[Biete] Der blaue Hirschdrache

Status
Für weitere Antworten geschlossen.

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Bitte alle Kritiken hier hinein posten. Werde den Beitrag dann einfach immer editieren.
Sollte ich irgendwo vergessen haben, einen Gedanken ins kursive zu setzen liegt dass daran, dass das Forum die Formatirungen nicht übernimmt und ich alles noch mal nachträglich formatieren muss.








[FONT=&quot]Nie gezählte Tage liegen hinter dir,[/FONT]
[FONT=&quot]in der der Monet so oft so wichtig für dich war.[/FONT]
[FONT=&quot]Es war auch dein Traum, [/FONT]
[FONT=&quot]mit dem du diesen Weg gegangen bist,[/FONT]
[FONT=&quot]deine Gefühle, [/FONT]
[FONT=&quot]die dich haben glauben lassen[/FONT]
[FONT=&quot]und deine Sehnsucht, [/FONT]
[FONT=&quot]die dich noch immer nicht zur Ruhe kommen lässt.[/FONT]
[FONT=&quot]Es ist immer noch dein Weg,[/FONT]
[FONT=&quot]der zu dir gehört.[/FONT]
[FONT=&quot]Fang dir deinen Traum - Staubkind![/FONT]
[FONT=&quot]Zitat von Staubkind - zu weit[/FONT]​
[FONT=&quot]



Prolog[/FONT]




[FONT="]1[/FONT]


[FONT="]Der Mann schritt durch den Schnee und die Frau mit dem Kind folgte ihm. [/FONT]
[FONT="]Der Schnee lag Meter hoch. Der Sturm erschwerte die Sicht, aber hätten sie etwas gesehen, hätten sie nur das Weiß vor sich, um sich und hinter sich erblickt. Es war der Inbegriff einer Schneewüste. [/FONT]
[FONT="]Teilweise hingen die Spitzen hoher Tannen aus dem Schnee heraus, wirkten aber in all dem Schnee lediglich wie ein kleiner Hügel, den jemand aufgescharrt hatte. Man musste darauf achten, dass man nicht auf sie trat und sich dabei verletzte, denn der Schnee hatte sie fast komplett bedeckt. Und so hielten sie die Füße möglichst flach, auch wenn ihnen dass das Laufen zusätzlich erschwerte.[/FONT]
[FONT="]Der Sturm riss an ihren Klamotten und wirbelte bereits gefallene Eiskristalle auf. Die Frau hatte den Eindruck, sie wäre blind und taub. Immer nur dieses Weiß und selbst der Wind machte in dieser Einöde kein Geräusch mehr. Es gab einfach nichts, wodurch er pfeifen konnte. Nicht einmal der Schnee unter ihren Füßen machte ein knirschendes Geräusch, es wurde einfach vom Wind davon getragen. Und doch fanden die Flocken irgendwie einen Weg, sich an ihrer Kleidung festzusetzen oder gar einzudringen. [/FONT]
[FONT="]Sie hatten die Mütze und den Schal so weit wie möglich in das Gesicht gezogen, denn vor einiger Zeit waren ihnen die Nasenflügel eingefroren. [/FONT]
[FONT="]Das Kleinkind in den Armen der Frau zitterte. Wenn sie nicht bald einen Unterschlupf finden würden, würde das Kind erfrieren. Und dabei würde es nicht bleiben. Sie drückte es dicht an ihren Körper und versuchte es so gut wie möglich zu wärmen. Vergebens.[/FONT]
[FONT="]Manchmal dachte sie, etwas vor sich sehen zu können, eine Bewegung oder eine Hütte. Aber letztendlich entpuppte es sich lediglich als Einbildung oder Wunschdenken. Sie fühlte sich kraftlos,. Der Mann reichte ihr die Hand, damit sie sich nicht im Schneetreiben verloren, aber sie schüttelte nur den Kopf. So würde sie das Kind nicht mehr halten können.[/FONT]
[FONT="]Die Frau konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange sie nun schon durch diese Schneewüste liefen. Sie wusste nicht einmal, ob es Tag oder Nacht war. Das einzige, was sie sah war das Leuchten des Schnees. Aber letztendlich war es egal. Das einzig wichtige war, nicht zu erfrieren. [/FONT]
[FONT="]Mutlos folgte sie dem Mann mit gesenktem Kopf. [/FONT]


[FONT="]2


[/FONT]
[FONT="]"Dort vorne!", rief der Mann. Seine Stimme klang heiser und wurde vom Sturm davon getragen. [/FONT]
[FONT="]Die Frau blickte auf. Das Kind in ihren Armen regte sich kaum noch. Es zitterte nicht einmal mehr. Das einzige, was ihr die Sicherheit verschafft, dass es noch lebte, war die kleine Hand, die es um ihr Handgelenkt geschlungen hatte und manchmal zuckte. [/FONT]
[FONT="]"Ich sehe nichts", gab die Frau von sich. "Wir werden hier erfrieren."[/FONT]
[FONT="]"Nein! Sieh doch!" Der Mann deutete leicht nach rechts und änderte den Kurs. Die Frau versuchte das zu sehen, was er gesehen hatte.[/FONT]
[FONT="]Nein, da ist nichts, [/FONT]
[FONT="]dachte sie. Wir werden sinnlosen Einbildungen hinterher rennen und erfrieren. Alles, was mal hier stand, ist bereits verschneit. Nein, da ist nichts...doch... da... eine kleine Erhebung... ein Dach?[/FONT]
[FONT="]Desto näher sie kamen, desto deutlicher wurde die Erhebung und es war wirklich ein Dach. Ein steinernes Dach. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das Schneetreiben langsam nach lies. Die Kälte hatte ihre Sinne beeinträchtigt. [/FONT]
[FONT="]Sie betrachtete das steinerne Dach. "Wie möchtest du hinein gelangen? Es ist zugeschneit."[/FONT]
[FONT="]"Kümmere du dich um das Kind, ich werde sehe, dass ich an einer geeigneten Stelle nach einem Fenster grabe."[/FONT]
[FONT="]Die Frau hatte nicht einmal die Kraft zu nicken. Sie lies sich einfach auf die Knie sinken. Ihre Schneehose war ohnehin durchnässt und sie spürte schon lange nicht mehr, wie kalt es war. Sie drückte das Kind feste an sich und beobachtete den Mann, wie er begann, an einer Seite zu graben. [/FONT]
[FONT="]Nicht einschlafen, [/FONT]
[FONT="]dachte sie, wenn du einschläfst bist du tot. [/FONT]
[FONT="]Trotzdem fiel sie in eine Art Halbschlaf. Und so konnte sie später nicht sagen, wie viel Zeit vergangen war, als der Mann nach ihr rief. Er kniete vor einem zerbrochenem Fenster und winkte sie bei. [/FONT]
[FONT="]"Kommt her!"[/FONT]
[FONT="]Sie versuchte aufzustehen, doch ihre Beine waren vor Kälte so starr, dass sie nur noch kriechen konnte. Es war für sie ein unendlich weiter Weg bis zu dem Fenster. [/FONT]
[FONT="]"Pass auf, es scheint ziemlich weit nach unten zu gehen", warnte sie der Mann.[/FONT]
[FONT="]"Ich kann nicht mehr auf den Beinen stehen", erwiderte sie. "Schlüpfe du zuerst hinein und nimm Ilav entgegen. Dann fang mich auf." Das Reden strenge sie so an. Als der Mann nickte, sah sie Schweißperlen auf seiner Stirn. Wie konnte er bloß schwitzen?[/FONT]
[FONT="]Der Mann streifte den schweren Rucksack ab, kroch durch das kleine Loch und rief, als er unten stand, damit die Frau ihm folgte. Sie blieb aber in der Öffnung liegen und betrachtete das Gesicht des kleinen Jungens in ihren Armen. Er schlief schon sehr lange. Hoffentlich war es nicht zu spät.[/FONT]
[FONT="]Es ging wirklich tief nach unten. Sie konnte dem Mann nicht einmal den Jungen einfach so reichen. Er würde ein Stückchen fallen. Aber das war nicht so schlimm zu der Alternative, dass er im Sturm erfrieren würde. [/FONT]
[FONT="]Nachdem sie den Jungen hinunter gegeben hatte, schmiss sie den schweren Rucksack hinterher und kroch dann selbst komplett durch die Öffnung. Der Mann musste sie auffangen, damit sie nicht auf dem kalten Steinboden fiel. Behutsam setzte er sie auf der gegenüberliegenenden Seite ab und reichte ihr den Jungen.[/FONT]
[FONT="]Sie blickte sich um. Es war hier wirklich dunkel. Aber ihre Augen fingen an, sich an das wenige Licht zu gewöhnen.[/FONT]
[FONT="]Alles war aus Stein gehauen. Sogar die Tür. Sie sah Inschriften auf den Wänden und nur quälend langsam sickerte die Erkenntnis, dass sie sich in einem alten Grabgemäuer befanden, in sie.[/FONT]
[FONT="]Der Mann machte sich daran, einer der schweren Steinkisten hervor zu zerren. Dabei fiel der Frau auf, dass er seine Finger kaum bewegen konnte. [/FONT]
[FONT="]"Was tust du da?", fragte sie erschöpft und lehnte sich an die Wand.[/FONT]
[FONT="]"Wenn ich mich nicht täusche haben sie früher in diesen Ländern den Leichen Gaben in ihre Säge gelegt. Vielleicht können wir davon etwas zum Feuermachen verwenden."[/FONT]
[FONT="]Es war ein nerv tötendes Geräusch, wie der Steinsarg auf den Platten rieb und dann mit einem lauten Knall auf den Boden fiel. Aber die Frau war um den Lärm froh. Draußen, in diesem grässlichen Sturm war alles so still gewesen. Nicht mal der Sturm selbst schien ein Geräusch zu hinterlassen. Der Schnee saugte einfach jeden Laut auf.[/FONT]
[FONT="]Der Fall verursachte Risse im Stein des Sarges, aber er zerbrach zum Bedauern des Mannes nicht. Die Lieder des Jungen zuckten und seine Lippe zitterte, dann lag er wieder still in den Armen der Frau. Sie betrachtete sein Gesicht. Die Wängchen des Einjährigen waren rot, doch das restliche Gesicht war totenblass. [/FONT]
[FONT="]Der Mann schob den Deckel des Sarges beiseite und ein fauliger Gestank erfüllte die Grabkammer. Die Leiche im Sarg war noch nicht ganz verwest und es waren Säfte ausgetreten. Der Mann verzog das Gesicht, begann dann aber im Sarg herumzuwühlen. Es lagen tatsächlich einige Gaben dabei. Unter anderem einige Stoffe und geschnitzte Dinge. Die Stoffe würden stark qualmen und stinken, deshalb nahm er vorerst nur das Geschnitzte heraus und häufte alles auf einen kleinen Haufen. Er sprach die Vermutung aus, dass das Dorf, in dem der Tote gelebt hatte, nicht sonderlich reich gewesen sein durfte. Sonst hätten sie dem Toten mehr als Stoffe und Geschnitztes mitgegeben. Aber ihnen kam das nun zu Gute. [/FONT]
[FONT="]Als er alles Holz aus dem Sarg genommen hatte, nahm er drei Holzstückchen und häufte sie unter dem zerbrochenem Fenster auf. Dann zog er ein altes Feuerzeug aus seiner Tasche. Es dauerte lange, bis das Holz Feuer fing. Ihm fiel es schwer, das Feuerzeug mit den halberfrorenen und steifen Fingern zu halten und zu entzünden. Und das Holz war an einigen Stellen feucht. Aber letztendlich brannte es dann doch.[/FONT]
[FONT="]Er sah zur Frau und dem Kind. Sie war eingenickt und der Schnee an ihren Sachen fing an zu schmelzen. Er selbst spürte kaum die Wärme, die vom Feuer ausströmte.[/FONT]
[FONT="]Er rutschte zu der Frau herüber und rüttelte sie wach. "Du musst dich und das Kind auskleiden. Dann setzt euch so nah wie möglich an das Feuer und esst etwas von dem Trockenfleisch. Ich weiß nicht, ob das harte Brot noch gut ist. Ich befürchte, es ist nass geworden."[/FONT]
[FONT="]Die Frau nickte müde und träge zog sie sich und das Kind aus. Der Mann tat es ihnen nach. Dann setzten sie sich gemeinsam nackt an das Feuer. Der Junge schlief immer noch. Die Frau lies sich mit ihm auf den nun warm werdenden Boden sinken und starrte in das Feuer. Der Mann holte langsam etwas Trockenfleisch und eine dreiviertelvolle Flasche Wasser aus dem Rucksack. Beides war gefroren. Die Flasche stellte er an das Feuer, das Trockenfleisch hielt er kurz in die Flammen und reichte dann etwas der Frau. [/FONT]
[FONT="]"Gib mir Ilav. Ich werde die erste Wache übernehmen und ihm Wasser geben, sobald es warm genug ist. Schlaf du. Wir brauchen jetzt alle Ruhe."[/FONT]
[FONT="]Ohne Widerworte reichte sie ihm das Kind und schloss dann die Augen.[/FONT]
[FONT="]Der Mann selbst versuchte wach zu bleiben. Doch nach dem er dem Jungen nach einiger Zeit etwas Wasser eingeflößt hatte, fielen auch ihm die Augen zu. Sein Körper war zu erschöpft, als dass er es hätte verhindern können. [/FONT]
[FONT="]Keinen fielen die merkwürdigen Symbole und der Kreis auf dem Boden auf...[/FONT]


[FONT="]3


[/FONT]
[FONT="]Der Shinigami blickte auf die Welten der Menschen herab und das, was er sah, gefiel ihm. [/FONT]
[FONT="]Sie werden bald kommen,[/FONT]
[FONT="] dachte er voll Vorfreude.[/FONT]




Vorspiel


1


[FONT=&quot]Natal erwachte, weil er dachte, jemand hätte seinen Namen gerufen. Aber als er sich aufrichtete und sich im Zimmer umblickte war er allein. [/FONT]

[FONT=&quot]Trüb fiel das Licht der Sonne in sein Zimmer. Es war stickig und warm. Aber der Himmel sah nach Regen aus. Endlich.[/FONT]

[FONT=&quot]Es war nicht einmal Mai und trotzdem herrschte solch eine Hitze vor, dass die Leute träge und müde waren. Eigentlich nichts Besonderes. Das Klima hatte sich so stark verändert, dass nur noch in wenigen Ländern Schnee fiel. Natal selbst hatte noch nie in seinem Leben echten Schnee gesehen. Er kannte nur welchen aus dem Fernsehen und Internet.[/FONT]

[FONT=&quot]Der zwölfjährige Junge stieg aus seinem Bett und schlurfte zu der Tür. Als er diese öffnete wehte ihm der Duft von bratenden Eiern entgegen. War es wirklich schon Mittag? Dann hatte ihn bestimmt sein Vater gerufen. Mit schlurfendem Schritt betrat er die Küche, in der sein Vater am Herd stand.[/FONT]

[FONT=&quot]„Hast du mich gerufen?“, fragte Natal.[/FONT]

[FONT=&quot]Sein Vater, Dralu, wandte sich um. An der gerunzelten Stirn sah Natal, dass er falsch gelegen hatte. Gleich drängte sich ihm der Verdacht auf, dass er vielleicht gar nicht hier, in der realen Welt, gerufen worden war. [/FONT]

[FONT=&quot]Leicht besorgt ging der Junge ins Bad, machte schnell Katzenwäsche und kehrte anschließend in die Küche zurück. Sein Vater hatte bereits den Tisch gedeckt und war gerade dabei die Eier auf die Teller zu verteilen. Natal schlang seinen Teil herunter und berichtete Dralu davon, dass er heute – es war Samstag – zu seinem Freund gehen würde, welcher gestern ein neues Spiel bekommen hatte.[/FONT]

[FONT=&quot]„Gehst du zu Fuß?“, fragte Dralu.[/FONT]

[FONT=&quot]Betreten sah Natal auf den Teller. Er wusste, was jetzt kommen würde. Dralu war kein Freund neumodischer Dinge und wenn es möglich war, Natal zu Fuß gehen zu lassen, dann verbat ihm, seinen FlyOn mitzunehmen.[/FONT]

[FONT=&quot]„Na ja, ich dachte… Elions und ich wollten vielleicht ein Rennen machen. Ach bitte, lass mich den FlyOn mitnehmen!“, flehte der Junge, doch Dralu schüttelte den Kopf.[/FONT]

[FONT=&quot]„Ich kann diese Dinger nicht leiden. Und ich glaub, deinem Freund schadet es nicht, wenn er mal zu Fuß mit dir um die Wette läuft.“ [/FONT]

[FONT=&quot]Elions war fast dreimal so breit wie Natal und sehr Fußfaul. Allerdings war Natal für sein Alter auch recht kleine – er hatte gerade mal die Körpergröße eines zehnjährigen – und war eher schlaksig. Das lag zum einen daran, dass Dralu penibel darauf achtete, dass sie sich gesund ernährten. Manchmal hatte Natal das Gefühl, sein Vater käme aus einer anderen Zeit. Die Eltern seiner Freunde waren nicht so empfindlich und bestanden auch nicht so sehr darauf, mit möglichst wenig Elektronik auszukommen. [/FONT]

[FONT=&quot]Seufzend ergab sich Natal dem Verbot, half beim Abwasch – eine gehasste Arbeit – und ging dann sein Zimmer aufräumen. [/FONT]

[FONT=&quot]Er war erst für den Abend mit seinem Freund verabredet, deshalb trödelte er den ganzen lieben Tag herum. Zuerst machte er sich daran, ein wenig zu zocken.[/FONT]

[FONT=&quot]Vor etwa fünfundzwanzig Jahren war eine Konsole auf den Markt gekommen, mit der es möglich war, Spiele zu erleben, als seien sie Wirklichkeit. Sogar Duft und Geschmack war möglich. Und das ganze war verdammt billig. 30€ für die Spielbrille und für einen Monatsvorrat der Droge, die das Spielvergnügen erst richtig ermöglichte 10€. Nur die Preise der Spiele variierten stark. Die Droge selbst war legal, aber eigentlich brauchte Natal sie nicht. Er gehörte zu den besonderen Menschen, die auch ohne welche spielen konnten. Aber alleine wurde es schnell langweilig und sein Vater verbat ihm, sich ohne die Droge in das Netz zu hängen, da er angst hatte, man könnte Natals besondere Fähigkeiten entdecken. Und da Natal für gewöhnlich keine dieser Spieldrogen daheim hatte, machte er sich anschließend daran, einige Schulaufgaben zu machen. Er war nicht sonderlich gut in der Schule, aber immerhin auch nicht schlecht.[/FONT]

[FONT=&quot]Gegen spätem Nachmittag drang Lärm vom Flur. Neugierig, aber sehr wohl wissend, dass es sein Vater nicht gut heißen würde, schlich er sich in den Flur, um zu sehen, was dort los war.[/FONT]

[FONT=&quot]Der Lärm kam aus einem Stockwerk weiter unten und bestand großteils auf den bitterlichen und hysterischen Weinen einer Frau, die auf den Treppen saß. Es handelte sich dabei um Frau Friedje, die eigentlich drei Stockwerke weiteroben wohnte. Natal hatte Mitleid mit ihr. Sie war erst vor einigen Monaten eingezogen, aber Natal mochte sie. Sie war immer freundlich zu ihm gewesen und hatte ihm manchmal Süßigkeiten zugesteckt. Vor einigen Tagen hatte sie ein Mädchen zur Welt gebracht. Im Haus war gemunkelt worden, dass das Kind ein „blue Kid“ sei, da Frau Friedje es niemanden zeigen wollte. Natal fragte sich, was wohl mit dem Vater war. Er hatte nie einen Mann bei ihr gesehen.[/FONT]

[FONT=&quot]Zögernd ging er zu der armen Frau hinunter und setzte sich neben sie.[/FONT]

[FONT=&quot]„Frau Friedje? Was ist denn los? Ist etwas Schlimmes passiert?“, fragte er leise. Er war sich seiner Unhöflichkeit bewusst. Aber die Frau tat ihm so sehr leid und er wollte ihr helfen, wenn es ihm denn möglich war.[/FONT]

[FONT=&quot]Die Frau blickte auf und sah ihn mit geröteten Augen an. Sofort begann sie noch mehr zu schluchzen. Sie weinte so heftig, dass Natal unmöglich verstehen konnte, was sie sagte.[/FONT]

[FONT=&quot]„Natal?“[/FONT]

[FONT=&quot]Erschrocken blickte er hinter sich. Sein Vater stand hinter ihm.[/FONT]

[FONT=&quot]„Geh hoch. Ich werde mich um Frau Friedje kümmern.“[/FONT]

[FONT=&quot]Stumm nickte der Junge und gehorchte. Aber er blieb in der Tür stehen, als er undeutlich die Worte der Frau hörte. [/FONT]

[FONT=&quot]„Meine Tochter… sie… sie… einer von… denen… aber... Liebe sie… wie können sie…. wegnehmen…“[/FONT]

[FONT=&quot]Natal schlug die Augen nieder. Ihre Tochter war eine von denen. Denen waren sie. Sie und er. „Blue Kids.“ [/FONT]

[FONT=&quot]Jetzt wusste er, was passiert war. Er hatte oft davon gehört, es aber noch nie miterlebt. Sie hatten ihr ihre Tochter weggenommen. Einfach so. Nur weil sie anders war. Er fand es entsetzlich.[/FONT]

[FONT=&quot]Verstört ging er in sein Zimmer und schloss die Tür. [/FONT]

[FONT=&quot]Ihm stiegen die Tränen in die Augen, als er sein Spiegelbild im Schrank gegenüber der Tür erblickte. Er sah sein schwarzgefärbtes Haar, welches ihm bis zu den Ohren reichte und jetzt nassgeschwitzt an der blassen Stirn klebte. Schaute man genau hin sah man am Ansatz seine richtige Haarfarbe. Dunkelblau. [/FONT]

[FONT=&quot]Wie konnte man so einer netten, liebevollen Frau das Kind wegnehmen? Sie hätte bestimmt gut für ihn gesorgt. So, wie Dralu, der nicht mal sein leiblicher Vater war, für ihn sorgte.[/FONT]

[FONT=&quot]Wieso verbat man nicht einfach diese Spieldroge, wenn aus ihnen Menschen entstanden, vor denen man sich fürchtete? Was geschah mit ihnen, wenn man sie weggebracht hatte. [/FONT]

[FONT=&quot]Wütend schlug der Junge gegen sein eigenes Spiegelbild. Er war einer von ihnen. Und er lebte nur, weil Dralu ihn bis zu seinem dritten Lebensjahr versteckte. Weil Dralu ihm die Haare färbte, da es für Kinder verboten war, den Hairmanipulator zu verwenden, der dauerhaft die Haarfarbe gentechnisch veränderte. Und er hatte noch nie jemanden irgendwas Böses getan. Er hatte noch nicht einmal was davon gehört, dass seinesgleichen mehr verbrach als die „normalen“. [/FONT]

[FONT=&quot]Wieso also? Wieso fürchtete man sie? Wieso trennte man sie von ihren Eltern? Was tat man mit ihnen?[/FONT]

[FONT=&quot]Der Spiegel zerbrach unter Natals Schlägen und er hörte, wie sämtliche elektronischen Dinge im Haus seinetwegen ansprangen und verrückt spielten. Er schnitt sich, spürte aber keinen Schmerz.[/FONT]

[FONT=&quot]Er musste sich beruhigen. Sonst stünde die Einheit, die Frau Friedje ihre Tochter abgenommen hatte, sofort auf ihrer Matte. Aber er wollte sich nicht beruhigen. Konnte nicht. Er war wütend, entsetzt und traurig. [/FONT]

[FONT=&quot]Er sah auf die Scherben, in denen er sich spiegelte. Er hasste es, so zu sein, wie er war. Er hasste es, sich verstecken zu müssen. Er hasste es, dass er seine Fähigkeiten nicht preisgeben durfte.[/FONT]

[FONT=&quot]Er erblickte einen kleinen Spielroboter neben den Trümmern seines Spiegels. Mit all seiner Willenskraft leitete er in diesen Roboter seinen Geist, seine Fähigkeit und augenblicklich sprang der Roboter wie von Geisterhand an und begann sich wie wild zu drehen. Ihn einer der Scherben sah Natal, dass sich sein linkes Auge in der Höhle so weit nach oben drehte, das nur noch das Weiß zu sehen war. Das passierte immer, wenn er von seiner Fähigkeit Gebrauch machte. Die Fähigkeit der „blue Kids.“ Die Fähigkeit, alles Elektronische kontrollieren zu können, in dem sie einfach einen Teil ihres Geistes hinein leitete.[/FONT]

[FONT=&quot]Natal hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer aufging und merkte, wie Dralu eintrat. Aber er wandte sich nicht von dem kleinen Roboter ab, der sich langsam in seine Bestandteile auflöste. Konnte nicht. Wusste, dass er sonst seinem Ziehvater Schaden zufügen würde. Er spürte sogar, wie sein Vater ihm die Arme umlegte und beruhigend auf ihn einsprach. Er hörte sich selbst schreien. Die quälenden Fragen schreien, wieso man ihr das Kind abnahm und was mit diesem geschah.[/FONT]

[FONT=&quot]Und dann war er plötzlich wieder ganz ruhig. Er fühlte sich müde, ausgelaugt und leer. Aber die Geräte kamen zur Ruhe und der kleine Roboter hörte auf zu rotieren.[/FONT]

[FONT=&quot]Dralu nahm ihn auf den Arm und legte ihn auf sein Bett, auf dem er still liegen blieb. Nach einiger Zeit kam sein Vater mit einer Tasse Tee. Zu dieser Zeit war der Junge wieder ansprechbar und begann, sich langsam zu regen. Er wurde gefragt, ob er heute Abend trotzdem zu Elions wolle. Natal nickte nur. Ja, er wollte. Das würde ihn ganz sicherlich auf andere Gedanken bringen…[/FONT]


[FONT=&quot]2[/FONT]


[FONT=&quot]Normalerweise nahm Natal immer zwei Stufen auf einmal, wenn er auf den Weg zu seinem Freund war. Er wohnte mit Dralu in einen der Hochhäuser im Stadtzentrum. Viel lieber hätte er in einem zwei Familienhaus gewohnt, wie es Elions tat. Aber Dralu hatte ihm erklärt, dass das finanziell viel zu teuer wäre. [/FONT]

[FONT=&quot]Heute schlich Natal die Stufen fast herunter. Seit seinem Wutanfall vorhin, fühlte er sich nicht sonderlich gut. Es war ihm schwindelig und einige Male dachte er, jemand würde ihn rufen, obwohl niemand da war. Deshalb vermutete Natal, dass er vielleicht eingedöst sei und entweder geträumt oder sich versehentlich in eines der Spiele geloggt hatte. Er konnte nur hoffen, dass ihm das nicht in der Nacht bei Elions passierte. Das konnte zu unangenehmen Situationen führen. Deshalb durfte er eigentlich eher selten bei einen seiner Freunde übernachten, aber Dralu hatte es ihm vor etwa zwei Wochen fest versprochen gehabt. [/FONT]

[FONT=&quot]Unten angekommen öffnete er die schwere Stahltür und trat auf die Straße hinaus. Er kam sich ohne seinen FlyOn etwas verloren vor. Fast jeder fuhr damit herum, nur er war zu Fuß unterwegs. Außerdem war es viel zu warm zum Laufen. Ihm lief der Schweiß von der Stirn.[/FONT]

