treten ließ, und lauschte.
„Sie haben sich ziemlich schnell eingewöhnt, Mr. Wadim. Ihre Noten sind überraschend gut.“, bekam ich leider Gottes das Gegenteil meiner Hoffnung zu hören. Ich widerstand dem Drang, verärgert wie ein Kleinkind mit dem Fuß aufzustampfen und hörte dennoch gespannt zu, was Coach Woober noch zu sagen hatte.
„Ich wünschte, ich könnte dies auch von einigen anderen Schülern behaupten.“ Er seufzte. „Ich weiß, Sie sind noch nicht lange hier und ich weiß ja nicht, wie es in den anderen Fächern bei Ihnen steht, aber meinen Sie, Sie könnten Zeit finden einer meiner Schülerinnen Nachhilfeunterricht zu geben? Ich möchte wenigstens ein paar meiner Schüler die Kurse in den Sommerferien erspar’n.“
Für einen Moment war es still. Aber dass Mr. Woober schließlich freudig weiter sprach, ließ mich darauf schließen, dass Jeldrik wohl stumm nickend zugestimmt haben musste.
„Wunderbar! Ich selbst bin noch nicht dazu gekommen mit ihr zu sprechen. Wie wär’s wenn sie direkt mal zu ihr hin gehen und ihr Bescheid geben?“
„Natürlich.“, hörte ich zum zweiten Mal an diesem Tag seine angespannte, aber auf eine gewisse Weise angenehme Stimme. Bei ihrem Klang setzte mein Herz kaum merklich einen Augenblick aus.
„Klasse! Sicher ist sie in der Pause in der Cafeteria. Ihr Name ist Eveline Travis.“
„Was?!“, platze es erschrocken aus mir heraus und zog ein Echo mit sich.
Impulsiv, wie ich war, hatte ich die Tür aufgerissen und stand, ehe ich mich versah, auf deren andere Seite. Es dauerte seine Zeit bis ich kapierte, dass das Echo, welches in meiner Stimme mitschwang, nicht ‚mein’ Echo war, sondern lediglich Kylies ebenso entsetztes ‚Was’. Im Gegensatz zu mir, war Kylie jedoch dort stehen geblieben, wo sie war.
Coach Woober sah nun verwirrt und Jeldrik mit hochgezogener Augenbraue das zierliche Mädchen mit den schwarz gelockten Haaren im Türrahmen an.
Ebenso schnell, wie meine Überschwänglichkeit gekommen war, war sie auch wieder verschwunden. Völlig perplex, als wüsste ich selbst nicht wie ich hierher gelangt war, repräsentierte ich mich nun den beiden argwöhnischen Augenpaaren. Ich schluckte und merkte, wie mein Gesicht langsam wärmer wurde.
„Ich… äh…“, stotterte ich und brach sofort wieder ab, weil mir selbst nicht ganz klar war, was ich eigentlich sagen wollte. Mich rauszureden war sowieso zwecklos. Ich war eine miserable Lügnerin und Coach Woober kannte mich lange genug, um das zu wissen.
„Gerade haben wir über dich gesprochen.“, sagte der Coach mit vor Spott triefender Stimme, als habe ich das nicht schon längst gewusst. Mir schoss noch mehr Hitze in die Wangen und ich war mir sicher, dass man das inzwischen auch sehen konnte.
Ich war vor Scham sogar so verzweifelt, dass ich geringzeitig mit dem Gedanken spielte, eine Ohnmacht zu imitieren. Aber dass man mir meine Schauspielerei ebenso wenig abkaufen würde, wie meine Lügen, kam mir gerade noch rechtzeitig in den Sinn, bevor ich mein Vorhaben in die Tat umsetzten konnte.
„Zufälle gibt’s.“, fügte Jeldrik Coach Woobers Worten zynisch hinzu und bedachte mich mit einem mokanten Grinsen.
Und das war genau das, was ich gebraucht hatte. Mein kompromittiertes Gefühl wich augenblicklich der Wut und ich schlug hart die Zähne aufeinander.
Diffizil ignorierte ich, dass ich mich gerade komplett zum Affen gemacht hatte und ging auf Coach Woobers Bemerkung ein als wäre sie ein ernst gemeinter Satz gewesen.
„Ja, ich weiß. Aber Coach, das geht nicht.“, jammerte ich, obgleich mir bewusst war, dass es ohnehin überflüssig war. Jeldrik war mein letzter Tropfen Wasser in der Wüste. Meine einzige Möglichkeit, dem zusätzlichen Mathekurs zu entgehen.
Coach Woober zog beide Augenbrauen gen Himmel. Wobei es eine auch getan hätte. „So?“, sagte er keck und zog das „O“ in die Länge. „Und warum nicht?“
Flehend sah ich zu Jeldrik hinüber, der inzwischen lässig am Lehrerpult lehnte und unsere dürftige Kommunikation stumm verfolgte. Auf eine Reaktion seinerseits in Folge meines auffordernden Blickes, hätte ich bis zur nächsten Sonnenfinsternis warten können. „Der Lauscher an der Wand, hört seine eig’ne Schand’“, kam es mir in den Sinn.