[FONT=&quot]Langsam schlich er im Schatten der großen Häuser durch die Straßen. Vor seinen Augen flimmerte es. [/FONT]

[FONT=&quot]Es ging ihn wirklich nicht so gut. Vielleicht lag es auch einfach am Wetter. Er hasste es, wenn es so warm war. Die Kälte war ihm viel lieber.[/FONT]

[FONT=&quot]Bis zu Elions waren es nur wenige Straßen, doch als er dort ankam war er total nassgeschwitzt. Die Klamotten klebten unangenehm an seinem Körper. [/FONT]

[FONT=&quot]Er drückte schwerfällig auf den Klingelknopf und hörte, wie drinnen jemand die Treppe herunter gerannt kam. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen und vor ihm stand ein großer, blonder Junge.[/FONT]

[FONT=&quot]"Hey! Komm rein!", rief der Junge, nahm Natal am Handgelenk und zog ihn in den Flur. Hier war es schön kühl. [/FONT]

[FONT=&quot]"Tach", erwiderte Natal. [/FONT]

[FONT=&quot]Der blonde Junge beäugte ihn. "Wo hast'n den FlyOn gelass'n?"[/FONT]

[FONT=&quot]"Mein Vater hat mir verboten, den mit zu nehmen. Ich soll nachhause kommen und ihn vorher abholen." Natal verdrehte theatralisch die Augen und folgte Elions die Treppe raus. "Kennst den ja!"[/FONT]

[FONT=&quot]Oben angekommen klopfte Elions ihm mitleidig auf die Schulter. Er war über einen Kopf größer als Natal, [/FONT]

[FONT=&quot]Das Zimmer des Jungen war fast doppelt so groß wie Natals Zimmer und damit riesig. Der Raum war über und über mit technischem Kram ausgestattet und war wie eine Raumfahrtkapsel eingerichtet. Natal fand das obercool. Gern hätte er auch so ein Zimmer gehabt, aber er wusste, dass sie dafür kein Geld hatten. Er war ein wenig neidisch auf seinen Schulfreund.[/FONT]

[FONT=&quot]Natal legte den Rucksack in eine Klappe in der Wand, die sich daraufhin schloss, kurz lud und dann auf einem kleinen Bildschirm anzeigte, was sich alles im Rucksack befand. Er drückte einen kleinen Knopf und mit einem summendem Geräusch öffnete sich eine weitere, kleinere Lucke, in der Bonbons und Chips lagen. Natal nahm diese heraus. "Hier, die hat mir mein Alter mitgegeben."[/FONT]

[FONT=&quot]"Oberkrass. Die Sorte Chips bekommste nur schwer im Laden, schmecken aber richtig hammer! Außerdem verbietet mir meine Mutter vor dem Abendessen Süßkramm zu essen." Elions grinste. "Aber das muss sie ja nicht wissen. Reich ma die Tüte rüba!"[/FONT]

[FONT=&quot]Die Jungs setzten sich mit Kissen auf den Boden. Es sah so aus, als stünden sie auf einer Plattform aus Glass und befänden sich in der Galaxis. Natürlich war das nur ein grafisches Hologramm. Die Wände waren mit demselben System dekoriert. Selbst die Tür war von der Zimmerseite mit solch einem System geschmückt. Gerade zog ein Asteroidenschauer über die Decke hinweg. Das einzige, was Natals Meinung nach, die Atmosphäre störte, waren die zwei großen Fenster an der Südseite. Trotzdem staunte Natal jedes Mal von neuem. Das war etwas, was sich nur die wohlhabenderen Familien leisten konnte. Deshalb war Natal glücklich darüber, dass Elions etwas mit einem ärmeren Kind zu tun haben wollte. [/FONT]

[FONT=&quot]"Hast du's schon ausprobiert?"[/FONT]

[FONT=&quot]Elions schüttelte den Kopf. "Nee, Mann, wollt das zusammen testen."[/FONT]

[FONT=&quot]"Okay." Natal nahm sich einen der Bonbons und anschließend eine der Spielbrillen. Elions reichte ihm die Spieldroge und beide starteten in das Spiel. [/FONT]

[FONT=&quot]Natal fand sich in einem Cyberspace wieder und vor ihm stand ein Auerirdischer, der ihnen ihre Mission erklärte. Während der Außerirdische redete, verschwamm wieder alles vor Natals Augen und er hörte abermals die Frauenstimme nach ihm rufen. Einen Moment lang meinte er sogar eine Schneelandschaft sehen zu können. [/FONT]

[FONT=&quot]"Gehört das zum Spiel?", fragte Natal, nach dem der Außerirdische seine Erklärungen beendet hatte.[/FONT]

[FONT=&quot]"Was‘n?"[/FONT]

[FONT=&quot]"Na dieses Verzerren. Diese Stimme. Und der Schnee ..."[/FONT]

[FONT=&quot]Elions Stirn legte sich in Falten. "Was meinste'n? Geht's dir nicht gut? He, Natal...!"[/FONT]

[FONT=&quot]Natal spürte, wie die Welt zur Seite kippte und alles um ihn herum schwarz wurde.[/FONT]

[FONT=&quot]"Natal! Hey! Lass den scheiß! Wach auf."[/FONT]

[FONT=&quot]Natal spürte den Schmerz, als der andere Junge ihn ins Gesicht schlug und öffnete langsam die Augen. Ihm tat der Kopf weh und das Deckenlicht blendete ihn. Er lag auf dem Boden. [/FONT]

[FONT=&quot]"Autsch... was...?", stöhnte er und setzte sich auf. [/FONT]

[FONT=&quot]"Du bist einfach umgekippt! Man Alter, du hast mir vielleicht nen Schrecken eingejagt! Geht's dir wieder gut?"[/FONT]

[FONT=&quot]Bedächtig nickte Natal. "Ja, ich glaub ... ich glaub, ich hab heut einfach zu wenig gegessen und getrunken. Lass uns das ändern, bevor wir weiter spielen, ja?"[/FONT]

[FONT=&quot]Elions half ihm beim Aufstehen und sie gingen in die Küche, in der bereits ein weiblicher Cyborg stand und dabei war, etwas Gemüse zu schneiden. [/FONT]

[FONT=&quot]"Hey Lisana! Was gibt's?"[/FONT]

[FONT=&quot]Der Persocom drehte sich um. Das Gesicht des Persocoms war 1:1 identisch mit einem echten menschlichen Gesicht, dennoch klang die Stimme etwas zu mechanisch. "Grüner Salat und Spagetti Carbonara. Wenn ihr euch etwas geduldet, ich bin in etwa zehn Minuten fertig. Darf ich euch etwas zu trinken anbieten?"[/FONT]

[FONT=&quot]"Cola", antwortete Elions.[/FONT]

[FONT=&quot]"Tut mir leid, aber deine Mutter hat mir verboten, dir vor dem Abendessen Cola zum Trinken zu geben. Es steht nicht in meiner Macht, mich ihren Befehlen zu widersetzen. Aber ich kann euch etwas Apfelsaft anbieten."[/FONT]

[FONT=&quot]Elions seufzte und schaute fragend zu Natal herüber. Dieser nickte.[/FONT]

[FONT=&quot]Elions Mutter erschien in der Tür. Sie hatte genauso blondes Haar wie ihr Junge, nur dass ihres bis zu ihren Hüften reichte.[/FONT]

[FONT=&quot]"Nanu? Mein Sohnemann und sein Freund vor dem Abendessen in der Küche? Sonst muss ich euch doch fast zwingen, mit dem spielen aufzuhören", wunderte sie sich. "Habt ihr einer eurer Verschwörungen geplant?" [/FONT]

[FONT=&quot]Elions schüttelte den Kopf. "Natal ging‘s nicht gut."[/FONT]

[FONT=&quot]"Ich glaub, ich hab einfach zu wenig gegessen und getrunken."[/FONT]

[FONT=&quot]Frau Gerald lächelte ihn an. "Na wenn das so ist ... Lisana, reich ihm doch ein Butterbrötchen."[/FONT]

[FONT=&quot]"Kommt sofort, Herrin." Lisana, die eben dabei war, das Dressing anzurühren, nahm ein Brötchen aus dem Fach und beschmierte es mit Butter, um es anschließend Natal zu reichen.[/FONT]

[FONT=&quot]"Und du, Sohnemann, deck den Tisch. Nur weil wir im Besitz eines Persocoms sind heißt das nicht, dass du dich auf die faule Haut legen kannst."[/FONT]

[FONT=&quot]"Aber mir geht's auch nicht gut!", log der Junge.[/FONT]

[FONT=&quot]"Keine Widerrede!"[/FONT]

[FONT=&quot]Elions erhob sich murrend und ging zum Schrank, um tiefe Teller für den Salat herauszuholen, während Natal an seinem Butterbrötchen knabberte. Eigentlich hatte er überhaupt keinen Hunger. Aber er konnte Elions und seiner Mutter unmöglich erklären, dass er befürchtete, dass seine Fähigkeiten außer Kontrolle gerieten. Sie hätten sofort das zuständige Amt alarmiert. Manchmal hatte er sogar Angst vor sich selbst. Aber er würde morgen sofort mit Dralu darüber sprechen, dass nahm er sich ganz fest vor. [/FONT]

[FONT=&quot]"Wie geht es deinem Vater?", erkundigte sich Elions Mutter. Natal wusste, dass sie seinen Vater nicht mochte. Deshalb antwortete er kurz und knapp: "Gut."[/FONT]

[FONT=&quot]"Schön."[/FONT]

[FONT=&quot]Er sah zu, wie sein Freund den Tisch deckte und knabberte weiter an seinem Brötchen. Kurz nachdem er es gegessen hatte servierte Lisana ihnen das Essen. Natal schlang die Spagetti nur so in sich hinein, obwohl er immer noch kaum Hunger verspürte. Sein Ziehvater konnte nicht wirklich kochen und Natal genauso wenig, weshalb es oft einfach nur Fertiggerichte gab. [/FONT]

[FONT=&quot]Nach dem Essen verschwanden er und Elions wieder im Zimmer, um einen animeähnlichen Film zu sehen, der um diese Uhrzeit lief. Natal fühlte sich fast wie im Kino, da der Film auf der einen Wandseite ausgestrahlt wurde. Er vertiefte sich in den Film und schreckte erst wieder hoch, als jemand nach ihm rief.[/FONT]

[FONT=&quot]"Ich glaube, deine Mutter hat uns gerufen?" [/FONT]

[FONT=&quot]Elions runzelte die Stirn. "Wirklich? Ich hab nichts gehört." Er lauschte einen Augenblick und wandte sich dann wieder dem Film zu. [/FONT]

[FONT=&quot]Natal sah zu der offenen Tür. Von neuem verschwamm ihm alles vor den Augen und er meinte abermals eine Schneelandschaft zu sehen. Er schloss die Augen und rieb sie. Alles war normal. Aber irgendwas beunruhigte ihn.[/FONT]

[FONT=&quot]Als der Film endete, schlug Elions vor, es noch mal mit dem Spiel zu versuchen. Natal hatte ein ungutes Gefühl dabei, trotzdem stimmte er zu. Was hätte er denn sonst sagen sollen?[/FONT]

[FONT=&quot]Natal wusste nicht, wie lange sie bereits gespielt hatten. Aber es musste schon eine ganze Weile vergangen sein, denn auf einmal wurden sie von Elions Mutter unterbrochen. Sie waren gerade dabei, das Raumschiff gegen feindliche Außerirdische zu verteidigen. Elions stellte den Spielmodus auf Pause und nahm die Brille ab. [/FONT]

[FONT=&quot]"Verdammt, Ma! Du sollst uns doch nicht stören!", rief er empört und sauer.[/FONT]

[FONT=&quot]"Wie redest du denn mit deiner Mutter, Sohnemann! Wir haben schon fast Mitternacht. Ich möchte, dass ihr spätestens halb eins im Bett liegt. Ich werde Lisana sagen, dass sie nach euch sehen soll. Und wehe euch, ihr spielt noch nach halb!"[/FONT]

[FONT=&quot]"Ach Mensch, Ma! Natal darf so selten übernachten! Du bist nen richtgier Spielvermieser!", protestiere Elions.[/FONT]

[FONT=&quot]Nun nahm auch Natal die Brille ab und sah unschuldig zu Elions‘ Mutter auf. "Ach bitte, Frau Gerald. Nur ein bisschen mehr!" Er hatte die Vorfälle am Abend fast wieder vergessen.[/FONT]

[FONT=&quot]"Okay, ich schenke euch eine Viertelstunde! Aber mehr nicht!"[/FONT]

[FONT=&quot]Mürrisch stimmten die Jungs ein und setzten sich dann die Brillen wieder auf. [/FONT]

[FONT=&quot]"So ne Spielvermieserin!", beschwerte sich Elions.[/FONT]

[FONT=&quot]"Hmmhm", stimmte ihm Natal zu. "Lass uns noch schnell die Viecher fertig machen, ja?"[/FONT]

[FONT=&quot]Elions lies das Spiel weiterlaufen.[/FONT]

[FONT=&quot]Ein feindlicher Außerirdischer griff Natal an. Er wich ihm mit einer Drehung aus, zückte das Laserschwert und zerteilte ihn in zwei Hälften. [/FONT]

[FONT=&quot]"Yeah! Cool, Mann!", rief Elions und erledigte selbst einen. [/FONT]

[FONT=&quot]Natal blickte sich um. "Ich glaube, das war'n die letzten. Was jetzt?"[/FONT]

[FONT=&quot]"Jetzt gehen wir da rein!" Kevin deutete auf eine elektrische Tür und schritt darauf zu. Natal folgte ihm, hielt aber plötzlich an. Das Bild vor seinen Augen flimmerte wie bei einer Bildstörung.[/FONT]

[FONT=&quot]"Elions? Ich glaub, deine Brille geht kaputt."[/FONT]

[FONT=&quot]"Hm?" Elions drehte sich um und als er den Jungen erblickte legte sich etwas auf sein Gesicht, was Natal nicht gefiel. "He, Mann, ich glaub du hast recht. Schau mal an dich runter!"[/FONT]

[FONT=&quot]Natal tat, wie ihm geheißen und ihm entfuhr ein erstickter Schreckenslaut. Sein Körper verschwamm und wurde verzerrt. Er versuchte, die Brille abzuziehen, aber er es geschah nichts. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Arme in der realen Welt gar nicht bewegten. [/FONT]

[FONT=&quot]"Nimm die Brille ab!", rief Kevin, als das Störrbild noch schlimmer wurde und ein Kribbeln in seinem Körper einsetzte.[/FONT]

[FONT=&quot]"Scheiße! Da stimmt was nicht!" In Natals Stimme mischte sich Panik. "Ich kann ... es nicht abnehmen! Tu was, Elions! Tu was!" Das Kribbeln in seinem Körper fing an weh zu tun. Undeutlich sah er, wie Kevins Figur verschwand und er hörte ihn in der realen Welt nach ihm rufen. Aber kurzzuvor verzerrte sich das Bild vor seinen Augen und er sah eine weiße Steinwand. [/FONT]

[FONT=&quot]"Ma! Ma! Komm schnell! Irgendwas stimmt nicht mit Natal!" Elions‘ Stimmte klang weit entfernt. Natal fiel in eine Ohnmacht.[/FONT]


[FONT=&quot]3[/FONT]


[FONT=&quot]Auszug aus Natals Tagebuch, erster Eintrag…[/FONT]



[FONT=&quot]Ich weiß gar nimma, was alles passiert war und vor allem, weshalb. Ich glaub, warum es passierte habe ich ohnehin nie gewusst und für alles andre stand ich einfach viel zu sehr unter Schock. An das letzte Glaubhafte, an was ich mich noch erinnere, ist, wie ich mit Kevin dieses Spiel zockte. Und dann, ganz plötzlich, war alles anders.[/FONT]

[FONT=&quot]Diese Bilder… ich hatte sie schon den ganzen Tag gehabt, aber richtig schlimm wurde es erst, als Elions und ich anfingen zu zocken. Deshalb denke ich, dass ich mich versehentlich in irgendein Spiel eingeloggt hab. Natürlich nicht mit Absicht. Aber… es ändert nichts. Ich hab verdammten Schiss…[/FONT]



Das Spiel beginnt


[FONT=&quot]1[/FONT]
[FONT=&quot]"Blut, Blut, Räuber saufen Blut,[/FONT]
[FONT=&quot]Raub und Mord und Überfall sind gut. [/FONT]
[FONT=&quot]hoch vom Galgen klingt es[/FONT]
[FONT=&quot]Hoch vom Galgen klingt es.[/FONT]
[FONT=&quot]Raub und Mord und Überfall sind gut."[/FONT]

[FONT=&quot]Ein Gesang weckte Natal. Es war eine junge, weiche Stimme, die irgendwie traurig klang. [/FONT]
[FONT=&quot]Der Boden war kalt, merkwürdig rau und staubig. Durch die geschlossenen Lieder sah Natal ein eigentümliches Flackern. Es roch nach Holz und Feuer. Er traute sich kaum die Augen zu öffnen, trotzdem schlug er sie rasch auf, um nicht länger darüber nachzudenken.[/FONT]
[FONT=&quot]Ein Lagerfeuer brannte vor ihm und davor saß ein kleines, etwa sieben jähriges Mädchen, welches ihn betrachtete. Das Feuer warf einen unheimlichen Schein auf die weißen Steinwände und lies alles monströs wirken. [/FONT]
[FONT=&quot]"Du bist wach!", rief das Mädchen freudig. [/FONT]
[FONT=&quot]Was...[/FONT][FONT=&quot], dachte der Junge. Er zitterte, obwohl das Feuer die Kälte fern hielt. Er spürte, wie sein Herz wild pochte. Er dachte, dass es noch nie so sehr geschlagen hatte. Gehört das zum Spiel? Ist das nen Bug?[/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen stand auf und nun sah Natal, dass sie ein graues, knielanges Kleid trug. Es kam auf ihn zu und lächelte ihn an. [/FONT]
[FONT=&quot]„W-w-wo…?“, brachte der Junge über die zitternden Lippen.[/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen hielt inne. "In einem alten Grab. Oh, ich habe nicht bedacht, dass dich das alles erschrecken könnte", fügte sie hinzu, als Natal ängstlich zurück wich.[/FONT]
[FONT=&quot]"Gehört ...gehört das zum Spiel?"[/FONT]
[FONT=&quot]Verdutzt sah ihn das Mädchen an. "Spiel? Welches Spiel? Tut mir leid, aber ich weiß nichts von einem Spiel. Bitte beruhig dich doch."[/FONT]
[FONT=&quot]Sie benimmt sich ganz und gar nicht wie eine Sechsjährige!,[/FONT][FONT=&quot] schoss es ihm durch den Kopf.[/FONT]
[FONT=&quot]Nachdem das Mädchen gemerkt hatte, dass er Angst vor ihr hatte, hielt sie etwas Abstand zu ihm. [/FONT]
[FONT=&quot]"Ein Bug? Ist das ein Bug?"[/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen schüttelte den wasserstoffblonden Kopf. Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen neugierig an. "Ich weiß nicht, was ein Back ist. Aber mein Name ist Sha'abre." [/FONT]
[FONT=&quot]"Ni... Nicht ... zum Spiel ..." Natal schluckte schwer. Was war hier los? Ängstlich sah er sich um. Der Rauch des Feuers zog durch ein zerbrochenes Fenster unter der Decke hab. Das Grab selbst erschien ihm riesig. Zu dem zerbrochenem Fenster würde er nicht ohne weiteres gelangen. Nicht einmal, wenn ihn ein Erwachsener hochhob und er etwas größere wäre. Wasser floss vom Fenster die Wand herunter. Er sah ein Stück Himmel und wusste damit, dass es Nacht sein musste. In einer Ecke stand ein steinerner Sarg vor einem großen Loch in der Wand. Natal vermutete, dass dort der Sarg hineingehörte. Doch daneben klaffte ein weiteres Loch in Wand, das aber eher so aussah, als hätte dort jemand die Wand kaputt geschlagen. Er konnte nicht sehen, ob sich darin etwas befand, weil es zu dunkel war. Sein Blick wanderte wieder zu dem Sarg. Jemand hatte den Sargdeckel beiseite geschoben. Natal war glücklich darüber, dass der Sarg in einer etwas dunkleren Ecke stand. "Das muss zum Spiel gehören", stöhnte er, doch das Zittern wollte nicht aufhören.[/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen sah in erwartungsvoll an. [/FONT]
[FONT=&quot]"W... was willst du?", fragte er. Vielleicht .. vielleicht hat mir im Spiel einer der Aliens Gift indiziert, ohne das ich‘s gemerkt habe und das sollen alles Halluzinationen sein. Aber wieso spürte er dann nicht seinen Körper außerhalb des Spieles? Diese Frage schob Natal vor erst zur Seite, denn sie machte ihm noch mehr Angst. Sein Herz war auch so kurz davor, einen Infarkt zu bekommen. Und dass in seinem Alter. Er schluckte die nicht vorhandene Spucke runter und beschloss, erst einmal mitzuspielen. [/FONT]
[FONT=&quot]"Okay... okay, was hat das mit diesem Grab auf sich? Und ... und was sind‘n das für Schriftzeichen an den Wänden?"[/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen, welches sich als Sha'abre vorgestellt hatte, schüttelte freundlich den Kopf. "Das alles sind Fragen, die ich dir leider nicht beantworten kann, weil ich dass alles selbst nicht weiß. Aber viel wichtiger ist es, dass du dich nun erholst. Manchen strengt so ein Sprung durch die Welten ziemlich an. Ich habe den Eindruck, dass es dir so ergeht. Aber ich kann dir versichern, dass erste Mal ist immer am schlimmsten, danach wird es nur besser. Du bist bestimmt durstig. Hier." Sha'abre drehte sich um, bückte sich, hob etwas auf und wandte sich dann wieder an Natal. Sie hielt ihm eine hölzerne Schale hin. Eine klare Flüssigkeit befand sich darin. "Trink das. Es ist nur etwas geschmolzener Schnee. Davon haben wir hier ja genug. Leider kann ich dir nichts zu essen geben."[/FONT]
[FONT=&quot]Zögernd nahm Natal die Schale entgegen. Spiel einfach mit! "Du bist kein kleines Mädchen." Es war eine Feststellung. [/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen schien nach zu denken, bevor sie ihm antwortete. Vielleicht überlegt sie, was sie mir antworten soll. "Doch. aber kein menschliches. Jedoch kann ich dir derzeit nicht sagen, was ich bin, denn ich weiß es selbst nicht genau. Wie du erwachte ich hier. Ich wusste lediglich, dass jemand kommen würde und was zu tun ist, aber ..." Sie zuckte mit den Schultern. Natal hatte das Gefühl, dass etwas falsch an ihren Worten war, konnte aber nicht genau sagen, was. Zumindest erschien sie ihm nicht als sonderlich bekümmert.[/FONT]
[FONT=&quot]Langsam hörte sein Herz mit dem wilden Schlagen auf. Er redete sich immer erfolgreicher ein, dass das Ganze zum Spiel gehörte und er durch einen Defekt weder seinen Körper außerhalb spürte, noch die Brille abziehen konnte. Obwohl er sich nicht erklären konnte, was das für ein Defekt sein sollte.[/FONT]
[FONT=&quot]Er hob die Schale an die Lippen und trank. Das Wasser war kalt und schmeckte nach altem, vermodertem Holz. aber es löschte seinen Durst. [/FONT]
[FONT=&quot]Eine gute Simulation.[/FONT]
[FONT=&quot]Nach dem er die Schale geleert hatte, gab er sie Sha'abre zurück. [/FONT]
[FONT=&quot]"Leg dich ans Feuer und versuche, ein wenig zu schlafen", riet sie ihm. "Ich werde sehen, wie wir hier hinaus gelangen. Aber du musst dich ausruhen, denn dass wirst du wahrscheinlich lange nicht mehr können." Sie ging zu dem offenen Sarg und holte etwas heraus. Im Dunklen erkannte Natal nicht, was es war. Es war etwas langes, Weiches. Als sie wieder in das Licht des Feuers trat sah er, dass es zwei dicke Wintermäntel waren. [/FONT]
[FONT=&quot]"Auf den einen kannst du dich legen, den anderen solltest du als Decke benutzen." Sie breitete einen braunen Fellmantel auf dem Boden aus. Den anderen, einer aus weißem Fell, reichte sie Natal, der ihn wortlos entgegennahm. Das Fell war rau und verfilzt. Er schloss die Augen, obwohl er nicht das Gefühl hatte, schnell einzuschlafen. Etwas, was bei einem Spiel ungewöhnlich war. Normalerweise schlief man sofort ein und erwachte dann am nächsten Morgen. Aber darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Er legte den Arm unter den Kopf, um es etwas bequemer zu haben. [/FONT]
[FONT=&quot]Durch die geschlossenen Lieder sah er den Schein des Feuers. Er hörte, wie Sha'abre im Grab auf und ab ging und mit etwas hantierte, so wie das Knacken des Holzes. [/FONT]
[FONT=&quot]Der Boden war zu hart und er spürte trotz des Mantels, wie kalt dieser war. Er versuchte sich mit dem Gedanken aufzuheitern, dass er wenigstens nicht im Staub liegen musste. Aber irgendwie klappte das nicht so ganz. Es war einfach alles so unheimlich. Dieser Verlauf passte einfach nicht zum restlichen Spiel und Kevin hätte ihm bestimmt gesagt, wenn solche Merkwürdigkeiten drin vor kamen. Trotzdem ... es musste zum Spiel gehören. Was sollte es denn sonst sein?[/FONT]
[FONT=&quot]Irgendwann, als das Feuer etwas hinunter glomm und er auch von Sha'abre keine Bewegungen hörte, verfiel er in einen unruhigen Halbschlaf. Er träumte wirres Zeugs, an das er sich später nicht mehr erinnern konnte. Irgendwann schreckte er aus seinem Halbschlaf hoch. Irgendwas im Traum hatte ihn zu Tote erschreckt. [/FONT]
[FONT=&quot]Er saß aufgerichtet auf dem Mantel und blickte sich um. Nur langsam sickerte die Erinnerung durch, wo er war. Er gähnt herzhaft. Obwohl er so schlecht geschlafen hatte fühlte er sich merkwürdig fit. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass er diese Energie heute gebrauchen würde. [/FONT]
[FONT=&quot]Das Feuer glühte nun nur noch und spendete kaum noch Wärme. Er fragte sich zum ersten Mal, woher das Mädchen wohl das Holz genommen hatte. Dann fiel ihm wieder die hölzerner Schale ein und wie sie die Mäntel aus dem Sarg geholt hatten. Er zitterte vor Kälte.[/FONT]
[FONT=&quot]Schwaches Licht fiel durch das zerbrochene Fenster und er sah einen roten Himmel. Die Sonnte musste gerade erst aufgehen. Er blickte sich um. [/FONT]
[FONT=&quot]Die Grabkammer sah nicht mehr so unheimlich aus, wie am Vorabend, aber immer noch nicht sehr einladend. Sha'abre lag in einen dicken, schwarzen Mantel gewickelt an der Wand, dicht an das Feuer gedrängt und schlief. Ihm fiel auf, dass ihre Lieder zuckten. Sie träumte. [/FONT]
[FONT=&quot]Natal sah von Neuem hoch zum Fenster. Etwas war anders. Aber in dem Zwielicht fiel ihm nicht sofort auf, was es war. Erst, als die Sonne noch ein Stückchen höher gewandert war, wusste er, was es war. Das Wasser an den Wänden war zu Eis gefroren.[/FONT]
[FONT=&quot]Den Mantel fest um sich geschlungen stand Natal auf und ging zu der schweren, mit Marmor verzierten Tür. Durch die Socken fühlte er kleine Steinchen, aber vor allem die Kälte. Das Mädchen hatte gesagt, dass sie einen Weg finden wollte, hier hinauszukommen. Jetzt fragte er sich, wieso sie nicht die Tür benutzen wollte. Aber vielleicht war sie zu schwer für sie. Ihm fiel wieder der offene Sarg ein. Es musste jemand vor ihnen hier gewesen sein. Er drückte probeweise gegen die kalte Steintür. Es tat sich nichts. Er drückte etwas fester. [/FONT]
[FONT=&quot]"Das kannst du dir sparen."[/FONT]
[FONT=&quot]Natal fuhr zusammen und drehte sich ruckartig um. In ihrem Mantel gewickelt saß Sha'abre da, das wasserstoffblonde, fast weiße Haar stand zu allen Seiten ab. "Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Wir sind hier eingeschneit. Der Schnee geht fast oben bis zum Fenster."[/FONT]
[FONT=&quot]Erschrocken blickte der Junge sie an und dann hoch zu dem Fenster, um anschließend die anderen zu betrachten. Das zerbrochene Fenster lag zwar frei, aber die anderen waren mit irgendwas versperrt und ließen kein Licht hinein. [/FONT]
[FONT=&quot]"Wie kommen wir dann hier hinaus?", fragte er zittrig. [/FONT]
[FONT=&quot]"Durch das Loch da", meinte sie. "Ich habe es mir gestern noch etwas genauer angesehen. Es scheint ein Tunnel zu sein ... ja ... ich erinnere mich schwach daran, dass es hier einen geheimen Tunnel gab ..." [/FONT]
[FONT=&quot]Ungläubig starrte er das Loch in der Wand an. Nun, da die Sonne immer mehr Licht in die Kammer warf, sah er allmählich den Schutt davor liegen. "D... Da durch? Was macht[/FONT][FONT=&quot]'[/FONT][FONT=&quot]n dich so sicher, dass es nach draußen führt?"[/FONT]
[FONT=&quot]"Ich weiß es einfach." Ihr Ton klang genervt und bestimmend.[/FONT]
[FONT=&quot]Schlafend hat sie mir besser gefallen, [/FONT][FONT=&quot]dachte der Junge trotzig.[/FONT]
[FONT=&quot]"Aber zuerst ..." Mit leisen Schritten, die nicht wie alles Übrige in der Kammer wiederhalten, ging sie von Neuem zum offenen Sarg und holte etwas heraus. Ein paar Stiefel aus dunklem Fell. "Diese werden dir zwar zu groß sein, aber wir können es mit ein wenig Stoff ausfüllen, damit sie dir nicht von den Füßen rutschen. Wir müssen dir ohnehin etwas vom Mantel abschneiden."[/FONT]
[FONT=&quot]In der ganzen Panik war ihm gar nicht aufgefallen, dass ihm der Mantel viel zu lang war und er den ganzen Boden damit wischte. Sha'abre gab ihm kurzerhand die Stiefel, kniete sich dann hinter ihn und biss in den Mantel.[/FONT]
[FONT=&quot]"Was tust[/FONT][FONT=&quot]'[/FONT][FONT=&quot]n?", rief Natal erschrocken und wollte ihr das Stück Fell entziehen, aber sie war schneller und hatte augenblicklich mit den Zähnen einen Streifen abgerissen. Nun ging ihm der Mangel nur noch bis zu den Knien. Den Streifen teilte sie mit der gleichen Methode wie eben in zwei etwa gleich große Stücke. Dann nahm sie ihm die Stiefel wieder aus der Hand und stopfte in jeden von ihnen eines der Streifen. [/FONT]
[FONT=&quot]"So, dass müsste fürs erste reichen. Probier sie mal an."[/FONT]
[FONT=&quot]Natal tat wie ihm geheißen. Zwar war noch etwas Platz vorne drin und oben waren sie zu weit, aber dass lies sich beheben, in dem er die Lederbänder fest zuschnürte. Sie hatte recht. Auf diese Art müsste es gehen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Jetzt komm. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen sie einholen." Mit einer Handbewegung bedeutete sie ihm zu folgen, doch er blieb stehen und sah sie verdattert an. [/FONT]
[FONT=&quot]"Sie? Wer sind sie?"[/FONT]
[FONT=&quot]"Deine zukünftigen Gefährten", erklärte sie knapp und stieg dann in das Loch in der Wand. [/FONT]
[FONT=&quot]"Warte ..." Doch Sha'abre war längst verschwunden. Er seufzte. Ihm blieb wohl wirklich nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.[/FONT]
[FONT=&quot]Als er vor dem Loch stand ertönte ein lautes Grolles daraus. Es hörte sich an wie das Schaben von Stein auf Stein.[/FONT]
[FONT=&quot]"Was[/FONT][FONT=&quot]'[/FONT][FONT=&quot]n das?", fragte Natal unsicher, doch alles was er bekam war ein "Komm" und das Grollen verklang. [/FONT]
[FONT=&quot]Ängstlich stieg er über den Schutt hinweg und kroch in das Loch. Es war wirklich beengend und stockdunkel. Er musste robben und sich den Weg ertasten. Aber ihm fiel sofort auf, dass nur die ersten Zentimeter rau und abgebrochen waren. Danach folgte ein glatter Weg. Er ertastete verschiedene Dinge, unter anderem Holz und Stoff. [/FONT]
[FONT=&quot]"Was is[/FONT][FONT=&quot]'[/FONT][FONT=&quot]n hier?", fragte er schüchtern.[/FONT]
[FONT=&quot]"Opfergaben."[/FONT]
[FONT=&quot]Schwer schluckte der Junge. Das Zittern setzte von Neuem ein. Alles nur ein Spiel. Nur ein Spiel![/FONT]
[FONT=&quot]"D... die Leiche ..."[/FONT]
[FONT=&quot]"Nein. Nicht mehr."[/FONT]
[FONT=&quot]Ein Stöhnen fand den Weg aus seiner Kehle. Sha'abre hatte gesagt gehabt, sie sei nicht menschlich. Aber untot sah sie nun wirklich nicht aus. Andererseits ... er wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. [/FONT]
[FONT=&quot]Langsam ertastete er sich seinen Weg im Dunklen. Vielleicht war es ganz gut, dass er nicht sehen konnte, wie eng der Tunnel wirklich war. Aber er befürchtete, irgendwo stecken zu bleiben.[/FONT]
[FONT=&quot]Nicht weit entfernt von der Öffnung ertastete er einen etwa zehn Zentimeter großen Spalt im Boden und eine kleine Erhöhung in der Wand. Kurz überlegte er, ob dies wohl so etwas wie eine Geheimtür war und es Sha'abre zur Seite geschoben hatte. Aber auch darüber wollte er nicht nach denken. Er wollte überhaupt nicht denken. Das Spiel fiel ihm leichter, wenn er seine Gedanken abstellte. Und so folgte er den Geräuschen, die Sha'abre beim Kriechen machte und ertastete sich seinen Weg.[/FONT]
[FONT=&quot]Mit der Zeit wurde es ihm immer Wärmer und er hatte den Eindruck, der Tunnel würde sich verändern. Er war ein ganzes Stück einfach gerade aus gegangen, nun aber fiel er ab, was das Kriechen aber erleichterte. Trotzdem schnaubte und keuchte er. Manchmal musste er von dem ganzen Staub niesen und bekam einen ganz trockenen Mund.[/FONT]
[FONT=&quot]Mit der Zeit wusste Natal nicht, wie lange sie nun im Tunnel umherkrochen. Sie hatten schon länger nicht mehr miteinander gesprochen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Ich brauch ne Pause!", verkündete Natal und blieb einfach dort liegen, wo er war. Ihm schmerzten die Arme vom Robben und die Beine vom Stoßen. Seine Knie fühlten sich wundgescheuert an. Außerdem gesellte sich zu alledem allmählich ein pochender Schmerz im Kopf.[/FONT]
[FONT=&quot]"Aber nicht lange!" Sha'abres Stimme schallte im Tunnel, wodurch Natal unmöglich bestimmen konnte, ob sie direkt vor ihm war oder hundert Meter von ihm entfernt. "Wir sollten es bald geschafft haben. Hier wird der Tunnel wieder gerade."[/FONT]
[FONT=&quot]"Aha." Es war schier unmöglich, sich bequem in den Tunnel zu legen, weshalb er sich vorerst einfach auf den Rücken drehte. Er schloss die Augen. Der Schweiß lief ihm von der Stirn und verklebte seine Haare. Aber er konnte den Mantel nicht ausziehen. Er wusste zwar nicht, ob es wahr war, dass draußen Schnee lag, aber er wollte auch kein Risiko eingehen. Es musste einige Zeit vergangen sein, bis ihn das Mädchen dazu aufforderte, weiter zu kriechen. Stöhnend drehte sich der Junge wieder auf den Bauch und folgte kommentarlos ihren Anweisungen. Aber schnell merkte er, dass sie recht hatte. Denn kurz darauf wurde der Weg nämlich wieder gerade und es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, bis so viel Licht in den Tunnel fiel, dass er die Umrisse erkennen konnte. Dann ertönte etwas entfernt ein leiser Knall.[/FONT]
[FONT=&quot]"Geschafft!" Das war Sha'abre. "Es ist nicht mehr weit! Komm, beeil dich! Hier gibt es Wasser und du kannst dich eine Weile ausruhen."[/FONT]
[FONT=&quot]Diese Worte spornten ihn an und er versuchte, schneller zu kriechen. Die ganze Zeit hatte der Tunnel keine Kurven und Ecken gehabt, aber nun machte er eine scharfe Biegung nach links und dann sah auch er das Ende des Tunnels. Bläuliches Licht fiel von dort hinein. Es war nicht sehr hell, aber so wurde Natal nach der langen Dunkelheit nicht geblendet. Nun wurde der Tunnel auch etwas breiter. [/FONT]
[FONT=&quot]Er kroch auf die Öffnung zu und blickte schließlich in eine riesige Höhle.[/FONT]
[FONT=&quot]Ein Blick nach unten verriet ihm, dass er den Sprung nach unten ganz sicher heil überstehen würde, aber nicht mehr nach oben gelangen konnte. Doch Sha'abre stand bereits unten und so zog er seine Beine nach vorne und sprang.[/FONT]
[FONT=&quot]Der Aufprall hallte in der ganzen Höhle wieder. Nun konnte er sie auch etwas eingehender studieren. [/FONT]
[FONT=&quot]Sie war riesig, die Decke so hoch wie ein Fußballstadion breit. Erleichtert stellte er fest, dass keine Zacken von ihr hing, die ihnen das Leben hätten kosten können. Die Höhle selbst war aus blauem Stein, der von innenheraus leuchtete. Das Licht war zwar kalt, verlieh der Höhle jedoch eine unheimliche Schönheit. Es gab dem Wasser im See, welcher sich nur einige Schritte weit entfernt befand, einen merkwürdig schönen Glanz. Überall schien der Staub zu glitzern und zu leuchten. Natal konnte nicht widerstehen und musste die Wand hinter sich berühren und war fast enttäuscht, als sich der Fels wie jeder anderer anfühlte. Es war warm in dieser Höhle, so dass er den Mantel ausziehen und in die Hand nehmen konnte. [/FONT]
[FONT=&quot]Sha'abre war zu dem See gegangen und schöpfte nun etwas Wasser mit ihren Händen heraus und trank davon.[/FONT]
[FONT=&quot]"Wusstest du hiervon?", fragte Natal staunend.[/FONT]
[FONT=&quot]Sie blickte auf. Ihre blauen Augen glitzerten. "Ja, irgendwie schon."[/FONT]
[FONT=&quot]"Was is‘n das für[/FONT][FONT=&quot]'[/FONT][FONT=&quot]n Stein?"[/FONT]
[FONT=&quot]"Dämonenstein", erklärte sie ihm zögerlich. "Das hier war mal die Behausung von Dämonen. Aber keine Sorge, sie sind lange fort."[/FONT]
[FONT=&quot]"Dämonen können so was Schönes machen?", hauchte er. Irgendwie befürchtete er, die unheimliche aber schöne Atmosphäre zu zerstören, wenn er zu laut sprach.[/FONT]
[FONT=&quot]"Natürlich. Es gibt schließlich nicht nur schlechte." [/FONT]
[FONT=&quot]"Und bist du ‘n Guter oder Böser?" Die Frage war draußen, bevor Natal überhaupt wusste, dass er sie stellen würde.[/FONT]
[FONT=&quot]Sha'abre blickte auf. In ihrem Blick lag Zorn. "Ich bin kein Dämon! Merk dir das! Vielleicht weiß ich nicht, was ich bin, aber ich bin definitiv kein Dämon!"[/FONT]
[FONT=&quot]"I... ist ja gut! Tut mir leid... ich dacht nur, weil ... du weißt so vieles ..." [/FONT]
[FONT=&quot]"Ich bin in dieser Welt aufgewachsen! Trink etwas, dann geht’s weiter. Du bist bestimmt hungrig. Wenn wir Glück haben stoßen wir auf ihre Speisekammer." Sie sah immer noch verstimmt aus, als sie sich abwandte und sich auf einen kleinen Felsvorsprung, von denen es hier viele gab, setzte. [/FONT]
[FONT=&quot]Endlich klopfte er sich den ganzen Staub von den Klamotten und betrachtete seine Beine. Wie waren vom Kriechen total zerkratzt. Aber er hatte auch nicht wirklich die geeignete Kleidung für so etwas an. Eine kurze Hose und ein T-Shirt.[/FONT]
[FONT=&quot]Still ging er zu dem See herüber, kniete sich hin und legte den Mantel neben sich. Als er seine Hände in das Wasser tauchte war er überrascht, wie kalt es war, aber es schmeckte einfach köstlich. Aber viel konnte er nicht davon trinken, denn seine Blase meldete sich augenblicklich.[/FONT]
[FONT=&quot]"Du ... ich verzieh mich kurz, ja?" [/FONT]
[FONT=&quot]Sha'abre nickte knapp und nahm ihn nicht weiter zur Notiz. Eingehend studierte sie die Decke. Natal verzog sich hinter einen Felsen und verrichtete dort seine Notdurft. Abermals beschlichen ihn Zweifel an seiner Überzeugung, dies alles gehöre zum Spiel. Es war ungewöhnlich, dass man im Spiel den Drang zu Pinkeln verspürte. Aber vielleicht war das alles wirklich nur eine hervorragende Simulation. Trotzdem gefiel es ihm nicht. Es lies alles viel zu real wirken. [/FONT]
[FONT=&quot]Als er aus seiner Ecke kam sprang Sha'abre von ihrem Platz und marschierte wortlos weiter.[/FONT]
[FONT=&quot]Nimmt sie mir das mit dem Dämon wirklich so übel? Vielleicht sollte ich mich entschuldigen ...[/FONT][FONT=&quot] Doch letztendlich sagte er gar nichts. Dadurch, dass sie beleidigt zu sein schien, wirklich sie eher ihrem Alter entsprechend. [/FONT]
[FONT=&quot]Sie entfernten sich langsam vom See, hielten sich aber an der Wand. Natal konnte bei dieser Größe unmöglich sagen, ob die Höhle eher rund oder eckig war. Er sah ja zum Teil nicht einmal deren Ende. Aber er hoffe, dass sie wirklich die Speisekammer fanden. Langsam bekam er vor Hunger richtige Bauchschmerzen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Du? Wenn die Dämonen hier nicht mehr leben... sind dann ihre Lebensmittel nicht schlecht?" Natal stieß fast gegen sie, als sie abrupt stehen blieb und ihn ansah.[/FONT]
[FONT=&quot]Zögernd schüttelte sie langsam den Kopf, als sei sie sich selbst nicht sicher. "Ich glaube nicht. Ich weiß es nicht direkt ... aber ich meine mich daran erinnern zu können, dass viele Dämonen einen Zauber benutzt haben, der ihre Lebensmittel nicht verderben lies. Sofern sie diesen nicht von ihnen genommen haben sollte es in Ordnung sein. Außerdem würde es hier bestialisch stinken." [/FONT]
[FONT=&quot]Daran hatte er gar nicht gedacht. Wie groß der Vorrat wohl sein mochte? Mit knurrendem Magen setzten sie sich wieder in Bewegung. Nun lief das kleine Mädchen direkt neben Natal und er stellte fest, dass sie über einen Kopf kleiner war als er.[/FONT]
[FONT=&quot]Plötzlich griff sie nach seiner Hand. Er sagte nichts dazu. Vielleicht war sie doch mehr Kind, als er gedacht hatte. [/FONT]
[FONT=&quot]Ihre kleine Hand passte problemlos in die seine. Sie war zart und trotz der Wärme hier kalt. Ihre Schritte halten in der Höhle wieder.[/FONT]
[FONT=&quot]Sha'abre begann damit, eine ihm bekannte Melodie zu summen und irgendwann stimmte er mit ein. Desto weiter sie in die Höhle gelangten, desto unheimlicher erschien ihm dies alles, obwohl er sie nach wie vor schön fand. Diese fröhliche Melodie schien diese unheimliche Atmosphäre etwas zurück zu drängen, wenn auch nicht zu verdrängen.[/FONT]
[FONT=&quot]Natal überlegte, wie lange sie schon unterwegs waren. Bestimmt schon einige Stunden. Aber er hatte bereits im Tunnel jegliches Zeitgefühl verloren. Er fühlte sich müde und erschöpft. Vielleicht würde sie ihn eine Weile schlafen lassen, wenn sie die Speisekammer fanden und sie etwas gegessen hatten. Vielleicht würde sie selbst ein wenig schlafen wollen. [/FONT]
[FONT=&quot]Ihn störte etwas der Mantel um seinen Arm und er begann, in den Schuhen zu schwitzen. Aber er wagte es nicht, die Melodie des Mädchens zu unterbrechen, um eine bessere Lösung zu finden. [/FONT]
[FONT=&quot]Allmählich veränderte sich ihre Umgebung. Sie gingen nun etwas bergauf und die Felsen um sie herum wurden immer spärlicher. [/FONT]
[FONT=&quot]"Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg", unterbrach Sha'abre die Stille. ihm war es gar nicht aufgefallen, dass sie beide verstummt waren. "Wenn ich mich nicht irre könnte das der Weg zum Festsaal sein. Und viele Dämonen haben bei ihrem Festsaal auch gleich die Speisekammer. Sie sind ... sehr praktisch veranlagt." Das Mädchen blickte weiter nach vorne. Im Gegensatz zu ihm schien sie überhaupt nicht erschöpft zu sein. [/FONT]
[FONT=&quot]Natal stellte fest, dass sie recht besaß. Sie erreichten den höchsten Punkt und sie blickten in einen abgesenkten Raum, der mit langen Tafeln und Stühlen aus braunen Steinen ausstaffiert war. Der Raum war mit hohen Wänden abgegrenzt und rund. Lediglich dort, wo sie sich befanden, war keine Wand. Über dem Raum erschien ihm das Leuchten etwas heller als in der vorherigen Höhle. In den Wänden entdeckte er mehrere Türen und zwei große Tore. Auf den Toren stand etwas in einer Schrift geschrieben, die er nicht lesen konnte, merkte aber schnell, dass Sha'abre dafür die Schriftzeichen umso geläufiger war. [/FONT]
[FONT=&quot]Sie deutete auf das Tor, dass sich viel näher als das andere befand und erklärte ihm, dass nach den Schriftzeichen sich dort die Speisekammer befinden müsste. Um zu ihr zu gelangen mussten sie einmal quer durch den Saal.[/FONT]
[FONT=&quot]Langsam stiegen sie hinab.[/FONT]
[FONT=&quot]Als sie an einer der langen Tafeln vorbeikamen fiel Natal auf, das nicht ein Krümel Staub auf dieser lag. Ein ungemütliches Gefühl machte sich in ihm breit.[/FONT]
[FONT=&quot]Es wirkt ganz und gar nicht verlassen, [/FONT][FONT=&quot]dachte er und strich mit den Fingern über die Oberfläche. Es fühlte sich kalt und so glatt wie Marmor an. Aber irgendetwas sagte ihm, dass es sich hierbei um kein Marmor handelte. [/FONT]
[FONT=&quot]Er blickte auf und schritt eilig weiter, als er sah, dass Sha'abre bereits den halben Saal durchquert hatte.[/FONT]
[FONT=&quot]Ihre Schritte hallten wieder und der Junge bildete sich ein, beobachtet zu werden. Auf einmal erschienen ihm die Schatten, die die Tafeln und Stühle warfen um einiges lebendiger.[/FONT]
[FONT=&quot]Endlich hatten sie den großen Saal durchquert und standen vor dem geschlossenen Steintor. [/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen blickte den Jungen an und sprach:"Hilf mir, das Tor aufzubekommen!"[/FONT]
[FONT=&quot]Ohne Widerworte zu geben gehorchte Natal.[/FONT]
[FONT=&quot]Zusammen stemmten sie sich gegen einer der Flügel. Bald schon war Natal vor Anstrengung ganz rot im Gesicht. [/FONT]
[FONT=&quot]Es knirschte und Millimeter für Millimeter bewegte sich der Seitenflügel. Bei dem Jungen brach der Schweiß aus. Als sie kurz Luft holten und eine Pause einlegten, sah er, dass auch Sha'abre gerötet war. Natal fragte sich, wie stark die Dämonen gewesen sein mussten, die hier gehaust hatten.[/FONT]
[FONT=&quot]Beim zweiten Stemmen vergrößerten sie den Spalt so sehr, dass sie sich hindurch quetschen konnten. [/FONT]
[FONT=&quot]Beide standen in einer großen Halle. Er glaube, noch nie so viel Essen auf einmal gesehen zu haben. [/FONT]
[FONT=&quot]Die verschiedenen Lebensmittel waren auf ordentliche Haufen verteilt. Auf dem ersten Blick schien er nichts von alle dem zu kennen. Dann sah er aber doch Früchte und Obst, welches er durchaus schon gegessen hatte.[/FONT]
[FONT=&quot]Die Wände waren glatt geschliffen und schmucklos. Auch sie leuchteten in Blau. [/FONT]
[FONT=&quot]"Greif zu!", verkündete Sha'abre und verschwand kurzerhand zwischen den Sachen. [/FONT]
[FONT=&quot]Langsam schritt er durch die Reihen und Häufen. An einen mit blau-lila Bären blieb er stehen. Sie verbreiteten einen süßlich, saftigen Duft.[/FONT]
[FONT=&quot]Wage erinnerte er sich an all die Geschichte, in denen es hieß, das man nichts anrühren und essen durfte, da ansonsten etwas schreckliches passieren würde. Nach kurzem Überlegen und einem lauten Knurren seines Magens beschloss er, dass Sha'abre ihn nicht hier her geführt hätte, wenn dem so sei und steckte sich eine Beere in den Mund.[/FONT]
[FONT=&quot]Sie schmeckte süßlich und voll. Noch nie zuvor, so kam es ihm vor, hatte er so etwas Köstliches gekostet. [/FONT]
[FONT=&quot]Er blickte sich um und kostete mal hier von und dort von. Jede Sache schien doppelt so gut zu schmecken, wie die vorherige. [/FONT]
[FONT=&quot]Nach einer Weile, Natal verspürte allmählich ein Sattheitsgefühl, kam Sha'abre zurück. Ihr Gesicht war über und über verschmiert und ihr graues Kleidchen dreckig. Sie hielt zwei große Fleischkeulen in der Hand, von der sie an einer knabberte.[/FONT]
[FONT=&quot]"Hier! Davon musst du unbedingt kosten!", rief sie und drückte ihm die unberührte Keule in die Hand.[/FONT]
[FONT=&quot]Herzhaft biss er hinein und war darüber überrascht, dass es alles übertraf, was er bisher gekostet hatte. Obwohl das Fleisch kalt war, war es saftig, zart und keineswegs trocken. [/FONT]
[FONT=&quot]"Waf if daf fü ein Flef?", fragte er mit vollen Wangen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Etwaf fwein ähnliches...", schmatze Sha'abre.[/FONT]
[FONT=&quot]Natal verschlang die Keule und obwohl er bereits ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend verspürte, hatte er Lust auf mehr. Er nahm sich einen Apfel von einem der großen Stapel und biss hinein. Hier schien alles viel köstlicher zu schmecken, als in der realen Welt, in der er Obst und vor allem Gemüse nicht wirklich leiden konnte.[/FONT]
[FONT=&quot]Sie aßen immer mehr und mehr. Einmal hörte er Sha'abre würgen und sich erbrechen, aber kurz darauf stand sie wieder neben ihm und aß weiter. Irgendwann erbrach auch Natal sich. Aber er konnte mit dem Essen nicht aufhören. Er redete sich ein, dass alles sein eigener, freier Wille sei.[/FONT]
[FONT=&quot]Nach einiger Zeit fragte er sich, wie lange sie sich hier wohl schon aufhielten und ihre Bäuche voll schlugen, schob den Gedanken aber so schnell wie möglich beiseite.[/FONT]
[FONT=&quot]Nach einer Zeitlang fühlte er sich jedoch müde und ausgelaugt. Ihn verließ so plötzlich seine Kraft, dass er nicht mehr weiter essen konnte, obwohl er doch so gerne wollte.[/FONT]
[FONT=&quot]Er entschloss sich dazu, sich eine Weile in dem Stapel mit Mäusespeck zu legen. Es war wundersam weich und während er langsam einschlief konnte er davon naschen. Sein letzter Gedanke war, dass er sich im Schlaraffenland befand.[/FONT]