„Weil… weil ich bereits einen Nachhilfelehrer habe!“, schoss es aus mir heraus, ohne dass ich groß darüber nachdachte. Ich war selbst überrascht wie glaubwürdig ernst ich diese Lüge zu Tage gebracht haben konnte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als Coach Woobers skeptischer Blick nachdenklich wurde.
„Aha.“, meinte er und runzelte die Stirn, ehe er sich an Jeldrik wandte. „Dann hat sich die Sache wohl erledigt, Mr. Wadim. Aber Danke für ihre Bereitschaft.“
Der Coach nahm seine wuchtige Aktentasche vom Pult und verlies den Raum.
Ich hörte nur noch ein ersticktes „Huch“ kurz bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. Er war wohl der indiskreten Kylie in die Arme gelaufen. Ich hatte ganz vergessen, dass sie jedes kleine Wort, das hier fiel, sensationslüstern mitverfolgt hatte.
Es tat mir fast Leid, dass sie das Interessanteste, dank ihrer Karambolage mit dem Coach, nun verpassen würde. Aber eben nur fast.
„Entschuldige.“, brach Jeldrik die Stille im Raum und sah mich unter seinem transparenten Vorhang, der ihm von der Stirn fiel, hindurch fragend an. Auch mir stand ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Hatte ich da gerade richtig gehört? ‚Er‘ bat ‚mich‘ um Verzeihung?
„Wo..Wofür?“, fragte ich ungläubig und kräuselte die Stirn. Jeldrik schluckte schwer und stieß sich vom Pult ab bevor er mir antwortete.
„Ich war gestern ziemlich unhöflich zu dir. Das tut mir Leid.“
Ich war fassungslos. Und allein deshalb brachte ich dann auch folgende Worte über die Lippen: „Nein, du… Ich meine, reine Unhöflichkeit ist leichter zu vergeben. Wäre ich an deiner Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch nicht anders reagiert. Tut mir Leid wegen der Kette.“ Ich lieferte doch tatsächlich ein Eigengeständnis ab. Bisher war mir nicht mal selbst bewusst gewesen, dass es mir wahrhaftig Leid tat.
Jeldrik lächelte mich müde an und fuhr sich durchs Haar, um seine Stirn freizubekommen und lief dann auf und ab.
„Nein. Da wo ich herkomme, haben Umgangsformen mehr wert als materielle Dinge, Eve.“
„Eve?“
Jeldrik hielt in der Bewegung inne und sah mich Stirn runzelnd an.
„Das ist doch dein Name?“
„Ja… Eveline. Genau.“, stammelte ich, „Aber woher weißt du das?“
Jeldriks Stirn glättete sich wieder und er lächelte mich kokett an. °
Aber er kam nicht dazu mir zu antworten, stattdessen zuckte er kurz zusammen. Und keine Millisekunde später stürmte ein goldblondes Mädchen ins Zimmer.
„Oh. Jeldrik. Hallo.“, sagte sie und lächelte ihn übertrieben breit an. Mich begrüßte sie nur mit einem missbilligenden Nicken, als sie mich entdeckte und sprach meinen Namen aus. „Eveline…“
Das Mädchen war niemand geringeres als Christine Warp. Ihre Familie besaß eine Drogeriefirma und man konnte sie als eines der Mädchen bezeichnen, die nur mit den Augen klimpern mussten, um Daddys Porsche zu bekommen. Würde ich in einem amerikanischen Teeniefilm festsitzen, dann würde sie ganz klar Promqueen werden. Aber dem war Gott sei Dank nicht so und sie war einfach nur ein steinreiches Mädchen, das sich einbildete mit ihrem hübschen Gesicht und Daddys Geld alles zu bekommen, was sie wollte. Dass das leider meistens auch der Wahrheit entsprach, verdrängte ich munter.
„Gut, dass ich dich treffe!“, trällerte Christi, warf ihr Haar zurück und legte auf dem dreckigen Laminat einen Catwalk hin, der auch mich zur Katzen werden ließ. Aber zu einer der Katzen, die biestig die Krallen ausfuhr, wenn man sich mit ihr anlegte.
Als wäre ich gar nicht hier, klemmte sie sich an Jeldriks Arm und zog ihn mit sich.
„Ich versteh Mathe überhaupt nicht und Coach Woober hat gemeint, dass ich bei dir Hilfe finde.“, hörte ich sie ihren Satz beenden und ich war allein in dem hallenden Klassenzimmer. Mhm. Mit diesem Problem war sie allerdings nicht allein. Ich seufzte und warf einen Blick auf die Tafel, die vor binomischen Formeln geradezu überquoll.
*Sophomores: Schüler der 10. Jahrgangsstufe in den USA, also der zweiten Klasse an einer High School (Jeldrik hatte in den ersten Wochen auf Grund seines angeblichen Rückstandes wegen dem Schulwechsel zuerst einen niedrigeren Kurs besucht, ehe man ihn in einen seines Alters gerechten Kurs steckte)
*Mashusee: soweit ich weiß, der klarste See der Welt
°Kommentar des Autors: Kurz hatte ich das Bedürfnis Jeldrik ‚Connections, Baby‘ sagen zu lassen :‘D
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