[FONT=&quot]2[/FONT]
[FONT=&quot]Unsanft wurde er wach gerüttelt. Im ersten Moment sah er alles verschwommen.[/FONT]
[FONT=&quot]Natal blinzelte und erkannte nur langsam Sha'abres Gesicht. Er gähnte herzhaft und griff nach dem Mäusespeck. Erschrocken lies er es aber wieder fallen, als sie ihm so sehr auf die Finger schlug, dass es schmerzte.[/FONT]
[FONT=&quot]"He!", rief er empört. "Was soll dass!"[/FONT]
[FONT=&quot]Das Mädchen nahm ihn bei der Hand, zog ihn hoch und mit sich.[/FONT]
[FONT=&quot]"Wir dürfen nichts mehr essen!", erklärte sie. "Offensichtlich haben die Dämonen vor ihrem Weggang das Essen mit einem Fluch belegt, welcher jedes Lebewesen sich tot fressen lässt. Ich habe einen Fuchs entdeckt, dem es so ergangen ist. Komm! Und lass die verdammten Sachen in Ruhe!"[/FONT]
[FONT=&quot]Enttäuscht lies Natal die Hand sinken. Er hatte eben nach einem Stück exotisch aussehendes Brot greifen wollen, an dem sie vorbei liefen. Im Stillen fragte er sich, wie dieser Fuchs hier hineingelangen sein sollte und dachte, dass sie das bestimmt erfunden hatte.[/FONT]
[FONT=&quot]"Dann lass uns wenigstens etwas als Proviant mit nehmen", schlug er hoffnungsvoll vor, doch sie schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre Haare hin und her flogen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Wenn wir das täten, ´äßen wir alles auf einmal und es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir dann dazu gebracht werden, hier her zurückzukehren, um noch mehr zu holen. Jetzt komm endlich!" Sie beschleunigte ihren Schritt und zog Natal grob hinter sich her.[/FONT]
[FONT=&quot]Erst als sie ihn durch den schmalen Spalt zwischen den Flügeln schob, hörte er auf zu murren. Er passte kaum noch hindurch. Vielleicht hatte sie gar nicht so unrecht. Plötzlich fiel ihm auf, dass er seinen Mantel irgendwo hatte liegen lassen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Ich muss noch mal zurück!", rief er und versuchte, sich vorbei zu drängen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Nein! Das geht nicht mehr! Wenn du dass tust kommst du vielleicht nie wieder zurück!"[/FONT]
[FONT=&quot]"Aber mein Mantel..."[/FONT]
[FONT=&quot]"Wir werden sehen, ob wir etwas in den Schlafgemächern finden. Vielleicht haben sie etwas zurück gelassen, was wir gebrauchen können."[/FONT]
[FONT=&quot]Natal nickte und folgte ihr zu einer der kleineren Türen.[/FONT]
[FONT=&quot]"Bei Dämonen, die so viel Sinn für das Schöne haben, ist es üblich, dass bei Feiern die Ehrengäste direkt Zimmer neben dem Festsaal bekommen, in denen sie dann von Dirnen bedient und verwöhnt wurden", erklärte sie ihm, als sie die Tür aufstieß. Im Gegensatz zu dem steinernen Tor schwang diese federleicht auf.[/FONT]
[FONT=&quot]Sie blickten in einen dunklen Raum. Hier stank es faulig und nach abgestandener Luft. Natal wurde es fast schlecht davon. Er sah nur die Umrisse des Raumes. Irgendwo summte etwas. Fliegen?[/FONT]
[FONT=&quot]Sha'abre verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Ekels und sprach ein Wort, welches Natal nicht verstand.[/FONT]
[FONT=&quot]Die Steinwände begannen von innen heraus zu glühen und der Raum wurde wieder von dem eigentümlichen Licht erhellt. [/FONT]
[FONT=&quot]Viel Zeit, sich den Raum genauer anzusehen, nahm Natal sich jedoch nicht, denn er entdeckte fast augenblicklich den Grund für den Gestank. Ihm entfuhr ein spitzer Schrei und er machte einen Schritt aus dem Raum, um sich neben der Tür zu übergeben. Auf dem Bett lag ein halb verwester Mann mit offener Bauchdecke und den Resten seiner herausgequollenen Gedärme. Das Bettlacken war braun von dem alten und getrockneten Blut. Drumherum tummelten sich Fliegen. [/FONT]
[FONT=&quot]Schwach sank er an der Wand zum Boden. Er spürte, wie er schwitzte, doch er fror. [/FONT]
[FONT=&quot]"Was ist das nur für ein schreckliches Spiel?", krächzte er fast tonlos. Das Zittern hatte wieder eingesetzt. [/FONT]
[FONT=&quot]Schritte neben ihm verrieten, dass Sha'abre ihm folgte. Sie schmiss ihm eine wollige Hose und einen Pullover aus dickem Fell in den Schoss. [/FONT]
[FONT=&quot]"Hab ich im Schrank gefunden.", verkündete sie. "Und mach dir wegen dem Mann keine sorgen. Er hatte sein Schicksal frei gewählt." Sie klopfte gegen die Wand. "Das hier war wohl der Raum für die rituellen Opfer. Das ist in dieser Welt die größte Ehre, die einem Menschen zu kommen kann, aber er kann auch ablehnen, wenn er nicht will. Mach dir also keine Gedanken mehr darüber. Er hat es nicht anders gewollt. Wie es aussieht, sind die Dämonen aber recht überstürzt geflohen und irgendwie in ihrem Ritual unterbrochen worden. Mich würde interessieren, was der Grund für ihre Flucht war.“[/FONT]
[FONT=&quot]"Opfer ...", stöhnte Natal und hielt sich den Bauch. Das einzige, dass ihm davon abhielt, sich bei der Erinnerung an die Leiche, noch einmal zu erbrechen war, dass ihn Sha'abres Worte plötzlich stutzen ließen. [/FONT]
[FONT=&quot]Überstürzt geflohen?,[/FONT][FONT=&quot] fragte er sich und erinnerte sich dann an das verzauberte Essen. Irgendwie passte das nicht so recht ins Bild, wie er fand. Aber er würde nicht danach fragen, denn langsam fing er an dem Mädchen zu misstrauen, obwohl er nicht hätte sagen können, weshalb, wenn man ihn danach gefragt hätte.[/FONT]
[FONT=&quot]Gleichgültig wie warm es war, streifte er Pullover und Hose über. Natürlich war beides viel zu groß für ihn, aber das brachte auch den Vorteil mit sich, dass er sich nicht ganz entkleiden brauchte, sondern nur die Schuhe aus und wieder an zu ziehen. [/FONT]
[FONT=&quot]Sha'abre schlug vor, sich in einer der Betten für diese Nacht noch einmal auszuruhen. "Das passt zwar absolut nicht in meinen Zeitplan und wir werden Schwierigkeiten bekommen, deine Gefährten einzuholen, aber wenn wir schon mal hier sind, wird eine Nacht mehr oder weniger auch nicht schaden."[/FONT]
[FONT=&quot]Natal wartete dieses Mal vor der Tür, um solch einen Schock wie bei dem letzten Mal zu entgehen. Schließlich winkte sie ihn zu sich hinein. [/FONT]
[FONT=&quot]Es war ein riesiges Schlafzimmer. Die Wände waren aus dem gleichen Stein, wie die restliche Höhle, doch diese hier war mit bunten Malereien verziert, die genauso intensiv leuchteten, wie der Rest. In eine Ecke stand ein riesiger Schrank, aus dem gleichen Material wie die Tafeln im Saal. Noch größer wurden seine Augen, als er das Bett erblickte. Es war rund und bot bequem Platz für mindestens drei ausgewachsene Männer. Aber das war es nicht, was ihn so erststaunte. Das Bett war in die Wand gemeißelt und leuchtete damit wie alles andere.[/FONT]
[FONT=&quot]"Wow", hauchte er. Dieser Anblick lies ihn den Schock von eben vergessen. Er ging langsam hinüber, um das Bett genauer zu betrachten. Es war wie eine kleine Höhle. Man würde bequem darin sitzen können, vielleicht sogar stehen können.[/FONT]
[FONT=&quot]Im Bett waberte bis oben hin eine blaue Substanz. "Was is'n das?", fragte Natal.[/FONT]
[FONT=&quot]"So etwas, wie bei euch die Matratzen. Nur viel komfortabler", erklärte ihn Sha'abre, die neben ihm stand. "Schau!" Mit einem Satz sprang sie auf die Substanz und federte ab. Dann wurde die Substanz glatt und hart. "Sie passt sich genau den Wünschen desjenigen an, der auf ihr liegt."[/FONT]
[FONT=&quot]Vorsichtig tippte Natal die blaue Substanz an. Sie kräuselte sich wie Wasser. Neugierig lies er sich darauf sinken und stellte fest, dass Sha'abre recht hatte. In dem einen Moment, in dem er dachte, die Substanz solle hart sein, war sie es und als er dann dachte, sie solle weich wie ein Kissen sein, änderte sie sich und nahm die Form an, die er sich vorgestellt hatte. "Oberkrass!"[/FONT]
[FONT=&quot]Sie legten sich hin und Sha'abre lies die Substanz wie eine Decke über ihre Körper fliesen. Mit einem Wort löschte sie das Licht. Sein letzter Gedanke war die Frage, woher Sha’abre wohl wissen mochte, dass es in seiner Welt Matratzen gab….[/FONT]


[FONT=&quot]3[/FONT]
[FONT=&quot]Auszug aus Natals Tagebuch…[/FONT]

[FONT=&quot]Dieses Grabgemäuer, in dem ich aufgewacht bin, werde ich wohl nie vergessen können. Es war so kalt und unheimlich. Es erdrückte mich und lies mir die Einbildung, man hät[/FONT][FONT=&quot]'[/FONT][FONT=&quot] mich lebendig begraben. Vielleicht hat man dies auch und das hier ist das Leben nach dem Tod. Vielleicht erwacht jeder in einer kalten, verlassenen Grabkammer, wenn er oder sie gestorben ist. Wer kann das schon sage? [/FONT]
[FONT=&quot]Und da war dieses Mädchen. Es sah aus, als wäre es vielleicht sechs oder sieben Jahre alt. Aber es verhielt sich überhaupt nicht so und es trug dieses dünne Kleidchen in der Kälte, ohne Anzeichen, dass es vielleicht fror. Sie stellte sich als Sha’abre vor.[/FONT]
[FONT=&quot]Danach kommt eine lange Zeit von der ich nicht viel weiß. Ich weiß nur noch wage, dass wir durch einen Tunnel krochen und in einer seltsamen Höhle landeten.[/FONT]
[FONT=&quot]Das nächste, an das ich mich wirklich erinnern kann ist, wie wir auf die Speisekammer trafen. Ich bekomme jetzt noch Bauchschmerzen, wenn ich daran denke, so viele haben wir dort gegessen. Und dann fanden wir diese Leiche im Zimmer. Sha’abre meinte, sie sei ein rituelles Opfer gewesen und es sei ihr eigener Wunsch gewesen, dieses Ritual zu vollziehen. Aber diese Leiche… ich habe heute noch Albträume von ihr. Nachts wache ich schreiend auf, weil ich ihre kalten, knochigen Finger an meinem Handgelenkt fühlen kann. Es ist einfach fürchterlich. Wie kann jemand solch ein schreckliches Spiel mit so vielen Details erfinden?[/FONT]




Mit- oder Gegenspieler?




1​

Natal erwachte, weil er dringend auf das Klo musste. Doch es war so dunkel, dass er überhaupt nichts sehen konnte. Wieso hatten sie die Tür nicht einen Spalt weit aufgelassen? Er wusste nicht einmal mehr, in welcher Richtung sie gelegen hatten. Dennoch er musste so unglaublich dringend.
Vorsichtig stand er auf und tastete sich an der Wand entlang. Ihm kam es eine Ewigkeit vor, bis er endlich zur Tür gelangte. Einmal stieß er sogar gegen den Schrank und überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, das Mädchen zu wecken. Erleichterung durchströmte ihn, als er endlich die Tür fand. Schnell schlüpfte er hindurch.
Es roch leicht streng und säuerlich und man musste nicht intelligent sein, um zu wissen, woher der Gestank kam. Die Tür, in der der Tote lag, war nicht so weit entfernt, wie er es gerne gehabt hätte. Er konnte von hier aus sogar deutlich sein Erbrochenes sehen.
Er durchquerte einmal den Saal und verrichtete sein Geschäft an dem Hang, so weit wie möglich von der Tür entfernt. Ausnahmsweise war er froh, dass ihn sein Ziehvater förmlich dazu zwang, bei jeder Gelegenheit Taschentücher einzupacken.
Als er sich auf den Rückweg machte, hörte er plötzlich seltsame Geräusche. Es war ein Schaben. Und - vielleicht bildete er es sich auch nur ein - eine Stimme, die sprach - nein, jammerte.
Sofort schlug sein Herz schneller und er beschleunigte seinen Schritt. Fast lautlos schlüpfte er durch die Tür.
"Sha'abre ... Sha'abre, wach bitte auf. Da ist irgendwas!", flüsterte er.
"Du hast geträumt. Dreh dich einfach um", kam es aus der Ecke, in der sich in etwa das Bett befinden musste.
Natal hatte Tränen in den Augen. "Nein ... da ist wirklich was. Bitte, hör doch!" Doch alles, was zu hören war, war das friedliche Atmen des Mädchens. Er musste es unbedingt wach bekommen, und wenn es bedeutete, dass er Gewalt anwenden musste!
Er tastete sich vorsichtig zu ihr durch und kniete auf dem Bett. Vorsichtig tastete er nach ihrer Schulter und schüttelte sie sachte. "Bitte wach auf. Sha'abre, hör doch!"
"Verdammt, Natal! Was ist denn!" Er spürte, wie ein Ruck durch die Substanz ging, auf der sie lagen und spürte, wie sich Sha'abre ruckartig aufrichtete.
"D-Da ist irgendwas. Bitte komm mit raus und höre es dir an."
Sie seufzte laut und sprach das Wort, um den Raum zu erleuchten. Mit den Händen strich sie ihr Haar glatt, bevor sie Natal vor die Tür begleitete. Sie lauschte. "Da ist nichts." Sie wandte sich um und wollte wieder in dem Raum verschwinden, doch er hielt sie am Arm fest. "Doch! Da war etwas! Ein Schaben! Hör nur etwas länger hin, ich bitte dich."
Sie stöhnte genervt, kam aber letztendlich seiner Bitte nach. Gemeinsam lauschten sie. Stille. Nichts als Stille. Er fragte sich gerade, ob er es sich vielleicht doch nur eingebildet hatte, als das Schaben von neuem einsetzte. Ihre Stirn legte sich in Falten, glättete sich aber gleich wieder. Er traute seinen Augen nicht, als sich ein Lächeln auf ihre Lippen legte. Lachte sie ihn etwa aus? Hörte sie es denn nicht?
"Ich denke, ich weiß, was das ist", sagte sie schließlich und ging zu dem Raum, in der der Tote lag. "Komm mit und siehe es dir an, wenn du willst. Allerdings ... du solltest mit deinem schwachen Magen vielleicht doch eher drauf verzichten."
Zögernd folgte er ihr trotzdem. Zum einen war es Neugierde, zum anderen würde er keinen Schlaf mehr finden, wenn er nicht wusste, was es war.
Sie stieß die Tür einen Spalt auf und blickte hinein. Ihre Größe lies es zu, dass er über sie hinweg sehen konnte. Und er wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan. Er spürte, wie sich sein Magen meldete und wandte sich verstört ab.
Der tote Mann war offensichtlich nicht so tot, wie sie angenommen hatten. Er kroch auf seinem Bett umher und versuchte seine Gedärme wieder in den offenen Bauch zu bekommen, dabei jammerte er immer und immer wieder: "muss einsammeln, muss einsammeln, muss einsammeln ..."
Natal bekam ganz weiche Knie und musste sich setzen. Ein Zombie, dachte er entsetzt. Wir müssen hier weg!
Gerade wollte er Sha'abre sagen, dass sie hier fort mussten, als er sah, dass sie nicht mehr vor der Tür stand. War sie etwa lebensmüde?
Nach kurzem Zögern überwand er seine Angst und stürzte hinter ihr her. "Was tust du da!?", rief er entsetzt, stieß die Tür auf und sah Sha'abre direkt vor dem Toten stehen.
Ruhig wandte sie sich zu ihm um und lächelte. "Er wird uns nichts tun."
"Aber... A-A-Aber ... das ist ein Zombie! Zombies fressen uns!" Hastig griff er nach ihrem Handgelenk und wollte sie raus zerren, bevor sich der Zombie auf sie stürzen konnte, doch geschickt entwand sie sich seinem Griff.
"Ja, du hast recht, Zombies fressen uns. Aber das hier ist kein Zombie", erklärte sie ihm geduldig. "Sein Geist kommt nicht zur Ruhe und aus irgendeinem Grund löst er sich nicht von seinem Körper oder findet zu bestimmten Zeiten zurück zu ihm. Wahrscheinlich liegt es daran, dass das Ritual nicht zu Ende gebracht wurde. Wir sollten ihn erlösen oder hast du kein Mitleid mit ihm? Aber vielleicht kann er uns sogar noch ein wenig behilflich sein." Sie drehte sich zu dem Toten um, der sie beide gar nicht beachtete und weiterhin versuchte, seine Gedärme in seinen Bauch zurück zu schieben. Sie redete mit ihm wie zu einem Kind: "Hallo. Wir sind hier, um dich zu erlösen. Aber zuerst musst du mir sagen, wann du in deinen Körper zurückkehrst."
Langsam drehte der Tote seinen Kopf. Natal unterdrückte einen Schrei, als er die milchigen Augen sah. Ihm standen Tränen in den Augen. Die Haut des Toten war aschgrau und teilweiße sah Natal die Knochen darunter, aber was ihn noch mehr erschreckte war, dass teilweise die Muskeln und Sennen freilagen und er jede einzelne Bewegung und jedes Zucken verfolgen konnte. Alles nur ein Spiel, alles nur ein Spiel...
Die Stimme des Toten klang rau und zittrig, als er anfing zu sprechen: "Mond... voller Mond... abhängig voller Mond... redet... Erlösung ..."
Angewidert trat Natal ein Stück zurück. Mit jedem Wort drang mehr und mehr Gestand aus dem Mund des Toten und er konnte einfach nicht seine Augen von der grauen, halbverwesten Zunge lassen. Die Zähne waren schwarz und faul und er hätte lieber nicht gesehen, dass der Rachen des Toten kaum noch vorhanden war und in ihm Ungeziefer sein Unwesen trieb. Er sah zu, wie sich kleine Maden um die fast nicht mehr vorhandene Unterlippe kringelten. Nur mit Mühe konnte er seinen Mageninhalt für sich behalten. Er war sich sicher, dass der Tote ganz und gar nicht begeistert davon wäre, wenn er sich in seinem Zimmer erbrach, oder – noch schlimmer – auf seine schwarzen, ohnehin stinkenden, ohnehin stinkenden Gedärme. Sie verbreiteten einen fast noch ekelhafteren Gestank, als der aus seinem restlichen Mund und Rachen.
Sha'abre nickte zufrieden. "Das ist genau dass, was ich wissen wollte. Du musst mir nur noch eine Antwort geben, dann lassen wir dich in Ruhe. Wir suchen jemanden ..."
Mit seiner trockenen, knisternden Stimme unterbrach der Tote sie: "Kumpanen... Mond redet... Höhleneingang... zwei Tage... Sturm... schlimmer Sturm... muss einsammeln..."
Natal starrte auf die grau-schwarze Masse, die sich der Tote immer wieder versuchte, in seine offene Bauchdecke zurück zu stecken. Irgendwas bewegte sich darin. Etwas größeres, als die kleinen Maden, die darauf und darin herumkrochen. Die Innereien machten bei jedem Herausfallen ein Geräusch wie alt gewordenes Papier und jedes Mal löste sich dabei etwas von dem braunen, getrockneten Blut und verteilte sich im Raum. Manchmal löste sich ein Teil der Eingeweide und purzelte als ein Stück Fleisch durch den Raum, wonach der Tote dann mit seinen Knochenfingern zu greifen, wobei noch mehr von seinen Därmen heraus fiel.
"Geh raus, Natal. Ich brauche meine Ruhe, um ihn zu erlösen."
Total verstört gehorchte der Junge und wartete vor der Tür. Das flaue Gefühl im Magen lies allmählich nach, dafür setzte wieder das Zittern ein. Es war still im Raum. Aber es dauerte lange, bis Sha'abre wieder hinaus trat. Genug Zeit, um sich die schrecklichsten Dinge auszumalen.
"Wir werden aufbrechen!", sagte sie zu ihm. "Hol deine Sachen und zieh sie an. Wenn wir Glück haben soll der Schneesturm zwei Tage halten und solange sitzen sie im Höhleneingang fest. Wenn wir jedoch Pech haben brauchen wir zwei Tage bis dorthin." Schweigend ging sie zu dem Zimmer, in dem sie geschlafen hatten und langsam folgte Natal ihr.
Als er sich fertig angekleidet hatte, machten sie sich auf den Weg.
Nach dem sie eine Weile bedrückt geschwiegen hatten, fragte er: "Woher weißt du, wo lang wir müssen."
Sha'abre blieb so abrupt stehen, dass er fast gegen sie gelaufen werde. "Du fühlst es nicht?"
"Was fühlen?"
"Ich weiß nicht... es ist ein Art Ziehen... hör in dich hinein. Fühlst du es nicht?"
Natal ergründete seine Gefühle. Da war viel. Vor allem Angst, Verwirrung und Entsetzen. Schließlich schüttelte er den Kopf. Da war kein Ziehen oder etwas Instinktähnliches, was ihm sagte, in welche Richtung sie gehen mussten.
Sha'abre blickte zweifelnd, seufzte und ging weiter. "Na das kann ja noch was werden. Hoffentlich bist du nicht doch der falsche ..."
"Der Falsche? Wofür?" Doch Natal bekam keine Antwort mehr.


2​


Sie schritten durch das andere, große Tor. Im Gegensatz zu dem Tor für die Speisekammer war dieses hier bereits halb geöffnet. Sie gelangten in einen großen Gang, der mit demselben Licht beleuchtet war, wie die restliche Höhle. Aber hier kam es Natal irgendwie dunkler vor. Von dem Ganz zweigten mehrere Gänge ab, aber Sha'abre ging zielsicher und ohne zu zögern immer weiter gerade aus. Bald kam es ihm vor, als kenne sie sich genauestens aus. Er überlegte, ob er sie fragen sollte, ob sie hier schon einmal gewesen war und ob sie die Dämonen gekannt hatte. Aber er lies es bleiben. Sie wusste ohnehin so vieles...
Natal trottete still hinter ihr her. Sie gelangten immer weiter in den Tunnel und irgendwann fiel ihm auf, dass er sich zu verengen schien. Langsam veränderte sich auch der Weg. Er wurde steiniger und unebener. Es war deutlich, dass hier länger niemand gewesen war, dieser Weg früher aber oft benutzt wurde.
Irgendwann, es musste eine Stunde vergangen sein oder sogar mehr, buht Natal das Mädchen um eine Pause. Ihm taten die Füße weh und er war sich sicher, dass er Blasen von den viel zu großen Schuhen hatte. Aber Sha'abre ignorierte ihn einfach und lief weiter.
Genervt von ihrem Schweigen folgte er ihr.
Na dass kann ja noch ein toller Tag werden, dachte er zynisch. Gestern Abend, wenn es da überhaupt Abend war - das lies sich in dieser Höhle nur sehr schlecht sagen und er hatte schon lange kein Zeitgefühl mehr - hatte sie mit ihm rumgealbert, als sei sie wirklich ein 6-jähriges Mädchen. Jetzt aber benahm sie sich wieder so komisch und er fand, dass es sie unheimlich machte und er sie so nicht ausstehen konnte. Es war wirklich ein sehr seltsames Spiel. Er hoffte, dass ihm sein Ziehvater bald helfen würde, hier wieder hinaus zu kommen. Irgendwie musste er sich beim Zocken in ein anderes Spiel eingeloggt haben. Auch wenn er es immer noch sehr seltsam fand, dass er weder seinen Körper fühlen konnte, noch irgendwelche Stromkreise ausfindig machen konnte. Es war wirklich ein sehr unheimliches, aber vor allem schreckliches, Spiel. Zum Glück sah niemand, dass er sich wie eine Heulsuse benahm.
Mit der Zeit fühlte er sich zunehmend müde. Er hatte zwar recht gut geschlafen, aber viel zu wenig. Außerdem begann ihm der Rücken von dem vielen Laufen zu schmerzen. Er wünschte sich seinen FlyOn, damit wäre er doppelt so schnell gewesen. Noch nie zu vor war er so viel gelaufen, wie in den vergangen zwei Tagen. Und es nervte ihn. Es war anstrengend und brachte Muskelkater mit sich. Außerdem hatte er ohnehin kaum etwas auf den Rippen, was er hätte verbrennen können. In Gedanken schimpfte er auf Sha'abre, aber er hätte niemals etwas davon laut ausgesprochen. Er gestand sich nicht gerne ein, dass er recht verzogen und verwöhnt war. Dralu hatte ihm immer fast alles durchgehen lassen und erlaubt. Nur manchmal, wenn er so seine Launen gehabt hatte ...
Missmutig stapfte er also hinter ihr her. Erst nachdem eine weitere, längere Zeitspanne vergangen war, erlaubte sie ihm, sich einen Augenblick zu setzen. Aber sie war nach wie vor nicht sehr gesprächig. Natal überlegte, ob ihr der Tote noch etwas gesagt hatte oder ob sie es doch nicht so gut zurückstecken konnte, wie sie tat. Schließlich sah sie immer noch aus, wie ein kleines Mädchen. Und an dieser Tatsache würde sich nichts ändern. Vielleicht war sie ja doch im tiefsten Innerem kindlicher, als es von außen wirkte. Dieser Gedanke ermunterte Natal etwas, denn das hieße, dass sie doch menschlicher sei, als er dachte, oder zumindest nicht schizophren, wie es manchmal wirkte, wenn sie sich plötzlich ihrem Alter gemäß verhielt. Anderseits, wenn er sie jetzt so betrachtete, dann war es wirklich so, als gäbe es zwei Mädchen. Sie blickte ernst und nachdenklich hinein, die kindlichen Züge auf ihrem Gesicht wirkten hart und kalt, einfach zu erwachsen.
"Wie alt bist du wirklich?", schoss es aus ihm heraus.
Überrascht blickte Sha'abre auf, die eben irgendwas am Boden inspiziert hatte. Einen Momenten lang schien es, als überlege sie intensiv, dann antwortete sie mit einer Gegenfrage: "Wie alt sehe ich denn aus?"
Er zuckte spontan mit den Schultern. "Weiß nicht. Wie sechs oder sieben."
Ein bitteres Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie nickte stumm, beantwortete jedoch nicht seine vorhergehende Frage und er traute sich nicht, sie noch einmal zu stellen.
Irgendwann erhob sich Sha'abre und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Stillschweigend liefen sie hinter einander. Sha'abre schien tief in Gedanken versunken zu sein und auch Natal hing seinen eigenen nach.
Allmählich bekam er Hunger, doch er beklagte sich nicht mehr. Sie würde ihn ohnehin ignorieren und was sollte sie ihm schon gegen den Hunger geben. Er fragte sich, ob sie nicht selbst hungrig und erschöpft war.
Allmählich wurde die Luft etwas kühler und er vermutete, dass sie dem Höhlenausgang immer näher kamen. In dieser Nacht schliefen sie dicht einander gedrängt, denn die Luft war bereits eisig. Natal konnte trotz massiver Erschöpfung kaum schlafen. Ihm tat alles weh, vor allem die wunden Füße und der Boden war hart und unbequem.
Aber viel Zeit zu schlafen lies man ihm ohnehin nicht. Sie brachen bereits nach einigen Stunden wieder auf. Sha'abre erklärte, dass, wenn sie Glück hatten, heute seine Gefährten finden würden. Müde und fertig schleppte er sich hinter ihr her. Er meinte, jede Faser seines Körpers fühlen zu können und stellte fest, dass er an einigen Stellen Muskeln besaß, an die er bisher noch nie gedacht hatte.
Nach einiger Zeit wurde ihnen das Laufen noch zusätzlich erschwert. Der Tunnel machte eine Biegung nach links und sie standen vor einem großen Hang. Ohne zu zögern lief sie darauf zu.
"Gibt es keinen anderen, einfacheren Weg?", fragte Natal skeptisch.
"Nein. Aber wenn wir oben sind, sollten wir es bald geschafft haben."
Der Junge seufze theatralisch. Und wie weit geht das hoch? Er konnte nicht das Ende des Hanges sehen. Aber wenn er ihr nicht folgte, wäre er auf sich alleine gestellt und vielleicht würde er dann überhaupt nicht mehr aus diesem Spiel herauskommen. Vielleicht musste er es einfach zu Ende spielen, damit er wieder in die reale Welt gelangte. Er hoffe nur, ihre Mission wäre zu Ende, wenn sie diese merkwürdigen Leute gefunden hatte, nach denen Sha'abre anscheinend suchte. Sonst würde er hier wahrscheinlich durchdrehen.
Vielleicht, überlegte er, sammelt der Staat meines gleichen ein, weil so etwas schon öfter passiert ist. Vielleicht wissen sie, wie man diese Fähigkeiten unter Kontrolle bekommt. Sie wissen es ganz sicher. Und wenn ich es wüsste, könnte ich mich auch bestimmt von selbst ausloggen. Verdammt! Aber dann erinnerte er sich an all die Gerüchte, in denen es hieß, dass man die 'blue Kids' zu Mordwaffen ausbildete und er überlegte, dass daran irgendwas wahres sein musste. Sonst würde dieses Projekt nicht so verdammt geheim gehalten werden. Plötzlich hatte er Angst, dass dieses Spiel vielleicht vom Staat inszeniert wurde, um freilaufende 'blue Kids' ausfindig zu machen und ihre Fähigkeiten auszutesten.
So ein Blödsinn! Er schob alles beiseite und ging ein wenig schneller.
Er keuchte, als er das Mädchen endlich eingeholt hatte. Doch sie atmete ganz normal, als sei sie nicht gerade zweihundert Meter bergauf sondern bergab gelaufen.
"Können ... können wir kurz ... halten ...?", keuchte Natal.
Sha'abre sah ihn an. "Du bist echt schwach." Aber sie erlaubte ihm, sich einige Minuten zu setzen. Danach ging es sofort weiter.
Desto weiter sie gingen, desto mehr viel ihm auf, dass das Licht des Dämonensteins langsam erlosch und es damit immer dunkler wurde. Ihm wurde erklärt, dass das nur bedeuten konnte, dass sie sich auf dem richtigen Weg befanden.
"Und wann sind wir endlich da?", begann er zu maulen. Doch auch jetzt bekam er keine Antwort. Es nervte ihn, dass sie ihn wie Luft behandelte. "He, ich rede mit dir!", schrie er zornig und blieb stehen.
Ohne sich umzudrehen oder anzuhalten antwortete sie ihm: "Ich bin nicht schwerhörig. Komm endlich!"
Er war kurz davor, aus Trotz stehen zu bleiben und sich wie ein kleines Kind zu benehmen. Doch letztendlich siegte die Vernunft.
Das einzige Geräusch, dass sie über Stunden begleitete waren ihre Schritte. Natal hatte die Hoffnung aufgegeben, dass sie sich irgendwann mal ausruhten. Doch plötzlich knallte er gegen sie und sie fiel auf die Knie. Er war so in Gedanken versunken, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass sie stehen geblieben war. Sie fluchte laut, rappelte sich wieder auf und klopfte sich den Staub von ihrem grauen Kleidchen. "Kannst du nicht aufpassen?", fragte sie genervt. Ihr eines Knie blutete schwach, doch das schien sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.
"Was bleibst du auch einfach stehen?", beschwerte sich Natal.
"Hör doch."
Er lauschte. Was war das? Etwas, was er anfänglich nicht zuordnen konnte, drang an sein Ohr. Dann wurde ihm klar, was das für ein Geräusch war. "Ein Baby?", fragte er entgeistert. "Hier?"
Sha'abre nickte. "Deine Gefährten haben ein Kind bei sich, ja. Ich denke, du wirst sie in den nächsten Stunden kennen lernen. Leider lässt sich noch nicht sagen, wie weit es ist. Das Echo hier kann Geräusche über Kilometer weit tragen."
Wieder fragte er sich, woher sie dies alles so sicher wusste.
Sie folgten dem Geschrei und während es immer lauter wurde und näher zu kommen schien, wurde es im Tunnel immer dunkler. Schließlich wurde es so dunkel, dass sie nur noch die Umrisse sahen und sich vorantasten musste.
"Bist du dir sicher, dass das der richtige Weg ist?" Das Schreien war verstummt und in dem dunklen bekam er es langsam mit der Angst zu tun. sie waren nun so tief, dass er nicht mal mehr seine Hand vor Augen sah. Und wer weiß, was in dieser Dunkelheit lauerte.
"Es muss der richtige Weg sein."
Ja, klar, dachte Natal genervt. Es muss. Und wenn es doch nicht der richtige ist? Was dann? Oder wenn da irgendwas im Dunklen lauert und auf uns wartet. Er schluckte. Okay, beruhige dich. Das ist alles nur ein Spiel. Nur ein Spiel!
Dennoch fühlte er sich wabbelig auf seinen Beinen. Außerdem wollte er schlafen. Er war so verdammt müde und ihm taten die Beine weh. Bald würde er nicht mehr laufen können und einfach zusammensacken.
"Dort!", rief Sha'abre überraschend und er zuckte vor Schreck zusammen.
Er sah nicht, ob sie die Hand gehoben hatte, aber er sah, was sie meinte. Irgendwo dort oben leuchtete etwas. Es war nur ein klitzekleiner Funken. Aber er war sich nicht sicher, ob es eine gute Idee war, einfach darauf zu zulaufen. Schritte verrieten, dass Sha'abre beschlossen hatte, dass es ihr egal war, ob es klug oder nicht war.
"He, warte! Du kannst nicht einfach...!", rief er und taste sich weiter voran. Er hätte gerne nach ihr gegriffen und sie festgehalten. Aber er sah einfach zu wenig.
Etwas bewegte sich bei dem Licht. Er sah es flackern und er hörte etwas. Dann war da diese Stimme. Sie klang hart und unfreundlich: "Wer ist da? Kein Schritt weiter! Wir haben eine Armbrust bei uns."
Abrupt blieb er stehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Er war sich sicher, dass sein armes Herz noch nie zuvor so oft so schnell geschlagen hatte. Wenn es so weiterging würde er noch im zarten Alter an einem Herzinfarkt sterben, da war er sich sicher.
Etwas bewegte sich neben ihm und berührte sachte seinen Arm. Für einen Moment bekam er Panik, dass es etwas unheimliches sein könnte. Dann hörte er Sha'abres Stimme an seinem Ohr. Ihr Atem war kalt. "Sag ihnen, wer du bist und dein Alter. Aber sag ihnen nichts von mir!"
"M... Mein ... Ich heiße Natal...", stotterte er unsicher. "I... Ich bin... zwö... zwölf..."
Die Stimme redete mit einer anderen. Dann rief sie: "Woher kommst du?"
"Ich... N... Na... Natuko... die Stadt..."
Wieder wechselten die zwei Stimmen ein paar Worte miteinander, die Natal nicht verstand, bevor er eine Antwort bekam. "Ist noch jemand bei dir? Hast du Waffen?"
"Sag ihm, du seist allein."
Nach dem sich die beiden Stimmen noch einmal beraten hatten, bekam er gesagt, dass er mit erhobenen Händen zu ihnen hoch kommen solle.
Langsamen Schrittes gehorchte er und stellte fest, dass es noch weiter zu ihnen war, als es den Anschein gemacht hatte. In der Zeit, in der er mit dem Mann geredet hatte, hatte er Zeit gehabt, Luft zu holen. Doch nun war er von neuem außer Atem.
Allmählich erkannte er Umrisse von zwei Personen. Die eine stand und hielt etwas in der Hand. Sie war groß und hatte breite Schultern, wirkte aber sonst schlaksig. Die andere kauerte am Boden und hielt etwas in den Armen. Als er vorsichtig näher trat sah er, dass es sich dabei um eine Frau handelte. Das Haar ging ihr bis zu den Hüften. Sie wirkte in den viel zu großen Sachen klein und zierlich. Natals Herz machte fast einen Aussetzer, als er nah genug bei ihnen war um ihre Haarfarbe zu erkennen. Es war nicht wasserstoffblond, wie er zuerst angenommen hatte. Es war Eisblau. Er starrte es an. Ein 'blue Kid'?, dachte er verwirrt. Dann wandte er seinen Blick ab und sah den großen Mann. Erleichtert stellte er fest, dass dieser blonde Haare hatten, auch wenn die Narbe, die sich über seine rechte Wange zog, wulstig und furchteinflößend war.
"Tatsächlich. Ein Junge", stellte der Mann fest und lies die Waffe runter. Er beäugte Natal überrascht. "Wie kommst du denn hier her?"
Vorsichtig näherte Natal sich. "Weiß nicht. Ich kann mich nicht ausloggen."
Die Frau blickte auf und Natal erkannte, dass sie kaum Mitte zwanzig war, doch ihre Augen sahen viel älter aus. "Ausloggen?" Ihre Stimme klang weich und melodisch und trotzdem irgendwie kalt und emotionslos. Ein genauso emotionsloses Lächeln legte sich auf ihre Lippen. "Komm her."
Zögernd gehorchte Natal. Irgendwie hatte er sich das in den letzten Tagen angewöhnt. Als er näher kam sah er, dass die Frau ein Kind in den Armen hielt. Sie bedeutete ihm, sich zu ihr hinunter zu beäugen. Überrascht und zum Teil aus Schmerz schrie er auf, als sie nach seinen Haaren griff und ihn daran herunter zerrte.
"Au! Hey! Was soll das! Lassen Sie mich los! Das tut weh!"
Doch die Frau lies ihn nicht los. Sie schien irgendwas in seinen Haaren zu suchen. Und plötzlich fiel Natal ein, das Dralu gesagt hatte, sie müssten ihm bald wieder die Haare färben.
"Ein 'blue Kid'", sagte sie und lies ihn los. "Dann habe ich mich doch nicht getäuscht."
"G...Getäuscht? Wo... woher...?"
Die Stirn der Frau legte sich in Falten. "Woher ich das wusste?"
Erschrocken starrte Natal auf ihre Lippen. Sie hatten sich nicht bewegt. Keinen Millimeter. "W... Was... Wie...?"
"Also doch... du warst nicht in der Akademie..." Die Stimmte der Frau erklang im Kopf des Jungen. Ungläubig starrte er sie an und brachte kein Wort über die Lippen. "Das heißt, du hast deine Fähigkeiten nicht unter Kontrolle. Das erklärt, wieso du nicht auf meine Impulse reagiert hast. Na dass kann ja was werden!" Die Frau winkte dem Mann zu. Offensichtlich hörte er ihre Gedanken nicht, denn er beugte sich zu ihr runter und sie raunte ihm etwas ins Ohr. "Bist du wirklich allein?", fragte die Frau plötzlich.
Zögernd drehte sich Natal um und blickte suchend in das Dunkel. Doch Sha'abre schien verschwunden. "Da war ein Mädchen..."
"Und jetzt ist sie nicht mehr,", beendete die Frau den Satz.
Natal nickte. "Ja, aber sie kann doch nicht..."
"Vielleicht war sie ein Dämon oder ein Geist... hier riecht es überall nach Dämonen und Geistern." Der Mann blickte ihn an. Er ist wirklich groß, schoss es Natal durch den Kopf. "Senna, gib dem Jungen etwas zu essen. Wer weiß, wie lange der hier schon umherirrt."
Die Frau, die der Mann Senna genannt hatte, reichte im trockenes Fleisch und einen Becher Wasser. Natal nahm es zögerlich entgegen. "Was meinten Sie mit Fähigkeiten?"
"Lass das Sie weg, Junge, das hört sich an, als wäre ich steinalt und nicht erst dreiundzwanzig." Sie wickelte das Kind in ihren Armen etwas fester in die Stofffetzen. Es war hier wirklich kalt. Wie weit sie wohl vom Ausgang entfernt waren? Natal hörte den Wind pfeifen und spürte einen leichten Hauch auf dem Gesicht. Das Feuer flackerte. Wo sie wohl das Holz her hatten? Wo Sha'abre hin war? Aber er musste sich eingestehen, dass es ihn mehr wunderte, dass es ihm nicht seltsam vor kam, dass sie einfach fort war.
"Deine Begabungen. Jedes 'blue Kid' besitzt sie, aber sie müssen trainiert werden, damit du sie alle verwenden kannst. Deshalb gibt es die Akademie..."
Natal biss in das Fleisch und verzog das Gesicht. Es war sehr salzig. "Das ist mir egal. Ich will hier raus, aber ich kann mich nicht einloggen."
"Ausloggen?", fragte die Frau überrascht, nur um plötzlich schallend zu lachen. "Ausloggen! Es ist lange her, dass ich so etwas Witziges gehört habe!" Ihr Lachen wurde von den Wänden zurück geworfen und Natal war kurz davor, sich die Ohren zu zuhalten, so laut schallte es. Aber es dauerte nicht lange, bis sich Senna beruhigt hatte. "Verstehe ich richtig, dass du denkst, deine Kräfte wären außer Kontrolle geraten und dass alles sei ein dämliches Spiel?"
Er verstand nicht, was daran so witzig war. "Ja!", antwortete er leicht beleidigt.
"Es tut mir leid, Junge. Das hier ist kein Spiel, dies hier die Realität. Aber es würde wohl zu lange dauern, es dir zu erklären. Ich werde es dir wohl zeigen müssen." Sie beugte sich zu ihm herüber und legte ihm zwei Finger auf die Stirn. Im nächsten Augenblick durchzuckte Natal das Entsetzen. Er sah Bilder in seinem Kopf... Leid, Blut, Tod...
"Nein... nein, hör auf... bitte... dass kann nicht sein... bitte... hör auf..." Er brach in Tränen aus. Das Zittern setzte so schlagartig und heftig ein, dass er es selbst gar nicht mehr fühlte. "Nein... dass... stimmt nicht..." Das Gefühl, durchzudrehen erfüllte seinen Körper. Hysterie ergriff ihn und er sprang auf. "Ihr spinnt doch alle! Was ist das nur für ein Spiel! Lasst mich hier raus! Ich will nicht..." Ein Schlag ins Gesicht lies ihn nach hinten kippen und verstummen. Blutgeschmack füllte seinen Mund aus.
"Hör auf, hier rumzuschreien!", erhob der Mann die Stimme. "Fühlte sich das vielleicht wie ein Spiel an? Fühlst du deinen Körper außerhalb? Nein? Dann wird es wohl Realität sein, oder?!"
Natal wischte sich das Blut von der Lippe. Er zitterte immer noch, aber sein Kopf dröhnte so sehr, dass er nicht mehr klar denken konnte. Es rannen immer noch Tränen von seinen Wangen.
"Sill, lass ihn. Es muss nicht leicht für ihn sein. Komm her, Natal, dass war doch dein Name?"
Er bewegte sich keinen Millimeter weiter. Einsetzt starrte er die Beiden an. Dass was er gesehen hatte... das konnte unmöglich die Realität sein! Nein, dass übertraf seinen Verstand! Aber es hatte alles so real gewirkt... Bisher hatte noch nie so ein echtes Spiel erlebt. Aber, nein! Es war unmöglich, dass all das existierte, was sie ihm gezeigt hatte! Vielleicht stimmte es, dass sie als 'blue Kid' außergewöhnliche Fähigkeiten besaßen, er hatte es schließlich oft genug erlebt, aber nein! Das andere DURFTE nicht wirklich sein! Lieber würde er seinen Verstand verlieren! Aber vielleicht hatte er ihn auch bereits verloren...
Noch mehr Tränen strömten über sein Gesicht.
"Komm her, Natal. Ich werde dir nichts tun. Leg dich hier hin und schlafe eine Weile. Du musst wissen, wir haben lange auf dich gewartet und fast schon nicht mehr geglaubt, dass du auftauchst. Wer hätte gedacht, dass wir dir gerade hier begegnen. Und ich hätte nicht damit gerechnet, dass du ein kleiner Junge bist. Sill war etwas hart zu dir. Komm, leg dich hin. Wir werden sehen, wie morgen der Tag aussieht. Vorerst kannst du gerne glauben, dass das alles bloß ein Spiel ist. Aber es ist wichtig, dass du eines Tages die Wahrheit erkennst und lernst, deine Fähigkeiten zu gebrauchen. Doch dass alles kann warten. Komm, beruhige dich und lege dich etwas schlafen." Die Frau, Senna, hatte dem großen Mann, den sie Sill genannt hatte, das Kind gegeben und kniete nun vor dem Jungen. Zärtlich strich sie ihm über die Haare. Ihr ganzes Wesen schien sich plötzlich verändert zu haben. Sie war nicht mehr die kalte, unnahbare Frau, die er eben noch gesehen hatte, jetzt war sie eine liebevolle Mutter. "Komm, leg dich zu mir und dem kleinen Ilav. Morgen sieht alles schon anders aus." Sie wischte ihm das Blut von der Lippe, nahm ihn an der Hand und zog ihn zu dem erlöschenden Feuer. "Leider werden wir hier nicht lange ruhen können. Das Holz, das wir hatten, ist aufgebraucht und es ist gefährlich, in der Kälte zu schlafen. Aber du solltest es wenigstens versuchen." Sanft drückte sie ihn auf den Boden, nahm das Kind, welches in einem dicken Mantel eingewickelt war, vom Mann entgegen und legte sich neben dem Jungen. "Schlaf jetzt."
Sie strich ihm abermals über den Schopf und ihm fielen die Augen zu.
Magie..., war sein letzter Gedanke.

3​


Alles ein Traum, dachte Natal, als er langsam erwachte und fragte sich, wieso es so kalt in seinem Zimmer war. Langsam öffnete er seine Augen und sah das Grau der Felswände. Nein, kein Traum. Die Erkenntnis war ihm so gewiss, dass sie ihn nicht einmal einsetzte. Irgendwo hatte er es beim Aufwachen bereits gewusst.
Er blickte sich um. Der Tunnel machte eine Biegung und dort hinter fiel irgendwo strahlender Sonnenschein hinein.
Zitternd stand der Junge auf. Jetzt schlotterte er vor Kälte. Irgendwer hatte ihm in der Nacht den Pullover ausgezogen. Schnell zog er ihn sich über, bevor er langsam gen Tunnelbiegung ging um zu sehen, wo der Mann und die Frau waren. Sie hatten ihn doch nicht etwa alleine gelassen? Natal blickte nach hinten. Nein, unmöglich, dort stand noch die schwere Tasche.
Als er um die Biegung herum war sah er etwa zweihundert Meter weiter die eiskalten blauen Haare der Frau. Sie war wirklich nicht sehr groß. Sie wehten im Wind. Hinter schien alles weiß zu sein. Den Mann konnte er nirgends entdecken. Mit vorsichtigen Schritten ging er zu ihr. Er war noch etwa zehn Meter von ihr Entfernt, als sie sich umdrehten. Der mütterliche Ausdruck hatte ihr Gesicht verlassen und war wieder von dem kalten, berechnenden Blick ersetzt worden.
"Du bist endlich wach. Dann können wir endlich los!" Wieder bewegte sie ihre Lippen nicht. Das machte Natal Angst. Der Gedanke, dass das alles ein sehr realistisches Spiel sei beruhigte ihn längst nicht mehr so sehr wie am Anfang.
"Los? Wo wollen wir hin?", fragte er, als sie an ihm vorbei ging.
"Fort von hier. Ich weiß nicht, wo du hin willst. Aber du wirst wohl oder übel mit uns kommen müssen, wenn du nicht alleine zurückbleiben willst. Das würde deinen Tod bedeuten." Mehr sagte sie ihm nicht und verschwand hinter der Biegung.
Natal trat aus dem Tunnel heraus. Schnee. Überall Schnee.
Noch nie in seinem Leben hatte er Schnee gesehen. Die kleinen Eiskristalle funkelten und glitzerten in dem Sonnenlicht. Dralu hatte ihm erzählt, dass das Land, aus dem Natals Mutter angeblich kam, unter dicken Eisschichten begraben war. Im Geschichtsunterricht hatte Natal gelernt, dass dieses Land früher eher wie heute Afrika gewesen war. Grün und saftig, mit vielen Bergen, im Sommer warm, im Herbst regnerisch und im Winter kalt. Dafür war es angeblich in dem Land, in dem Natal lebte sehr, sehr kalt gewesen. Heute fiel dort nicht einmal mehr Schnee.
Staunend betrachtete er die Landschaft. Es ist wunderschön, dachte er.
Natal entdeckte Sill neben dem Höhleneingang. Die Felswand fiel steil ab und war unter dicken Schnee begraben. Staunend sah der Junge auf. Der Hügel selbst ging nicht sehr hoch, nur etwa vier- bis fünfhundert Meter.
„Du siehst aus, als hättest du noch nie im Leben Schnee gesehen.“
Überrascht drehte sich Natal um. Der großgewachsene Mann stand hinter ihm. Er schüttelte den Kopf. „Hab ich auch noch nie. Bei mir gibt es keinen Schnee.“
Sill klopfte ihm auf die Schulter. „Ich hoffe, du wirst uns nicht aufhalten. Wir können es uns nicht leisten, auf dich Rücksicht zu nehmen. Und der Marsch wird hart.“
Wie hart der Marsch wurde, fand Natal kurze Zeit später heraus. Er versank fast bis zu den Hüften im Schnee und musste sich mühselig durchwühlen. Bald schon war er total durchgeschwitzt. Der Schnee sickerte durch seine Kleidung durch.
Verdammt, dachte er, so kann ich nicht mithalten.
Er schnaubte und die kalte Luft brannte in der aufgeheizten Lunge. Es faszinierte ihn, wie sein Atem sichtbar in der kalten Luft wurde und aufstieg. Er bemühte sich wirklich, mit den anderen mitzuhalten, aber dennoch wünschte er sich schnell eine Pause. Doch der Mann machte ihm so sehr Angst, dass er sich nicht traute, es laut auszusprechen.
Der Schweiß stach auf seinem Gesicht und Natal musste ihn mehr als einmal weg wischen, da er zu kleinen Eiskristallen erstarrte. Es fiel ihm schwer, die Augen aufzuhalten, da ihm die Wimpern zufroren und das grelle Weiß des Schnees in den Augen brannte.
Hoffentlich hab ich dieses Level bald geschafft und komme in eine wärme Gegend.
Natal hatte beschlossen, weiterhin daran zu glauben, dass dies alles lediglich ein mieses Spiel war. Es konnte unmöglich wirklich andere Welten und Skelette geben, die ihre Gedärme einsammelten. Vielleicht stimmte es ja, dass die blue Kids besondere Fähigkeiten hatten – er hatte es ja selbst erlebt – aber alles andere…nein, dass war einfach nicht möglich.
Der Schnee fand einen Weg in seinen Stiefel und er fluchte laut. Er hatte das Gefühl, seine Fußzehen würden einfrieren. Er überlegte, ob er die anderen darum bitten sollte, kurz anzuhalten, damit er den Schnee aus dem Stiefel holen konnte, entschied sich aber dagegen. Wenn er jetzt den Stiefel auszog, würde später nur noch mehr Kälte und Schnee hineingelangen würde.
Er war sich nicht sicher, wie lange sie unterwegs waren, bevor sie die erste Pause einlegten.
Sill hieß ihm, stehen zu bleiben und reichte ihm etwas von dem salzigen Fleisch, welches Natal widerwillig annahm und aß. Sie rasteten nicht lange. Senna erklärte ihm, dass sie nicht abkühlen durften.
„Woher wusstet ihr, dass ich käme? Du hast gestern gesagt, ihr hättet mich erwartet.“
Senna nickte. „Ja, wir haben jemanden erwartet. Aber wir wussten nicht einmal wen und wann wir ihm begegnen würden. Vielleicht bist du es auch gar nicht.“
„Woher wusstet ihr dass jemand kommt?“
„Das wirst du noch früh genug erfahren.“
Schweigend liefen sie weiter. Sill half ihm gelegentlich aus dem Schnee heraus, lies ihn aber dennoch alleine laufen. Natal wünschte sich, wie ein kleines Kind auf die Schultern genommen zu werden. Der Muskelkater, den er vom Vortag hatte, machte das Laufen alles andere als leichter.
Natal stellte fest, dass die Sonne nicht sehr hoch stieg. Sie war kaum über den Horizont, als sie auch wieder unterging. Er fragte sich, wie viel Stunden wohl vergangen waren. Müdigkeit überfiel ihn und er hatte immer mehr Schwierigkeiten damit, mit den anderen Schritt zu halten. Seine Beine wurden mit der Zeit taub und steif. Aber ihn fiel auf, dass es nicht nur ihm so ging. Auch Senna und Sill verlangsamten ihren Schritt. Das Kind in Sennas Armen schlief Großteils. Natal überlegte, ob es krank war. Einmal hatte er seinen röchelnden Atem gehört.
„Wo werden wir heute Nacht schlafen?“, fragte Natal.
„Wenn wir keine Höhle finden, werden wir so lange laufen müssen, bis wir einen sicheren Unterschlupf haben“, antwortete Sill.
Zweifelnd sah sich der Junge um. Vor ihnen lag eine ebene Fläche von Schnee, hinter ihnen der große Hügel, von dem sie aufgebrochen waren. Daran erkannte Natal, dass sie nicht sehr weit gekommen waren. Aber vielleicht täuschte er sich auch und sah etwas anderes. In dem vielen Weiß verlor man schnell die Orientierung und langsam zog Nebel auf. Senna forderte ihn dazu auf, ihre Hand zu nehmen.
„Der Nebel kann bedeuten, dass wir auf einen Übergang in den Welten gestoßen sind“, erklärte sie ihm. „Dann ist es wichtig, dass wir uns unter keinen Umständen verlieren. Ansonsten kann es passieren, dass wir alle in verschiedenen Welten landen.“
Sill packte den Jungen an der Schulter.
Es wurde immer dunkler und bald sah Natal nichts anderes als den Nebel. Dieser war mittlerweile so dick, dass er nicht mal mehr die Hand der Frau sah, welche er immer noch hielt. Hätte er sie nicht gespürt und ihre Schritte, welche im Schnee ein knirschendes Geräusch machten, gehört, hätte er gar nicht mehr gewusst, dass sie noch da war.
Er hielt inne. Was war das für ein Geräusch? Es klang wie Rauschen und Flügelschlagen. Was war so riesig, dass solch einen Lärm veranstalten konnte? Es war irgendwo über ihnen. Doch als er aufsah, sah er nichts als Dunkelheit und den Nebel, der in dem Mondlicht zu leuchten schien.
"Was ist das?", fragte er verunsichert.
"Wahrscheinlich Letoli, der Drache dieser Welt", erklang weiter vorne Sills Stimme.
"D...Drache?", stotterte der Junge.
"Ja. Letoli ist der Luftdrache und nennt Siegal, das Land aus Eis und Schnee, seine Heimat. Er beherrscht die Winde und Wetter. Im Sommer lässt er für zwei Monde den Schnee schmolzen, damit die wenigen Menschen, die hier hausen, ihre Ernten anbauen können. Aber am liebsten mag er es kalt, liegt wohl daran, dass es oben, im Himmel, nicht gerade sehr warm ist. Er ist jedoch der einzige Drache, der das Fliegen beherrscht."
"Bedeutet... bedeutet dass, es gibt noch mehr Drachen?" Natal zitterte nicht mehr nur as Kälte.
"Natürlich. Es gibt unzählige Drachen. Aber nur vier Elementardrachen und den großen Drachenhirsch." Das war alles, was Natal an diesem Abend darüber erfuhr. Das Flügelschlagen begleitete sie eine Weile und der Junge überlegte ängstlich, ob der Drache irgendwo über ihnen lauerte, nur darauf aus, sich einen von ihnen zu schnappen. Er war jederzeit bereit, los zu rennen, wenn sich ein Schatten über sie legen würde. Alle Müdigkeit und Trägheit war von ihm abgefallen, seine Sinne geschärft und einzig und allein auf das Geräusch der Flügel gerichtet. Er fragte sich, wie der Drache wohl aussähe. Auch als das Geräusch längst verklungen war, lauschte er angestrengt und so bekam er nur recht spät mit, dass sich die Luft verändert hatte. Es fiel ihm erst auf, als er vom Schnee in etwas Sumpfiges trat.
Die Luft war plötzlich schwül und warm und die Klamotten klebten unangenehm an seinem Körper. Aber nach wie vor war es dunkel und der Nebel verwehrte einem jegliche Sicht.
Was... wo...?
Es roch auch anders. Nicht mehr so nichts sagend. Aber er konnte den Geruch nicht richtig einordnen. Einerseits roch es frisch, anderseits modrig. Er hätte gerne gefragt, wo sie waren, aber er traute sich nicht. Jedes mal, wenn er etwas fragte, klang Sills Stimme von Mal zu Mal genervter.
Der Boden unter ihren Füßen klebte und war schlammig. Bei jedem Schritt machte er ein widerliches Schmatzgeräusch und Natal hatte das Gefühl, immer tiefer hin einzusinken. Bald schon erklang ein eigentümliches Summen und etwas setzte sich immer wieder auf sein Gesicht. Anfangs schlug er panisch danach, doch dann wurde ihm bewusst, dass es Insekten sein mussten. Vielleicht sogar welche, die nach einem stachen, wenn man nach ihnen schlug.
Hatte nicht einer von beiden gesagt gehabt, der Nebel könne ein Weltenwechsel bedeuten? War es möglich, dass sie sich plötzlich in einem Sumpf befanden? Was war, wenn sie immer tiefer in den Sumpf liefen? Er kannte Sümpfe nur aus dem Fernsehen, wusste aber um die Gefahr. Doch war es ohnehin nicht egal, wo lang sie liefen? Vielleicht steckten sie ja auch bereits mitten im Sumpf. Das wäre nicht besser als die Schneewüste, in der sie bereits keine Orientierung gehabt hatten. Aber bedeuteten Sümpfe nicht auch Wald? Und Wald bedeutet Früchte und Tiere, dass hieß, dass sie hier dem Hungertod weniger ausgesetzt wären. Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie während des ganzen Tages kein einziges Tier gesehen hatten. Nicht einmal die Spuren oder Andeutungen ihrer Anwesenheit.
Vorsichtig tasteten sie sich vorwärts. Er stieß auf etwas Hartes, Raues. Ein Baum? Ja, es musste einer sein. Er tastete sich weiter. Nun stieß er immer Öftester auf Bäume und der Schlamm unter seinen Füßen wurde immer weniger und härter, auch der Nebel verringerte sich. Bald schon standen sie auf festem Boden und erkannten die Umrisse ihrer Umgebung. Sie waren tatsächlich von unzählig vielen Bäumen umgeben und hinter ihnen lag ein riesiger Sumpf.
Schwacher Sonnenschein fiel durch das dichte Blätterdach der Bäume. Wie lange waren sie gelaufen? Lief der Tagesrhythmus hier anders, als in der Schneelandschaft oder waren sie die ganze Nacht durchgelaufen, jeder seinen Gedanken so hinterher hängend, dass sie es nicht bemerkten?
Ihm schmerzten die Füße und Waden, aber auch der Rücken tat ihm weh. Er lies Sennas Hand los und streifte seinen Pullover ab. Hier war es zu warm und schwül.
Aber was waren das für Bäume? Noch nie zuvor hatte er solch seltsame Gebilde gesehen. Obwohl kaum Sonnenlicht durch das dichte Blätterdach fiel, war es hier merkwürdig hell. Das Leuchten schien von den Bäumen zu kommen. Er sah die extrem kantige und rissige, Rinde, die grau wirkte, den kerzengeradenen Stamm, welcher bis weit über ihre Köpfe reichte und keine einzelnen Äste untenrum hatte und dann diese gigantischen Blätter, die fast Weiß wirkten. Vielleicht waren es auch Blüten? Nein, sie hatten eindeutig die Form von Blättern und die hinuntergefallenen, die er nun auf dem Boden sah, bestätigten es. Sie waren Schneeweiß und schienen schwach zu leuchten. Er sah noch einmal nach oben. Ja, die Blätter an den Bäumen leuchteten tatsächlich. Daher kam also dieses schummrige Licht. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass er als Kind Leuchtknete gehabt hatte, die sich in der Sonne auflud und dann in einem ähnlichen Licht geleuchtet hatte. Vielleicht war es hier so ähnlich, nur viel schöner.
Es fiel ihm schwer, den Blick davon zu lösen, doch Senna zog ihn weiter.
Beim Laufen blieb ihm nicht viel Zeit, die Pracht der Bäume zu bewundern. Er musste darauf achten, dass er nicht über die kleinen Steinchen und Äste stolperte.
Als sie sich einige hundert Meter von dem Sumpf entfernt hatten, erlaubte Sill ihnen, sich hinzulegen und zu ruhen. Natal war dankbar für diese Pause.
Der Boden war zwar hart und sandig, aber er schlief vor lauter Erschöpfung schnell ein.


4​


Auszug aus Natals Tagebuch…

Was waren dass nur für seltsamen Leute, zu denen Sha’abre mich gebracht hatte. Wir trafen sie in dem Tunnel, durch den wir so lange gelaufen waren. Und ich hatte von Anfang an Angst vor ihnen. Sie wirkten so kalt und unberechenbar. Die Frau zeigte mir merkwürdige Bilder, die mich in Angst und Schrecken versetzen. Ich habe so fürchterliche Angst vor ihnen.
Sha’abre ist gegangen. Ich weiß nicht, wohin oder weshalb. Sie war einfach fort, als ich mich umdrehte. Ohne einen Laut von sich zu geben. Wieso hat sie mich einfach im Stich gelassen? Sie war zwar auch unheimlich, aber nicht so furchteinflößend wie diese anderen beiden.
Diese Frau zeigte mir so abscheuliche Bilder. Und danach war sie so nett zu mir. Aber sie macht mir trotzdem Angst. Wie kann jemand einem so etwas zeigen und dann so nett sein? Mit ihr stimmt etwas nicht! Ich fürchte mich vor ihr fast mehr, als vor dem Mann. Ich glaube, der Mann kann mich nicht leiden. Er ist immer so genervt, wenn ich etwas frage und er sieht mich nicht an.
Ich weiß einfach nicht, was hier vor sich geht. Ich kann mich an so vieles nicht erinnern. Ich weiß, wie wir die Höhle verlassen haben und lange zeit durch Eis und Schnee liefen. Er war schön, der Schnee. Aber auch so kalt. So kalt und bedrohlich. Doch plötzlich war er weg. Ich glaube, mich an Nebel zu erinnern. Aber vielleicht habe ich das nur dazu geträumt, weil ich so erschöpft und geschockt war. Jedenfalls war da auf einmal dieser Wald. Seine Blätter leuchteten so merkwürdig, aber ohne sie hätten wir wahrscheinlich im Dunklen gestanden. Wie sind wir dorthin gekommen? Ich weiß es nicht, aber ich wüsste es so gern… Beabsichtigt dieses Spiel, dass man nicht alles weiß? Sind diese Szenen vielleicht am Ende wichtig? Auch dass weiß ich nicht und es ist mir egal. Ich möchte nicht mehr mitspielen. Ich will nachhause zu meinem Vater und meinen Freunden. Vielleicht wäre ja alles anders gekommen, wenn mir Papa erlaubt hätte, meinen FlyOn mit zu Kevin zu nehmen. Ganz sicher wäre dann alles anders! Dann wären wir Rennen gefahren und hätten nicht dieses dämliche Cyber-Spiel gezockt und meine Fähigkeit, mich versehentlich irgendwo anders einzuklinken, wäre wahrscheinlich gar nicht so ausgerückt. Jetzt sitze ich hier fest und weiß nicht, wie ich aus dem Spiel gelangen soll. Wie viel Zeit ist draußen schon vergangen? Oh Papa, hol mich aus diesem schrecklichen Spiel!
Zwischenspiel (I)

Erinnerungen. Sie fangen im jungen Kindesalter an und werden im Alter lückenhaft. Manchmal will man zu bestimmten Erinnerungen zurück, um sie noch einmal zu leben, ein anderes Mal will man sie vergessen und auslöschen. Ab und zu verändern wir die Erinnerungen sogar unbewusst. Aber ein Rest bleibt immer zurück. Sie sind da. Tief im Hinterkopf gespeichert. Fehlerhaft, aber vorhanden.
Erinnerungen. Sie sind gut und schlecht. Gut, weil sie einem Hoffnung geben können. Schlecht, weil sie einem Schmerz bringen und Versagen zeigen. Aber Erinnerungen sind wertvoll. Denn aus ihnen lernen wir. Unsere Seele wird daraus geboren, gibt uns Vergangenheit und Gewissheit, dass wir leben und gelebt haben. Erinnerung gibt uns Verlangen und Verachtung.
Doch was ist, wenn jegliche Erinnerungen fehlt? Wenn nicht einmal Erinnerung an irgendein ein Wort vorhanden ist? Nicht mal an die Erinnerung selbst? Ist dieses Wesen dann seelenlos? Bin ich seelenlos? Bin ich nichts? Was bin ich? Wer bin ich? Gehöre ich zu dieser Welt? Gibt es Wesen, die keine Erinnerung abspeichern können? Gehöre ich zu diesen Wesen?
All dies frage ich mich heute. Fast ein Jahrtausend später. Damals… damals war ich nicht einmal fähig, zu denken. Ich wusste nichts, ich tat nichts, ich fühlte nichts. Bis dieses Mädchen kam und mich mit nahm. Sie wusste fast alles und brachte es mir bei. Doch auch sie wusste eines nicht. Sie wusste nicht, wer ich war. Aber sie sagt, dass ich heute nicht mehr der bin, der ich war. War ich überhaupt jemand? Vielleicht bin ich aus dem Nichts aufgetaucht. Vielleicht hat mich das Nichts geschaffen.
Aber wer bin ich heute?
[/LEFT]​

Merkwürdige Spielgenossen
1

Es regnete. Sie spürte die Feuchtigkeit auf ihrem Gesicht und hörte es prasseln. Aber natürlich fanden nur wenige Topfen den Weg nach ganz unten. Das Dach aus Blättern buht den idealen Schutz. Trotzdem war der Boden unter ihr feucht und kalt.
Senna öffnete die Augen und erblickte den Jungen, auf den sie in der Höhle gestoßen waren. An einen dicken, wuchtigen Stamm gelehnt lag er und schnarchte vor sich hin. Sie konnte ihn nicht ausstehen. Er hielt sie unnötig auf. Und er weckte mütterliche Gefühle in ihr, die sie nicht haben wollte. Es war schlimm genug, dass Ilav, ihr kleiner Sohn, solche Gefühle in ihr hervor rief. Aber dass es dieser Wicht tat... Das konnte sie ihm nicht verzeihen. Niemals. Er war weder ihr Sohn oder stand ihr sonst irgendwie sonderlich nah. Sie kannte ihn nicht einmal wirklich und doch... Sie hasste ihn! Konnte einfach nicht anders, als ihn dafür zu hassen!
Senna richtete sich mit dem Kind in den Armen auf. In den letzten Tagen hatte sie es kaum losgelassen. Seit sie im Schneesturm auf ein altes Grabgemäuer gestoßen waren hatte der Kleine Fieber. Doch nach dem der Sturm sich gelegt hatte, konnten sie nicht allzu lange mit der Weiterreise warten und waren aufgebrochen, bevor es ihm besser ging. Jedoch war sie sich sicher, dass es ihm in den wärmenden Gefilden nun schnell besser gehen würde. Vielleicht gab es hier sogar einige Kräuter, die den Genesungsprozess beschleunigen würden. Zweifelnd sah sie sich um. Zwar strahlten die Blätter der Bäume ein merkwürdiges Licht aus, dennoch wuchs absolut nichts auf dem Boden außer diesen Bäumen. Nicht einmal ein kleiner, verirrter Büschel Gras. Plötzlich fragte sie sich, wovon sich wohl die Tiere ernährten. Vereinzelt hatte sie Bissspuren in den Baumstämmen gesehen. Aber nicht jedes Tier ernährte sich von Rinde. Das bedeutete, dass hier Großteils Fleischfresser hausen. Ach, was kümmerte es sie? Sie waren gut genug bewaffnet, um gegen eine Horde wilder Wölfe zu kämpfen, falls dies denn nötig wäre. Sill war zwar nicht der klügste, aber er war stark und brutal. Anfangs war das der Grund gewesen, weshalb sie sich mit ihm zusammenschloss, heute war Ilav ein viel besserer Grund, auch wenn sie mittlerweile viel mehr Antisympathie als Sympathie für ihn entwickelt hatte. Dennoch war er der Vater ihres Sohnes. Und ohnehin war sie auf ihn angewiesen und er auf sie. Sie sah sich gerne als klug und clever, aber schwach. Damit waren sie das perfekte Team. Sie war der Kopf, er die Muskelkraft. Sie brauchte ihm nur zu sagen, was zu tun war und er tat es ohne zu fragen. So wie sie es mochte. Früher hatte sie immer alles tun müssen, was man ihm sagte, ohne fragen zu dürfen, heute genoss sie diese Macht.
Nach einigem Umsehen erblickte Senna Sill. Er stand einige Meter weiter entfernt und betrachtete etwas. Mit dem Kind im Arm ging sie zu ihm hinüber.
"Was ist da?", fragte sie. Sie blickten einen Hang hinunter.
Ohne sich umzudrehen antwortete er ihr: "Dort unten ist etwas. Ich kann aber noch nicht genau sagen, was."
Angestrengt blickte Senna nach unten, sah jedoch nichts anderes als Bäume. In den Jahren, die sie mit Sill verbracht hatte, waren solche Situationen schon öfter aufgekommen. Seine Instinkte und vier Sinne schienen doppelt so gut zu sein, wie die eines normalen Menschen. Manchmal fragte sie sich, ob das daher kam, dass er in einer anderen Welt geboren wurde, als sie. Einer, die der Welt der Götter viel näher lag als die ihrer. Waren die Menschen, die den Göttern näher waren, auch mehr wie sie? War das möglich?
Sie weckten den Jungen und machten sich auf den Weg nach unten.

2
Desto näher sie kamen, desto deutlich trat ein Steingebilde hinter den Bäumen hervor. Langsam nahm dieses Gemäuer Konturen und Form an.
"Ist das eine Burg?", fragte sie überrascht. Sie konnte es nicht glauben. Wie konnte hier, inmitten dieser riesigen Bäume, eine Burg stehen? Und zu dem noch eine aus Stein, wo es doch nicht einmal Felsen in der Nähe zu geben schien?
Senna fiel auf, dass die Blätter über dem Schloss dunkel waren und es somit im Schatten lag. Sie blickte sich um. Soweit sie sehen konnte war kein Ende des Waldes in Sicht. Wieso sollte jemand so scheinbar fern von der Zivilisation leben?
Misstrauisch betrachtet sie die Burg. Der Stein war grau und wirkte verwittert, das Tor bestand aus robustem Holz. Irgendwie wirkte alles so verwahrlost, obwohl keinerlei Moos oder derartiges an den Wänden hing. Die eine Seite der Burg war vollkommen zerstört und lediglich eine Ruine. Aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Schutt oder den riesigen Baum, der der Grund für die Zerstörung war, weg zu schaffen. In den Fenstern brannte auch keinerlei Licht. Welches Zeitalter diese Welt wohl gleich kam? Zumindest besaß diese Burg keine Glasscheiben. Aber vielleicht wurde die warme Luft auch durch irgendeinen Zauber in der Burg gehalten. Wenn sie denn nicht so verlassen war, wie sie aussah.
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie, wie sich Natals Gesicht ängstlich verzog. So ein Angsthase.
Sill blieb vor dem Tor stehen und betrachtet es.
"Ich weiß nicht, ob es so eine gute Idee ist, hier zu bleiben", sprach Senna aus, was alle dachten. "Irgendwie wirkt das alles nicht vertrauenserweckend. Und wer weiß, ob es überhaupt noch..." Sie hielt inne und lauschte, als Sill überraschend die Hand hob und ihr zu schweigen bedeutete. Waren da etwa Schritte? Schritte, die durch die Gänge dieses alten Gemäuers hallten? War es überhaupt möglich, dass hier noch jemand hauste?
Ihre Frage wurde beantwortet, als sich das Tor öffnete. Fast erwartete Senna, dass es knarrte und quietschte und war beinahe darüber enttäuscht, als es nicht einen einzigen Mucks von sich gab.
Ängstlich verkroch sich Natal hinter ihnen. Wovor hatte er Angst? Vielleicht dass Graf Dracula sie begrüßte? Der Junge war verweichlicht.
Weniger überrascht stellte sie fest, dass ein ganz normaler Butler vor ihnen stand. Er reichte Sill in etwa bis zum Kinn, seine schwarzen Haare waren sauber geschnitten und ordentlich zurückgekämmt. Und auch seine Hautfarbe wirkte normal, wenn auch ein klein wenig zu hell. Senna konnte sich gut vorstellen, dass das von diesem merkwürdigen Licht der Blätter kam. Sie fragte sich, wie alt er wohl war. Der typische Pinguin-Smoking lies ihn bestimmt älter wirken als er war. Vielleicht Mitte dreißig? Allerhöchstens ende.
Er lächelte die drei freundlich an, wobei seine grünen Augen funkelten. "Ich heiße Euch herzlich Willkommen. Welches Anliegen darf ich Madame Zoe für Euren Besuch ausrichten?"
Senna trat hervor. Für gewöhnlich übernahm sie das Sprechen, da sie sich den Wortlaut besser anpassen konnte als Sill. "Richtet Eurer Herrin aus, dass wir Wanderer sind, die sich hier verlaufen haben. Wir haben seit Tagen nichts Anständiges gegessen und würden gerne Ihre Gastfreundschaft entgegen nehmen."
Argwöhnisch betrachtet der Butler die dicken Winterklamotten, die Sill auf den Rucksack gebunden hatte, da nicht alles hinein passte, nickte jedoch.
"Dann bitte ich Euch, in der Halle zu warten." Er lies sie eintreten.
Die Halle war dunkel und sperrte das tropische Klima draußen aus. Eigentlich war die Halle eher ein Gang, der in mehrere Türen mündete. Das einzige Licht hier war das, was von draußen hinein fiel, dadurch warfen die Wände unheimliche Schatten und es wirkte mehr als schaurig.
Der Butler verbeugte sich vor ihnen und entschuldigte sich kurz, er würde seine Herrin holen gehen, daraufhin verschwand er.
Senna blickte sich genauer um. Obwohl alles rustikal und unheimlich wirkte, war alles rein und sauber. Sie konnte nicht ein einziges Spinnennetz oder ein Staubkorn entdecken. Auch sonst roch es nicht wirklich nach altem Gemäuer. Nein, es roch sogar nach Putzmittel. Überrascht blickte sie auf den Holzboden. Er war derart gepflegt, dass sie eine verzerrte Spiegelung warf. Und doch machte es die Burg für sie nicht freundlicher, nein, sogar eher unsympathischer. Wieso wurde diese Burg von Innen derart gepflegt, als erwarte man Gäste und lies das Äußere dann so verfallen? Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das überhaupt wissen wollte. Die Wände waren schmucklos und kahl. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Stein ein anderer war, als draußen. Er war irgendwie... sie konnte nicht benennen, was anders war. Er war einfach anders. Mehr konnte sie nicht sagen. Sie lies die Fingerspitzen darüber gleiten. Der Stein war glatt und kalt, nicht ein kleines Steinchen blieb an ihren Fingern hängen.
Auch die anderen betrachteten die Halle intensiv. Der Junge etwas schüchterner und zurückhaltender. Seine ängstliche Art ging Senna tierisch auf die Nerven, da sie auch gleichzeitig die mütterlichen Gefühle in ihr weckten.
Die Schritte des Butlers hallten in der Halle wieder, als er angelaufen kam.
„Meine Herrin erwartet euch im Speisesaal. Sie entschuldigt sich, da sie gerade am Speisen ist, wird aber dafür Sorge tragen, dass auch Ihr etwas von den leckeren Speisen aufgetragen bekommt."
Still folgten sie dem Butler. Er wies sie durch eine der Türen und geleitete sie dann weiter in das Burginnere. Die Gänge waren schmal und so eng gebraut, dass zwei Leute nicht nebeneinander gehen konnten, weshalb sie im Gänsemarsch liefen. Aber sonst unterschied die Gänge nichts von der Eingangshalle. Die Wände waren genauso schmucklos und das einzige Licht war jenes, welches durch die Fenster hineingeworfen war. In allem wirkten die Gänge trotz ihrer Sauberkeit düster und waren in der Nacht bestimmt furchteinflößend. Sie durchquerten unzählige Türen, bogen mal hier ab und mal dort ab, trafen aber auf keine einzige Treppe und doch stellte Senna überrascht fest, dass sie sich im ersten Stock der Burg befanden, als sie vor einer großen Tür stehen blieben.
Der Butler zog diese auf und hieß sie mit einer Handbewegung einzutreten.
Sie traten in einen Raum mit einer riesigen Tafel. Senna sah, wie es ihm Gesicht des Jungen zuckte und er ihnen nur zögernd folgte.
Die Tafel war mit großen, lavendelfarbenen Kerzen geschmückt, die auf Kerzenhalter gespießt waren, welche wie Miniatursäbel aussahen. Überall waren rosafarbene Blütenblätter verstreut, die aussahen wie Rosen und dennoch einen würzigen Duft im Saal verbreiteten. Die Wände waren mit einem edlen Stoff behangen, so dass man den kalten Stein darunter nicht mehr sah. An der großen Tafel hatten bestimmt über zwanzig Leute Platz, aber es saß nur eine einzige Frau in der Mitte.
Als die vier eintraten erhob sich diese Frau und bedeutete ihnen, näher zu kommen. Senna sah all die leckeren Speisen auf der Tafel. Und sie sah, dass jemand für sie gedeckt hatte.
"Ich heiße Euch willkommen. Mein Name ist Madame Zoe, aber das habt Ihr bestimmt bereits von meinem ergebenem Butler Sven erfahren."
Die Frau war mindestens Anfang der vierziger, vielleicht sogar etwas älter und trug ihr dunkelbraunes Haar schulterlang. Sie hatte einen grellroten Lippenstift auf ihre Lippen aufgetragen, welche sich nun zu einem freundlichen Lächeln verzogen. "Bitte, setzt Euch und speist mit mir zu Morgen."
Zögernd setzten sie sich. Aber als sich Senna setzen wollte, kam Madame Zoe auf sie zu. "Ihr habt ein Kind.“
"Ja", antwortet Senna freundlich. "Sein Name ist Ilav."
"Ein sehr schöner Name", lobte sie Frau. Ihre Augen hatten einen seltsamen Glanz angenommen."Dürfte ich... ich will nicht unhöflich erscheinen. Aber es ist so lange her, dass ich ein Kind in den Händen hielt. Meine eigenen sind schon lange fort. Wenn Ihr es erlauben würdet... Es wäre mir eine große Freude."
Am liebsten hätte Senna das Kind noch fester an sich gedrückt und wäre zurück gewichen. Aber die höfliche Sitte lies sie nicken und das Kind übergeben. "Seit bitte vorsichtig. Er ist krank." Als ihr die Last von den Armen genommen wurde, merkte sie, wie verkrampft ihre Arme waren. Seit Tagen hatte sie das Kind nicht mehr losgelassen. Weder beim Schlafen, noch beim Essen oder wenn sie mal musste. So fühlten sich ihre Arme jetzt merkwürdig leer an und verlangten nach der Wärme des Kindes.
Madame Zoe nickte mitfühlend. "Ich sehe es. Wie alt ist Euer Sohn? Etwas weniger als ein Jahr, nicht wahr? Dann hat er vielleicht das Kinderfieber. Viele Kinder trifft es in diesem Alter."
Senna versuchte ihr freundliches Lächeln aufzusetzen, welches sie besaß. Sie konnte der Dame unmöglich sagen, dass sie sich vor kurzen noch Wochenlang in einer Schneewüste aufgehalten hatten.
"Das Fieber rafft jährlich so viele Kinder im Dorf nieder. Nicht einmal die Hälfte überlebt es. Sven!" Der Butler erschien sofort in der Tür. "Lass nach dem alten Weißen in der Küche rufen! Er soll sich das Kind ansehen! Und bring die Wiege meiner Tochter!" Mit diesen Worten übergab sie Ilav wieder seiner Mutter, die ihn erleichtert entgegen nahm. Sie wusste nicht weshalb, aber als sie das Kind in den Armen der anderen Frau gesehen hatte, hatte sie die ganze Zeit das Gefühl gehabt, diese wolle ihr das Kind wegnehmen. Und sie hatte gesehen, wie Sill sie angesehen hatte. Misstrauisch, jederzeit bereit, aufzuspringen und ihr das Kind aus den Armen zu reisen.
Sie setzte sich mit dem Kind im Arm auf einer der hölzernen Stühle, auf den ein rotes Kissen lag. Senna fragte sich, ob die Stühle wohl auf dem Holz der Bäume gemacht waren. Es hatte einen merkwürdigen Schimmer, den sie nicht richtig deuten konnte.
"Greift zu! Ich bin froh, Euch als meine Gäste willkommen zu heißen! Sonst muss ich immer alleine speisen und dass wird mit der Zeit doch recht trostlos, auch wenn mir Sven ab und zu Gesellschaft leistet. Ihr müsst wissen, dass sich selten jemand hier her verirrt. Jaja, kaum vorstellbar." Die Frau kicherte und obwohl es warm und herzlich klang, fühlte sich Senna an eine alte, böse Hexe erinnert. "Ich wohne wohl zu weit im Walde. Aber nun sagt, was hat Euch hierher verschlagen." Sie blickte Sill mit ihren leuchtend braunen Augen an, der gerade nach einem Brötchen und Stück Käse griff.
Senna betrachtete die Speisen etwas genauer. Es war so viel. Sämtliche Arten von Käse und Wurst lagen vor ihr, verschiedene Sorten an Brötchen und offensichtlich selbst gebackenem Brot, Weintrauben, Tomaten, Gürkchen und Obst, welches sie noch nie gesehen hatte, aber bei dem ihr das Wasser im Mund zusammenfloss, wenn sie es nur ansah. Sogar Fisch hatte man aufgedeckt. Und dies alles nur für eine einzige Person. Was geschah mit den Resten? Wurden sie einfach weggeworfen oder teilten es die Dienstboten unter sich auf?
"Wir kommen nicht von hier...", erklärte Sill zögernd und blickte hilfesuchend zu seiner Gefährtin herüber, die das Wort nur zu gern übernahm.
"Wir, mein Mann, mein Sohn", sie deutete auf Natal, der die Stirn in Falten legte, aber nichts sagte, "und ich sind Barden." Sie konnte nur hoffen, dass es in dieser Welt so etwas gab. Immerhin hatte sie eine schöne Stimme und Sill konnte etwas Harfe spielen, wenn man sie dazu aufforderte. "Aber wir wurden auf unserer Reise durch das Land überfallen und das einzige, was uns blieb sind diese Mäntel." Sie deutete auf den schweren Rucksack, den Sill hinter sich an die Wand gelehnt hatte. "Und zu allem Übel sind wir im Dunklen vom Weg abgekommen und haben uns verlaufen. Wir können wohl von Glück reden, dass Ihr Euren Wohnsitz hier habt."
Madame Zoe lächelte. "Wohnsitz. Ihr müsst wirklich von weitem kommen. Ihr benutzt so fremde Worte und habt Kleidung, die ich noch nie gesehen habe, obwohl ich doch in meinen jungen Jahren so viel gereist bin. Aber jetzt... jetzt wo das Alter auch mich ergreift komme ich selten ins Dorf und ich weiß gar nicht mehr, was die jungen, modernen Madames tragen." Sie seufzte und legte etwas Fisch auf ihr Brot. "Aber ich sehe, in Eurer Familie liegt magisches Blut. Das blaue Haar, einer meiner Dienstmädchen hat mit erzählt, dass im Dorf einige Kinder mit dieser merkwürdigen Haarfarbe geborgen wurden und in diesen magische Fähigkeiten innewohnen. Früher, da gab es hier viele Hexen, aber ich habe bisher keine gesehen, die blaues Haar trug."
Langsam nickte Senna. Wie viel wusste diese Frau wirklich über die Haarfarbe? "Ja. Es ist ein genetischer Fehler. Meinem Sohn und mir wohnen ebenfalls magische Kräfte inne, jedoch keine sehr starken." Kein Wort!, sandte sie Natal gedanklich. Überlass das Reden mir! Rede nur, wenn sie dich direkt anspricht!
Es klopfte und man brachte die Wiege für Ilav. Das Dienstmädchen, welches diese brachte, richtete Madame Zoe aus, dass der Weiße aus der Küche vor dem Speisesaal warten würde, bis sie ihr Mahl zu ende gebracht hatten. Mit freundlichen Worten dankte sie ihr.
Madame Zoe warf Natal einen Blick zu, der gerade sein Brötchen mit Butter bestrich. Das Besteck war aus reinstem Silber. "Wie alt bist du, mein Junge?"
"Z... Zwölf."
"Oh, schon fast ein richtiger Mann, so möchtest du auch bestimmt behandelt werden. Ich erinnere mich zu gut, wie meine Söhne in deinem Alter waren. Aber sie haben trotzdem haben sie immer noch gerne etwas Süßes zum Frühstück zu sich genommen. Gwen, bringt dem jungen Herren doch etwas von der Marmelade. Ich bin mir sicher, dass sie ihm schmecken wird."
Das Dienstmädchen, welches die Wiege hineingebracht hatte und diese noch richtete, nickte stumm und eilte davon.
Senna legte das Kind in die Wiege, behielt es aber im Auge. Sie war froh, dass man das Bettchen neben die aufgestellt hatte. Dann, endlich, konnte sie selbst zugreifen. Sie griff nach einer neongrünen Frucht mit Stacheln und begann diese zu schälen. Sie schmeckte leicht säuerlich und doch erinnerte sie es sie etwas an eine Banane, obwohl es viel saftiger und süßer war.
Das Dienstmädchen von eben tauchte wieder auf. Sie hatte ihr blondes, langes Haar streng zurückgesteckt, was sie viel älter wirken lies. Sie reichte Natal ein Tablett voll Marmeladengläser.
"Bedanke dich dafür!"
Natal lächelte höflich und bedankte sich.
Jedes Glas war mit Ediketten versehen, auf denen die Sorte stand. Doch Senna sah an der verwirrten Mine, dass Natal die Schriftzeichen nicht entziffern konnte. Wenn er sich weiterhin so dämlich anstellte, würde ihre Gastgeberin bestimmt misstrauisch werden. Senna wusste nichts über den Bildungsstand, aber wenn es hier Barden gab, dann wurde es von ihnen bestimmt auch von ihnen verlangt, dass sie die Schriftzeichen lesen konnten. Mit Erleichterung sah sie, dass Natal beschloss, einfach eines der Gläser zu nehmen, dass wohl Erdbeermarmelade am ähnlichsten sah und es sich auf das Brötchen strich. "Wow! Geil! Das schmeckt ja krass!"
Madame Zoe sah ihn verwundert an. "Was für eine interessante Wortwahl."
Verdammter, kleiner Scheißer!, dachte Senna ärgerlich.
"Verzeiht meinem Sohn diese ungebührliche Redensart."
"Ach was, dass zeigt mir lediglich, wie lange ich schon nicht mehr unter Menschen gekommen bin. Und es freut mich, dass Eurem Sohn meine Marmelade schmeckt."
Natal lächelte verlegen. Senna fiel auf, dass alle Ängstlichkeit von ihm abgefallen war. Hoffentlich wurde er dadurch nicht unvorsichtig. "Ja, sie schmeckt mir wirklich gut, Madame Zoe."
Nachdem alle zu ende gefrühstückt hatten, rief Madame Zoe nach dem Dienstmädchen, damit diese den alten Weißen aus der Küche hineinbat.
Ein blonder Mann trat hinein. Er hatte eine schmutzige Schürze an, die bestimmt einmal weiß war und eine graue Hose und ein ebenfalls graues Hemd. Der Mann war alles andere als groß, so dass Natal ihn bis zum Kinn reichte. Aus dem kleinen Gesicht sahen sie graue, spitzbübische Augen an, die Senna unangenehm an Ratten erinnerte. Aber sie war überrascht, dass der Mann nicht viel älter als sie war. Hatte man ihn nicht den alten Weißen genannt? War es da nicht anzunehmen, dass er alt war?
Der Bursche nahm die Hand seiner Herrin und küsste sie. "Ihr werdet mit jedem Tag schöner, Madame Zoe. Aber wer ist Euer hübscher Besuch?" Er sah zu der kleinen Gruppe hinüber und Senna entging nicht, wie genau er sie und ihre Rundungen musterte.
"Dass sind Madame Finik und ihre kleine Familie. Deshalb habe ich dich rufen lassen, alter Weißer. Der Sohn von Madame Finik ist schwer krank und du musst etwas für ihn tun. Ich befürchte, er hat das Fieber."
Der alte Weiße betrachtete Natal etwas genauer. "Verzeiht, Madame, aber der Junge erscheint mir kern gesund."
"Oh, nicht doch. Nicht er. Komm hier rüber. Hier ruht der kleine Ilav."
Die Wiege wurde von der riesigen Tafel komplett verdeckt, doch als der alte Weiße einmal drum herum gelaufen war, konnte auch er hineinsehen. Senna gefiel es nicht, wie er ihren Sohn anblickte. Am liebsten hätte sie Ihm Ilav hysterisch aus den Armen herausgerissen, als er ihn aufnahm.
"Ich sehe es. Aber es ist nicht das Fieber, es ist keine Krankheit, die man nur im kältesten Winter bekommt. Wo kommt Ihr und Eure Familie her, Madame Finik?"
"Von weither, wir sind Barden", antwortete Senna. "In unserem Land ist es beständig kalt."
Der alte Weiße nickte. "Das habe ich mir schon gedacht. Euer Mann hat schwere Erfrierungen an den Fingern."
Senna war darüber überrascht, dass es ihm nicht entgangen war, dass Sills Finger steif und taub waren, obwohl er momentan gar nicht damit arbeitete. "Das muss euch beim Arbeiten sehr behindern." Der alte Weiße legte das Kind zurück ins Bettchen. "Ich werde Eurem Kind eine starke Medizin brauen und für Euren Gemahl ein wohltuendes Kräuterbad einlassen und ihm eine Salbe geben lassen, die die Erfrierungen mildern sollte. Bitte wartet bis zum Abend mit der Medizin, sie braucht ihre Zeit, um gut zu werden." Mit diesen Worten rauschte der alte Weiße hinaus.
Madame Zoe lächelte freundlich. "Ich bin mir sicher, dass nicht nur Euer Gemahl über ein heißes Bad glücklich sein wird. Verzeiht mir, aber Ihr seht alle so aus, als wäret Ihr müde und erschöpft und wäret über ein Bad erleichtert. Ihr könnt natürlich Euer kleines Kind mitnehmen. Ich bin sicher, dass es ihm gut tun wird."
"Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft, Madame Zoe. Ihr seid zu gut zu uns." Senna nahm Ilav aus dem kleinen Bettchen. Er schlief nach wie vor. Seit er krank geworden war, war er nur selten wirklich wach gewesen. Oft nur dann, wenn er in die Windeln gemacht hatte. Die Haut des Jungen schien zu glühen und war nass geschwitzt. Sie hatten hier nicht sehr lange verweilen wollen, aber wahrscheinlich tat ihm ein warmes Bad wirklich gut und vielleicht sollten sie hier solange bleiben, bis er auskuriert war. Wenn Madame Zoe denn wollte.
Drei Dienstmädchen wurden damit beauftragt, den dreien zu zeigen, wo sich die Bäder befanden. Wasser sei längst eingelassen.
Ein schwarzhaariges, junges Ding brachte Senna und Ilav in ein großes Bad, welches mit dunklem Holz verziert war. Es roch angenehm nach Blüten und die Luft war feucht und warm. Unangenehm fiel Senna auf, dass es hier im Ernstfall keinerlei Fluchtmöglichkeiten gab. Nicht einmal in Fenster war vorhanden. Sie fühlte sich ein wenig wie eingesperrt, obwohl das Bad bestimmt für zehn Leute Platz bot. Die Wanne selbst erinnerte sie eher an ein kleines Schwimmbecken.
Überrascht stellte sie fest, dass an der Decke diese seltsamen Blätter befestigt waren und den Raum hell erstrahlen ließen. Das Licht war warm und erinnerte sie an Sonnenschein. Von Neuem fragte sie sich, worin wohl das Geheimnis der Blätter lagen. Zuerst hatte sie angenommen, dass sie sich vom Sonnenlicht aufluden und diese Strahlung wieder abgaben. Aber dies hier zeigte ihr eindeutig das Gegenteil. Sollte sie später Madame Zoe danach fragen oder würde sie letzten Ends eine komische Reaktion bekommen, weil die Bäume in dieser Welt überall so waren?
Senna legte ihren Sohn auf einen Stuhl, der vor einer alten Frisierkommode aus hellem Holz stand und sich damit vom restlichen Bad abhob. Langsam entkleidet sie sich und anschließend auch ihren Sohn.
Dampf stieg von dem warmen Wasser auf, in dem dieselben Blüten schwammen, wie auf der großen Tafel im Speisesaal gelegen hatte. Senna erinnerte dass alles an ihre klein Mädchenträume einer Prinzessin. Ihrer Meinung nach war dies alles zu übertrieben, obwohl ihr klar war, dass man dies alles wahrscheinlich nur so hergerichtet hatte, damit sie sich wohlfühlte. Und jede andere Frau hätte das bestimmt auch getan. Aber sie lies diese einladende Atmosphäre misstrauisch stimmen.
Sie stieg mit dem Kind in der Brust in das warme Wasser. Es war angenehm warm und umschmeichelte ihre Haut. Langsam lies sich Senna in das Wasser gleiten. Als Ilav das erste Wasser berührte zuckte er mit seinen Beinchen und seine Lieder zitterten. Langsam öffnete er die Augen und begann zu wimmern.
"Pscht, ist ja alles gut, mein Kleiner. Das wird dir nur gut tun. Danach wirst du dich bestimmt besser fühlen, Mami verspricht es dir."
Der kleine Junge klammerte sich mit seinen winzigen Händen an die Brust seiner Mutter. Angst stand ihm in den Augen und er wollte mit dem Weinen nicht aufhören. Senna schuckelte ihn im Wasser hin und her. "Siehst du, es tut dir nichts. Gefällt es dir nicht? Ist dir das Wasser zu warm?" Sie drehte den schwarzen Hahn auf und lies etwas kühleres Wasser nach. "So. Ist es so besser, mein kleiner Schatz? Mami ist ja bei dir und ich werde nicht zulassen, dass man dir etwas tut. Ganz doll versprochen. Schau mal, was ich hier habe." Ihre Gastgeberin hatte vorausschauend gedacht und einige geschnitzte Figuren an den Beckenrand gestellt. Senna griff sich eine die gelbbemalt war und Ähnlichkeit mit einer Ente hatten und lies diese über das Wasser zu ihrem Sohn gleiten. Dabei sprach sie weiterhin zu ihrem Sohn und verstellte die Stimme. "Quak, quak. Hallo, großer Junge, ich bin Quako, die Ente und wer bist du? Aber wieso weinst du denn? Ich dachte, große Jungs weinen nicht. Quak, quak."
Der Junge strich sich die Tränen aus seinen Äugelein. Ein sachtes Lächeln umspielte nun seine Lippen und er griff mit seinen kleinen Patschhändchen nach der geschnitzten Figur. Sein leises Glucksen und Lachen, als sie mit ihm spielte, war Musik für Sennas Ohren. Sie hatte ihn lange nicht mehr so munter gesehen. Sie fragte, welche Kräuter sich in dem Wasser und Dampf wohl befinden mochten, dass es ihrem Sohn so schnell besser ging. Zwar waren seine Wangen immer noch ungesund rötlich und seine Augen blickten fiebrig, aber er war gewillt zu spielen und das konnte nur bedeuten, dass es ihm besser ging. Sie würde später um etwas Brei für ihn bitten. Die einseitige Ernährung von Dörrfleisch und etwas trockenem Brot, was Senna oder Sill ihm hatten vorkauen müssen, hatte die Genesung bestimmt beeinträchtigt. Jetzt, wo er die Gelegenheit hatte, Vitamine zu sich zu nehmen, sollte sie ihm diese nicht verwehren. Er war ihr einziger Sohn und nach der schweren Geburt vor etwa zehn oder elf Monaten - sie konnte es nicht direkt sagen, da sie in der Schneewüste jegliches Zeitgefühl verloren hatte - würde es wohl auch ihr einziger bleiben. Sie wünschte sich, dass sie dem Jungen eine bessere Familie geben könnte, wo er sicher und geboren aufwuchs und nicht bei zwei Suchenden, die vor keiner Gefahr zurückschrecken konnten, bei denen er vielleicht niemals wirklich aufwachsen konnte. Er war für sein Alter viel zu klein und hager. Später würde sie Sill darum bitten, hier wenigstens eine Woche zu verweilen, um den Jungen Zeit zu geben, sich zu erholen. Sie würde es zwar nie zu geben, aber sie liebten ihren Sohn. Für dieses Gefühl schämte sie sich. Es zeigte, dass sie trotz der letzten fünf Jahre immer noch zu menschlichen Gefühlen fähig war.
Sie badeten solange, bis Ilavs Haut anfing schrumpelig zu werden. Als sie sich aus dem Wasser erhob, verzog Ilav von Neuem das Gesicht. Ein leises Wimmern drang aus seiner Kehle. "He, ist ja gut mein Großer. Ist dir kalt? Das ändern wir gleich!" Senna griff nach eines der flauschigen, gelben Handtücher, die direkt neben der Wanne lagen und wickelte ihren Sohn darin ein. Sachte rubbelte sie damit auch über das blonde, nasse Haar, wobei sie feststellte, dass dieses schon lange geschnitten gehörte. Aber das traf auch auf ihr Haar zu, welches unten an den Spitzen total verfilzt war. Auf der Frisierkommode hatte sie vor dem Baden eine Schere gesehen. Behutsam setzte sie ihren Jungen auf den ungewöhnlich warmen Boden und reichte ihm die Holzente, welche er gar nicht mehr loslassen wollte. Dann sah sie sich nach der Schere um. Da war sie!
Senna war nicht gerade gut im Haareschneiden, aber sie schaffte es trotzdem, weder sich, noch ihren Jungen dabei zu verletzten und überrascht stellte sie fest, dass es sogar ordentlich und gut aussah. "Jetzt bist du wieder Schön, mein Spatz." Sie gab dem Kind einen Kuss auf die Wange und er gluckste und brabbelte vor sich hin. Dann wandte er sich wieder seinem neuen Spielzeug zu. Senna richtete sich auf und wischte mit einem Handtuch das Beschlagene vom Spiegel, um sich darin betrachten zu können.
Ihr Busen war nicht mehr so fest, wie früher, aber dennoch wohlgeformt und dass sie vor etwa zehn oder elf Monaten ein Kind zur Welt gebracht hatte, sah man ihrem Bauch gar nicht mehr an. Stattdessen sah man die Andeutungen ihrer Rippen und die Arme wirkten knochig und hager. Die Wassertropfen glänzten auf ihrer leicht zimtfarbenen Haut. Sie mochte es, sich an der Luft trocknen zu lassen. Ihr Blick viel auf ihre eisblauen Haare. sie waren unten an den Spitzen vollkommen zerstört und verfilzt, dabei hatte sie als Kind ihre Haare gehegt und gepflegt und auch jetzt noch liebte sie sie.
Bevor sie es sich anders überlegen konnte, packte sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz und schnitt es so ab, dass es ihr nun leicht auf die Schultern fiel. Dann schnippelte sie sich noch etwas das Pony zurecht. Zufrieden betrachtete Senna sich. So konnte sie sich blicken lassen.
Jemand hatte frische Sachen für sie und den Jungen bereit gelegt. Das blassblaue Kleid, welches man ihr hingelegt hatte, war um den Busen herum etwas zu eng und sie hatte Probleme damit, den BH zu schnüren, da er lediglich aus einem ledernen Streifen bestand, der den Busen fest hielt und dann jeweils zwei Lederschnüre oben, welche über die Schultern gelegt wurden, und zwei unten, welche unter die Arme führten und er von hinten über Kreuz zusammengebunden wurde. Sie war froh darüber, dass sie keinen allzu großen Busen besaß. Aber sie war zu erleichtert über die sauberen Sachen, als dass sie sich hätte beschweren können. Ilav hingegen passte der stramplerähnliche Anzug perfekt. Kurz fragte sie sich, aus welchem Stoff ihre neue Kleidung wohl bestand, schob diesen Gedanken dann aber wieder beiseite.
Sie nahm Ilav auf den Arm und verlies das Bad.
Vor der Tür wartete bereits ein Dienstmädchen, dass sie zurück zu Madame Zoe brachte. Senna war froh darüber, dass sie nicht alleine durch die wirren, dunklen Gänge gehen musste. Außerdem hätte sie gar nicht gewusst, wo lang sie überhaupt musste. Die Wege waren so verschachtelt, dass sie schnell den Überblick verlor. Und wieder viel ihr auf, dass sie keine Treppe benutzte, sich aber dennoch im dritten Stock befand. Keiner der Gänge hatte auch nur irgendwie eine Anhebung angedeutet.
Vor der Tür wartete bereits ein Dienstmädchen, dass sie zurück zu Madame Zoe brachte. Senna war froh darüber, dass sie nicht alleine durch die wirren, dunklen Gänge gehen musste. Außerdem hätte sie gar nicht gewusst, wo lang sie überhaupt musste. Die Wege waren so verschachtelt, dass sie schnell den Überblick verlor. Und wieder viel ihr auf, dass sie keine Treppe benutzte, sich aber dennoch im dritten Stock befand. Keiner der Gänge hatte auch nur irgendwie eine Anhebung angedeutet. Danach würde sie später sicherlich fragen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auch dies normal für diese Welt war.
Mit dem Dienstmädchen betrat sie einen Raum, der kleiner war, als der Speisesaal oder das Bad, dadurch aber viel einladender wirkte. In der Mitte des Raumes stand ein neonpinkes Sofa und einen dazu passenden Sessel. Die Frage, wie man sich solche Möbel ins Zimmer stellen kann, erübrigte sich, als Madame Zoe sich erhob. Sie hatte sich umgezogen und trug nun ein grasgrünes Kleid und dazu überhaupt nicht passende, lilafarbene Ohrringe. Senna musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. Sie bekam allein beim Anblick des Sofas und der gelben Vorhänge Augenschmerzen.
An den Wänden waren Schränke und Vitrinen positioniert, die geschnitzte Verzierungen an den Seiten hatte. Bei näherem Hinsehen waren es Frösche und Delfine. Die Vitrinen waren mit komischen Figürchen geschmückt. Vor dem Sofa stand ein Steintisch. In diesem passte wirklich überhaupt nichts zusammen. Aber Madame Zoe schien sich hier wohl zu fühlen. Sie kam freudig auf Senna zu geeilt.
"Ich hoffe, Euch hat das Bad gut getan? Ihr seht schon viel frischer und besser aus. Oh und Euer kleiner Sohn ist aufgewacht! Darf ich ihn mal nehmen?" Ohne eine Antwort abzuwarten hatte Ilav schon die Arme gewechselt. Dieser schaute die fremde Frau neugierig an und grabschte mit seinen kleinen Händchen nach ihren Haaren. "Was für ein süßes Kind. Hach, das erinnert mich so sehr an die Zeit, in der meine kleinen noch so alt waren, dass man sie auf den Arm nehmen konnte, ohne dass sie sich einem entzogen." Der Glanz, den Senna in ihren Augen sah, gefiel ihr nicht, obwohl sie im Nachhinein nicht hätte sagen können, was es war. Vielleicht störte sie einfach nur diese Wärme darin. Diese Wärme, die sie selbst gerne vor anderen versteckte.
"Komm, setzt Euch! Euer Gemahl ist bereits da und erwartet Euch. Ich bin mir sicher, Euer anderer Sohn wird bald folgen."
"Ja, ganz sicher. Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft."
Auf dem Sofa entdeckte sie Sill, der ihr einen flehenden Blick zu warf. Wahrscheinlich war er sich alleine recht verloren vorgekommen. Seit sie zusammen reisten, hatten sie kaum Zeit ohneeinander verbracht und manchmal war er wirklich wie ein Riesenbaby. Sie lächelte ihn an. "Ich hoffe, du hast nicht zulange warten müssen, mein Geliebter."
Er antwortete mit einem Lächeln, welches ihr sagte, dass er definitiv zu lange mit der Frau allein gewesen war. Sie setzte sich neben ihn und tat auf liebende Ehefrau, in dem sie seine Hand in die ihre legte. Auch ihn hatte man frische Sachen gegeben und in dem feinen Hemd und der schwarzen Stoffhose sah er sogar recht vornehmen aus.
Madame Zoe hingegen nahm wieder in dem Sessel Platz und setzte sich Ilav auf den Schoss, um ihn auf und ab wippen zu lassen. Dabei lachte der kleine Junge freudig.
"Madame Zoe", begann Senna, "wenn mein Mann und mein großer Sohn nichts dagegen haben, würde ich Sie gerne darum bitten, dass wir bei Euch etwas länger bleiben. Wenn Ihr denn damit einverstanden seid. Es geht mit dabei vor allem um meinen Ilav. Ich möchte, dass er wieder fit ist, bevor wir weiterreißen und ich sehe es als" sie zögerte kurz, da sie sich unmöglich über die Gläubigkeit der Leute in dieser Welt sicher sein konnte, beschloss dann aber, es zu wagen "Wink des Himmels, dass wir auf Eure Burg gestoßen sind. Diese Gelegenheit möchte ich mir nicht nehmen lassen. Und schließlich geht es mir dabei nur um Ilavs Wohl."
Ein seltsames Lächeln legte sich auf Madame Zoes Lippen. "Ich verstehe. Sowas habe ich mir schon fast gedacht. Nun gut, aber... Ich bitte Euch um eine Gegenleistung. Einer meiner Küchenjungen ist kürzlich erkrankt und ich bin auf der Suche, nach einem Ersatz. Vielleicht wäre Euer Sohn bereit, für die Dauer seines Aufenthaltes aushilft?" Plötzlich verzog Ilav das Gesicht und begann lauthals zu weinen. Er brachte so etwas wie "Mama" heraus und daraufhin übergab Madame Zoe ihn seiner Mutter, die ihn nur zu gerne entgegen nahm. Genauso schnell, wie er angefangen hatte, zu schreien verstummte er auch wieder.
"Ich denke, Natal ist alt genug, dass er seine eigene Meinung dazu anbringen kann, wenn er hier ist." Senna konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken. Seit dem angenehmen Bad fühlte sie sich entspannt und schläfrig. Am liebsten hätte sie sich auf diesem scheußlichen, aber sehr bequemen Sofa wie eine Katze zusammengerollt, die Augen geschlossen und geschlafen.
"Oh. Ich vergaß! Ihr müsst seit Tagen nicht richtig geschlafen haben. Verzeiht mir bitte. Eliasa, bitte bring doch unsere Gäste zu ihren Gemächern! Ich habe zwei nebeneinander liegende Zimmer für Euch herrichten lassen. Schlaft noch eine Weile, gerne bis zum Abend. Ich schicke Euren Sohn dann gleich hinterher, wenn er kommen sollte. Vielleicht sollte jemand nach ihm sehen, nicht dass er im Wasser eingeschlafen ist."
"Sehr aufmerksam, Madame Zoe. Wir sind zu größten Dank verpflichtet." Senna deutete einen kleinen Knicks an und verabschiedete sich bis zum Nachmittag. Dann folgten Sill und sie dem Dienstmädchen, welches sie schon hier hergebracht hatte. Wieder durchquerten sie unzählige Gänge, um danach im zweiten Stock zu landen. Senna fand das langsam wirklich ermüdend. Sie wurden in einen großen Raum gebracht, in dessen Mitte ein Himmelbett stand. Erleichtert stellte sie fest, dass das Schlafzimmer geschmackvoller als der vorherige Raum eingerichtet war.
Das Dienstmädchen wies sie und Sill daraufhin, dass die eine Tür zu einer kleinen Toilette führte und die andere zu Natals Zimmer. Sie versprach ihnen, ihren Sohn vorher zu ihnen zu bringen, woraufhin Senna meinte, dass dies nicht nötig sei, da sie bis dahin bestimmt schon schliefen.
Senna stellte fest, dass dunkle Stoffe das Licht von draußen abhielten und dass der Raum wieder mit diesen seltsamen Blättern hell erleuchtet waren, aber sie hatte andere Gedanken als diese.
Bedächtig setzte sie sich mit Ilav im Arm auf das Bett. Es war viel zu weich, aber das machte momentan nichts. Sie war viel zu müde dafür. Und so ignorierte sie auch das bereitgelegte Nachthemd und das Kinderbettchen neben dem Elternbett.
Sill legte sich neben sie und breitete die graue Decke über sie aus.
"Eine Idee, wie dieses Licht auszumachen ist?", fragte er und blickte zu der Decke.
"Keine Ahnung. Ist auch egal." Senna kuschelte sich in die dicken, flauschigen Kissen.
"Hmmhm." Ihn dagegen schien das Licht mehr zu stören, denn er stand noch mal auf und ging zur Tür, um das Dienstmädchen zu rufen, die sofort herbei geeilt kam und ihm zeigte, wie man das Licht löschte und wieder an machte. Aber das bekam weder Ilav noch Senna mit, da beide längst in das Reich der Träume geglitten waren.



3

Senna schlug die Augen auf.
Ein gellender Schrei erfüllte den Raum. Ilav? Nein, dieser lag friedlich neben ihr und nuckelte an seinem Däumchen.
Es dauerte einige Sekunden, bis Senna darauf kam, dass der Schrei gar nicht aus ihrem Zimmer kam, sondern aus dem nebenan liegenden. Im Raum war es dunkel, aber sie spürte, dass Sill sich ebenfalls aufgerichtet hatte. War es mittlerweile Nacht geworden, dass kein Licht mehr durch die Lücken im dunklen, schwarzen Vorhang in den Raum fiel? Was war die Ursache, für den Schrei?
Ihr fiel wieder ein, dass Natal im Nebenzimmer lag und erhob sich. Sill tat etwas, was sie nicht sah und die Blätter begannen wieder zu glühen und den Raum zu erleuchten. Sie schritt zu der Tür hinüber und öffnete diese. Durch das hineinfallende Licht, sah sie, wie sich etwas panisch im Bett umher warf. Langsam, um es nicht zu erschrecken, ging sie hin und sah selbst in dem wenigen Licht, wie angstverzerrt Natals Gesicht im Schlaf war. Es war kreidebleich.
Sachte berührte sie seine Schulter und sofort schreckte der Junge hoch. Er keuchte und war vom Schreien ganz heißer. Gehetzt blickte er sich im Raum um und als er Senna erblickte brach er hemmungslos in Tränen aus.
Was für ein jämmerliches Kind, dachte sie und doch spürte sie, wie sich abermals ihr Mutterinstinkt rührte und sie dazu trieb, ihn fürsorglich in den Arm zu nehmen. Sie hasste den Jungen so sehr dafür.
"Alles nur ein Traum", beschwichtigte sie den Jungen. Beruhigend sprach sie auf ihn ein, aber es dauerte lange Zeit, bis die Tränen des Jungen gänzlich versiegt waren. Sie fragte sich, ob er wegen des Traumes heulte oder ob es noch immer der Schock darüber war, dass er sich in einer fremden Welt befand. Als er seinen Kopf von Sennas Schulter hob war sein Blick trüb und entrückt, als sei er geistig nicht wirklich hier. Wieder empfand sie Mitleid mit ihm.
"Wie wär es, wenn du rüber zu uns kommst und in unserem Bett schläfst? Würdest du dich dann wohler fühlen?", schlug sie vor und hätte sich gleichzeitig dafür ohrfeigen können.
Stumm nickte der Junge, stieg langsam auf dem Bett und ging an Sennas Hand in das andere Zimmer. Sill hatte die Arme hinter den Kopf verschränkt und starrte an die Decke. Als die beiden den Raum betraten, blickte er auf und Senna entging nicht, wie er die Augen verdrehte, als er den Jungen sah.
"Natal wird heute Nacht bei uns schlafen", erklärte sie knapp.
"Hmm, Nacht? Ist es schon so spät? Ich habe angenommen, es wäre Nachmittag." Sill zog überrascht die Augenbraunen hoch.
"Das habe ich auch. Aber durch die Vorhänge fällt kein Licht, deshalb..." Sie war zum Fenster gegangen und hatte den Vorhang beiseite geschoben. Draußen war alles hell und strahlte ins Zimmer. Aber wieso...? Sie lies den Vorhang wieder zurück und sofort drang kein Licht mehr von Außen hinein.
Was ist das für ein Stoff?
Sie ging wieder zu dem Bett hinüber, auf dem sich Natal neben Ilav zusammengerollt hatte und in die Leere starrte.
"Schlaf etwas", sagte sie zu ihm, doch er schüttelte den Kopf.
"Bin nimmer müde."
"Sill?"
"Ich denke, wir haben lange genug geschlafen, um einigermaßen fit zu sein. Zumindest haben wir länger geschlafen, als die letzten Monate, vielleicht sogar Jahre. Wer weiß das schon."
Senna nickte. Sill hatte recht. Sie waren ausgeruht genug. Sie nahm sich den Stuhl neben dem Bett, rückte ihn zurecht und nahm so Platz, dass sie sich mit den Armen auf die Rückenlehne abstützen konnte.
"Natal, hatte Madame Zoe bereits mit dir gesprochen?"
Nur langsam, wie im Traum bewegte Natal seinen Kopf und begann zu sprechen, wobei seine Stimme schleppend klang. "Gesprochen? Worüber gesprochen?"
"Sill und ich haben vor, hier für einige Tage zu bleiben. Uns geht es dabei um Ilavs Gesundheit." Ihr entging nicht, wie er dass Kind ansah und was in seinem Blick lag. "Madame Zoe hat darum gebeten, dass du in dieser Zeit in der Küche aushilfst. Natürlich nur wenn du möchtest."
Lag da etwa Erleichterung in seinem Blick? Vielleicht hatte er Angst vor Sill und war froh, nicht in seiner Nähe sein zu müssen. Das konnte sie ihm nicht verübeln. "Ja, mach ich."
"Und dann denke ich, dass wir dich über unser Ziel aufklären sollte. Indirekt hat es nämlich auch etwas..." Senna wurde durch ein energisches Klopfen unterbrochen. Vielleicht war das besser so. Wer wusste schon, ob die Wände nicht Ohren hatten und wer dabei hellhörig wurde. Schließlich gab es einige Personen, denen ihr Ziel ein Dorn im Auge war.
Bevor sie überhaupt etwas sagen konnte, wurde die Tür auch schon geöffnet und der Butler, der sie am Morgen am Burgeingang begrüßt hatte, erschien darin. "Es tut mir leid, dass ich Euch störe. Der alte Weise in der Küche sagte mir, er habe einen Schrei von hier gehört und hat mich geschickt. Aber wie ich sehe, ist alles in bester Ordnung." Der Butler wirkte jedoch nicht gerade so, als sei er in Besorgnis hier her geeilt. "Und... ich soll euch dies hier geben. Es ist die Medizin für euren Sohn. Zwei Tropfen, morgens und abends. Am besten ihr tut es in sein Fläschchen." Er reichte Senna ein kleines Fläschchen mit brauner Flüssigkeit darin.
"Ilav besitzt so etwas nicht", wies Sill barsch darauf hin.
"Oh... oh, natürlich. Verzeiht mir. Ich werde in der Küche Bescheid geben. Ich bin mir sicher, dass wir dort so etwas noch haben." Er wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um, als ihm einfiel, dass er etwas vergessen hatte. "Ach... Ich soll Euch von Madame Zoe ausrichten, dass sie Euch im großen Saal erwarten wird, wenn Ihr ausgeruht seit." Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten.
"Na dann... Ich denke, wir sollten die Hausherrin nicht allzu lange warten lassen." Senna betrachtete sich in dem großen Schrankspiegel und fuhr mit den Händen durch das Haar und strich das Kleid glatt. Sie bereute, darin geschlafen zu haben. Jetzt war es total knitterig. Und vielleicht war es ach gar nicht so gut gewesen, sich die Haare so kurz zu schneiden. Sie ringelten sich zu Locken und standen in allen Richtungen ab. Auf der Kommode neben dem Spiegel entdeckte sie eine Bürste. Damit bürstete sie sich durch das eisblaue Haar. Zwar konnte sie damit die Locken nicht ganz los werden, aber soweit verringern, dass es stellenweiße nur noch Wellen waren.
"Natal, geh rüber und zieh dir die Sachen an, die dir Madame Zoe hingelegt hat", befahl sie dem Jungen auf dem Bett. "Sill wird dir zeigen, wie das Licht angeht."
Der Junge richtete sich auf und schlurfte in dem grauen Pyjama rüber in sein Zimmer. Sill folgte ihm mürrisch. In der Zwischenzeit ging Senna in das Bad um ihre Notdurft zu verrichten. Das Bad war überraschend modern eingerichtet. So, wie sie es von früher kannte.
Als sie ihre Hände wusch entdeckte sie einen blassen Lippenstift und Wimperntusche auf dem Waschbecken. Es überrasche sie jedesmal, dass es trotz der vielen, großen Unterschiede zwischen den Welten, immer wieder Sachen gab, die sie wiedererkannte und es früher sogar benutzt hatte. Aus Freude daran, trug sie den Lippenstift und die Wimperntusche auf. Der Lippenstift war leicht aprikofarben und passte perfekt zu ihrem Hautteint.
Als sie aus dem Bad kam, stand Sill, der ebenfalls vor dem Schlafengehen den grauen Pyjama angezogen hatte, halbnackt im Raum. Er sah Senna und ihr entging nicht, dass er verblüfft war, dass sie sich geschminkt hatte. Er lies das Hemd auf dem Bett liegen und ging zu ihr rüber, um sie in den Arm zu nehmen.
"Dieser neue Haarschnitt steht dir ausgezeichnet. Und so frisch habe ich dich lange nicht mehr gesehen." Senna spürte seine Lippen an ihrem Hals und strich ihm über das viel zu lange, wuschelige Haar, dass ihn noch gefährlicher aussehen lies, als er es ohnehin schon tat.
"Deine könnten auch mal wieder geschnitten werden", wies sie ihn daraufhin und spürte, wie er mit seinen Händen unter das Kleid fuhr.
"Ich hab da eine viel bessere Idee", stöhnte er ihr ins Ohr, doch sie drückte ihn sanft von sich. Zwar erregte sie seine warme Haut und ungestüme Art, aber der Gedanke, Natal könne jederzeit in der Tür stehen und sie dabei beobachten, fand sie alles andere aufgeilend.
"Lass das bitte." Mit großen Schritten ging sie zu Ilav hinüber, der geräuschvoll atmete. Seine Atemwege waren verstopft. Als sie sich zu ihm hinunter beäugte, spürte sie Sills warme Hände auf ihrem Hintern. Sie drehte sich um und küsste ihn innig, wobei ihr erst jetzt auffiel, dass er sich rasiert hatte - und das freute sie sehr - lies dann aber wieder los und hob Ilav auf die Arme. "Heb dir das bitte für die Nacht auf. Und tu etwas dagegen." Sie deutete auf eine deutliche Erhebung unter der braun-grauen Hose.
Sill seufzte genervt, lies aber ab.
Kurze Zeit später klopfte Natal an die Tür und trat ein. In den Klamotten, die ihm Madame Zoe gegeben hatte, sah er noch kleiner als zuvor aus. Das hellblaue T-Shirt war ihm viel zu groß und die schwarze Stoffhose hatte er hochkrempeln müssen. Aber er sah besser aus, als in seiner vorherigen Kleidung, die unangenehm nach Erbrochenem gerochen hatte und ekelhafte Flecken besaß. Senna fragte sich spontan, was wohl mit ihren alten Sachen geschah. Warf man sie vielleicht weg oder wusch man sie?
Neugierig ging sie zu dem Schrank hinüber und blickte hinein. Sie entdeckte die Fellmäntel und Natals dicken Pullover und die wollige Hose, die er getragen hatte, alles frisch und sauber. Darunter stand der Rucksack, mit dem sie gekommen waren. Auch sah sie feine Kleider, Röcke, Hemden und Hose für Mann und Frau, sogar Hemdchen und Höschen für ihren kleinen Ilav. Aber ihre restlichen Sachen waren nicht darunter.
Sie beschloss, Ilav eines der Hemdchen und Höschen anzuziehen. Er sollte für die Gastgeberin schick aussehen und war sich sicher, dass sich diese freuen würde.
Sie legte Ilav zurück aufs Bett und zog ihm schnell die Sachen an. Dabei wachte er auf und fing an, rum zu quengeln und zu weinen. Doch kaum war sie fertig und hatte ihn auf dem Arm, gab er wieder Ruhe und widmete sich ihren Haaren. Seit dem sie gebadet hatten, machte er einen viel gesünderen Eindruck auf sie. Trotzdem reichte sie Sill das kleine Fläschchen mit der Medizin, damit er es einsteckte.
"Glaubst du, man kann denen trauen?", fragte dieser misstrauisch und sah sich den Inhalt etwas genauer an. "Irgendwie sieht das komisch aus."
Auch Senna hatte bereits daran gedacht. Aber was blieb ihnen anderes übrigen? "Entweder, wir vertrauen ihnen oder Ilav wird an seiner Krankheit sterben. Und nun kommt. Madame Zoe erwartet uns bestimmt schon."
Sill nickte und folgte ihr.
Jedoch, kaum dass sie auf dem Flur standen, fiel Senna ein, dass sie gar nicht den Weg kannten. Und selbst wenn sie ihn gekannt hätten, in diesem Labyrinth hätten sie bestimmt nicht den richtigen gefunden. Sie wussten ja nicht einmal mehr, aus welcher Richtung sie gekommen waren.
"H... Hallo?", rief Senna zweifelnd in den Gang, doch zu ihrer großen Verwunderung ging nicht weit von ihnen entfernt eine Tür auf und das Dienstmädchen, dass sie auch schon hier her gebracht hatte, trat heraus. Es verbeugte sich höflich vor ihnen.
"Ich sehe, Ihr seid wach. Mir wurde aufgetragen, Euch zu Madame Zoe zu bringen, so bald Ihr wollt."
Senna nickte und übernahm wie immer das Reden. "Wir bitten dich darum, dies jetzt zu tun."
"Selbstverständlich. Folgt mir bitte." Das Dienstmädchen schritt voran und brachte die kleine Gruppe abermals durch das halbe Schloss und durch so viele Gänge und Wege, das Senna von neuem den Überblick verlor. Sie fragte sich, wie viele Jahre es wohl dauerte, bis man sich hier zu recht fand. Außerdem fand sie diese Gänge einfach unheimlich. Man konnte nicht nebeneinander gehen, weil sie einfach zu schmal waren. Durch die angebrachten Kerzen an den steinernen Wänden wurden die Schatten verzerrt und wirkten dadurch monströs. Die Schritte hallten in den Gängen wieder und so hörte es sich an, als seien sie nur zu fünft - wovon einer nicht einmal lief - sondern zu hundert. Doch am unheimlichsten fand sie die Wände selbst. Sie waren merkwürdig glatt, schienen aber unbearbeitet zu sein und zu dem waren sie warm. Die Wärme erinnerte sie irgendwie an die eines Menschen. Was war das nur für ein seltsamer Zauber? Und wer hatte ihn auf sie gelegt?
Madame Zoe erwartete sie in einer großen Halle, die Senna an einen Ballsaal erinnerte. Erleichtert stellte sie fest, dass dieser Raum nicht so grässlich wie der andere eingerichtet war. Nein, er war sogar recht modern und geschmackvoll. An der Seite des Raumes, unter einem großen Fenster, stand ein riesiges, dunkelblaues Sofa, vor dem jemand eine graue Decke ausgebereitet hatte. Erfreut sah, dass man für Ilav Spielzeug hingelegt hatte. Ihre Gastgeberin musste wirklich Kinder lieben. Diese saß vor einem großen Klavier in der Mitte des Raumes und spielte eine schnelle, fröhliche Melodie. Der Raum war in hellen Blau- und Weißtönen gehalten.
Als sie eintraten, verstummte sofort die gespielte Melodie und Madame Zoe drehte sich um.
"Oh, ich hoffe, wir stören Euch nicht. Ihr könnt ruhig weiterspielen, es ist wirklich eine wunderschöne Melodie und wir lauschen Euch sehr gern", sagte Senna, doch Madame Zoe war bereits aufgestanden.
"Vielen Dank, Madame Finik. Vielleicht später. Nehmt Platz. Wollt Ihr etwas zum trinken?" Madame Zoe ging zu der kleinen Bar auf der anderen Seite der Wand hinüber und schenkte jedem etwas ein, dessen Farbe Senna an Waldmeister erinnerte, während die kleine Gruppe auf dem riesigen Sofa Platz nahm und Senna den kleinen Jungen auf den Boden setzte, der sofort begeistert nach einen der Holzfigürchen grabschte.
Die Hausherrin kam mit vier Gläser zurück, in drei von ihnen befand sich diese grüne Flüssigkeit, während sich in Natals Glas etwas Klares aufhielt. Wahrscheinlich Wasser. Die drei Namen die Gläser entgegen und bedankten sich höflich. Inzwischen nahm auch Madame Zoe Platz.
"Euch hat der Schlaf wirklich sehr gut getan. Ihr seht so frisch aus."
"Ja, wir fühlen uns auch alle viel besser. Nicht wahr, Natal?" Senna nippte an dem Glas und Natal nickte eifrig. Die Flüssigkeit schmeckte leicht säuerlich und erinnerte Senna an Apfel, doch es war nicht süß und man schmeckte den Alkohol heraus. Am liebsten hätte sie das Gesicht verzogen und das Glas so weit wie möglich von sich gestellt. Sie konnte Alkohol nicht leiden. Aber ihre gespielte Höflichkeit lies sie das Glas einfach auf den großen Holztisch vor sich stellen.
"Habt Ihr über mein Angebot nachgedacht?", wollte Madame Zoe wissen.
"Ja, das haben wir. Und Natal hat sich damit einverstanden erklärt", antwortete Senna.
Madame Zoe klatschte erfreut in die Hände. "Wunderbar! Ich finde, Jungs schadet es nicht, im jungen Alter in der Küche anzupacken. Verrätst du mir, was du denn alles kannst, mein Junge?"
Natal schabte nervös mit den Füßen und blickte nach unten, wofür er einen Klaps von Sill auf den Hinterkopf bekam. "Schau gefälligst einen an, wenn man mit dir redet!"
"J... Ja... tut mir leid..." Er schluckte und brachte ein nervöses Lächeln zu Stande. "Na ja... Ich kann... Pfannkuchen... dass habe ich daheim oft gemacht... und Spiegeleier..."
Senna stöhnte innerlich auf. Wie dumm war dieser Junge? In dieser Welt gab es bestimmt nicht so etwas wie Pfannkuchen! Und ihr Verdacht bestätigte sich, als Madame Zoe den Jungen neugierig ansah. "Pfannkuchen? Das habe ich ja noch nie gehört! Was ist dass, mein Junge?"
"Na ja... Etwas aus Eiern, Mehl, Zucker und Milch. Wird in der Pfanne gemacht und mit Marmelade gegessen", erklärte er unsicher.
"Ooooh, das hört sich wirklich lecker an. Ich hoffe, du zeigst meinen Köchen, wie man das kocht, damit ich davon kosten kann. Ist das eine Speise aus eurem Land?"
"Ähm... ja. Glaub schon." Unruhig rutschte der Junge hin und her und war ganz offensichtlich froh, als ein Dienstmädchen den Raum betrat. Es hielt eine kleine Flasche in der Hand.
"Madame Finik, die soll ich Euch bringen. Sie ist mit warmen Kräutertee gefüllt und der alte Weise aus der Küche sagte mir, er habe die Medizin bereits hinein getan."
Senna nahm das Fläschchen entgegen. "Ich danke dir." Ilav beglubschte die Flasche neugierig und streckte seine kleinen Händchen nach ihm aus, damit sie ihm diese reichte. Kaum hatte sie sie ihm gegeben, steckte er sie sich in den Mund und nuckelte zufrieden daran. Erleichtert stellte sie fest, dass er den Tee offensichtlich mochte. Das war das erste Mal, dass er so etwas zu sich nahm. Liebevoll sah sie zu, wie er die kleine Flasche leerte und sich dann wieder den kleinen Holzfigürchen zuwandte.
"Ich denke, es reicht, wenn du morgen anfängst, mein Junge", setzte Madame Zoe das Gespräch fort. "Heute sollst du dich noch ausruhen. Du bist von der langen Reise deiner Eltern bestimmt erschöpft."
Natal nickte zögerlich. "Danke, Madame Zoe."
"Oh, bitte, nennt mich einfach Zoe. Ihr seht hungrig aus. Wir sollten rüber in den Speisesaal gehen. Bitte folgt mir." Madame Zoe erhob sich aus ihrem Sessel und ging zu der großen Flügeltür an der einen Seite des Raumes und öffnete diesen. Sie blickten von der anderen Seite in den Speisesaal, den sie heute Morgen schon betreten hatten. Oder war es ein anderer, der nur so ähnlich aussah? Sie hatten so viele Eindrücke in kurzer Zeit gesammelt, da war das schwer zu sagen.
Die große Tafel war mit leckeren Dingen gedeckt. Das eine sah aus, wie ein fettes Schwein, dass andere hatte Ähnlichkeit mit einem Hühnchen. Aber auch jetzt lagen wieder exotische Früchte dabei. Senna lief bei alle dem das Wasser im Mund zusammen und ihr Magen gab ein lautes Knurren von sich. Sie nahmen am gedeckten Tisch Platz.
"Darf ich Euch etwas fragen, Zoe?" Senna suchte sich als Vorspeise einen stacheligen Apfel heraus, den sie zuerst schälen musste.
"Aber nur zu! Habt keine Scheu! Fragt mich alles, was Euch auf der Zunge liegt!"
"Nun... mich würde interessieren, wieso ihr den alten Weisen aus der Küche als alt bezeichnet. Mich erschließt zwar der Sinn, wieso er der Weise aus der Küche genannt wird, aber er schien mir nicht wirklich alt zu sein. Er ist vielleicht etwas älter als ich und nun..."
Madame Zoe gluckste. "Oh, Ihr seid nicht die Erste, die das fragt. Das alles hat eine lange Tradition. Der alte Weise aus der Küche entstammt einer Familie, die schon seit Jahrhunderten für meine Familie arbeitet. Und sie sind schon immer diejenigen, die meine Familie auch in ärztlichen Belangen immer zur Seite standen, denn sie sind schon im jungen Alter klüger als die ältesten im Dorf. Es gehört zur Tradition, dass das Familienoberhaupt dieser Familie der alte Weise genannt wird, während sein Sohn der junge Weise gerufen wird. Es scheint in denen Genen dieser Familie zu liegen, dass jeder Mann immer nur einen Sohn gebärt. Und das seit Jahrhundert. Manchmal glaube ich schon fast, auf ihnen lastet ein Fluch. Sie sind schon im Kindesalter klüger als so manch Alter und doch bekommen sie immer nur einen Erben."
"Haben die Männer denn keinen richtigen Namen?", fragte Senna überrascht.
Madame Zoe schüttelte den Kopf. "Nicht, dass ich wüsste. Und wenn doch, dann weiß ihn wahrscheinlich nur die Familie. Die Aufgabe des alten Weisen aus der Küche ist es jedoch auch, runter in das Dorf zu reisen, wenn dort jemand schwer krank ist und die Medizin des Dorfarztes nicht ausreicht."
"Wie kommt es, dass er so klug ist und trotzdem Euer Koch?"
"Sie wollen es nicht anders und außerdem kenne ich niemanden, der so lecker kochen kann. Sie sind es seit Generationen hinweg und werden es wahrscheinlich auch bleiben. Auch wenn sie nach meinem Tode wahrscheinlich eine andere Familie suchen müssen.“ Madame Zoe seufzte schmerzvoll. Senna hätte gerne nachgefragt, was das bedeutete, war sich jedoch über die Unhöflichkeit bewusst und lies es deshalb darauf beruhen.
Sie wechselten das Thema und unterhielten sich eine Weile über Natals Pflichten als Aushilfe. Er war vor allem für den Abwasch zuständig. An seinem Gesichtsausdruck konnte Senna ablesen, dass er dies wohl noch nicht allzu oft tat. Nicht zum ersten Mal überlegte sie, ob er nicht vielleicht aus ihrer eigenen Welt kam. Er hatte bei ihrer Begegnung etwas von einem Spiel geredet. Etwa diesem Spiel? Aber noch war nicht die Zeit, ihn danach zu fragen. Sie würde vorerst noch mehr Hinweise sammeln.
Nachdem sie alle zu Ende gespeist hatten und die Dienstmädchen die Tafel abräumten, forderte Madame Zoe sie auf, wieder in das Nebenzimmer zu gehen. Dort hatte jemand ein Feuer im Kamin entfacht. Senna fragte sich, wieso, denn es war überhaupt nicht kalt im Schloss. Das lag wahrscheinlich an den merkwürdigen Wände.
„Zoe, was ist das für ein Stein, aus dem die Wände sind? Ich habe noch nie solch einen warmen Stein gesehen“, fragte Senna.
Madame Zoe lächelte geheimnisvoll. „Es ist ein Stein, den es nur in diesem Wald zu geben scheint. Mehr kann ich Euch darüber nicht sagen.“ Sie servierte ihnen Cocktails. Den Drink, den Senna vorhin stehen gelassen hatte, war fort.
Dankend, aber mit den Gedanken, dass sie mehr als daran nippen nicht tun würde, nahm Senna den Cocktail entgegen. Natal reichte man einen ohne Alkohol, aus verschiedenen Säften, den er gierig trank. Er hatte während des Essens etwas von seiner Schüchternheit verloren. Kurz fragte sich Senna, ob es daran lag, dass Madame Zoe so fürsorglich und großmütterlich war und einen dadurch erschien, als kenne man sie bereits seit Jahren. Aber genau dieses Gefühl machte sie so misstrauisch. Konnte jemand wirklich solch ein Gefühl vermitteln, ohne Hintergedanken zu haben? Oder war sich Madame Zoe ihrer Art gar nicht bewusst? Unbewusst drückte Senna ihren Sohn etwas fester an sich. Er war während des Essens auf ihrem Schoss eingeschlafen und gluckste und zuckte im Schlaf. Die Bewegungen seiner Augen unter den geschlossenen Liedern verrieten, dass er träumte. Senna fragte sich, wovon so ein kleines Kind wohl träumte. Bestimmt von ganz viel Spielzeug und vollen Nuckelflaschen.
Es wurde draußen dunkel und sie entschuldigten sich, dass sie vom langen Reisen müde waren und sich langsam in ihre Gemächer zurückbeugen wollten. Das gleiche Dienstmädchen wie zuvor begleitete sie zurück und verabschiedete sich für die Nacht.
Senna legte Ilav auf das Bett. Sie wollte ihn im Auge haben und weigerte sich deshalb, ihn in das Kinderbettchen zu legen, dass kaum Einblick von der Seite her gewährte. Irgendwie misstraute sie allem hier. Sogar den Wänden. Es konnte nicht natürlich sein, dass diese so warm waren, wenn weder ein Zauber drauf lag, noch eine Wandheizung eingebaut war. Abermals legte sie die Hand darauf. Fast erwartete sie, dass es wie ein Herz pulsierter. Aber das tat sie nicht. Sie war einfach nur warm.
Sill war zum Fenster gegangen und blickte hinaus, sie trat zu ihm. Draußen war das Leuchten der Blätter erloschen. Komisch, dass ihr dass vergangene Nacht, als sie draußen schliefen, nicht aufgefallen war. Oder waren sie gar nicht gestern in dieser Welt angekommen und ein Tag dauerte hier länger? Möglich war es. Auf ihrer langen Reise hatten sie schon viel abstruses und merkwürdiges erlebt und dass wäre eigentlich überhaupt nicht seltsam, es wäre vielleicht sogar nur natürlich. Und ohnehin, es war egal, denn sie maßen schon lange keine Zeit mehr.
Blätterraschen verriet ihr, dass im Wald ein Wind sein Unwesen trieb. Aber kein Lüftchen drang durch das scheibenlose Fenster. Neugierig griff sie hindurch.
Sie fühlte, wie sie durch etwas Unsichtbares, Formloses griff. Es fühlte sich auf der Haut irgendwie wie matschiges Wasser an. Insgeheim hatte sie gehofft, dass es sichtbar wurde, wenn sie es berührte, mit manchen Zaubern verhielt es sich so. Doch es geschah nichts. Nicht einmal ein kleines Wabern in der Luft. Langsam zog sie ihre Hand zurück und als sie den Zauber verlies, spürte sie ein kurzes Ziehen, als wolle der Zauber sie nicht loslassen. Doch dann war es verschwunden und ihre Hand wieder frei.
Schweigend blieb sie neben Sill stehen, der wie sie den dunklen Wald betrachtete. Eigentlich konnte sie nichts erkennen. Es war einfach zu dunkel und das herausfallende Licht aus ihrem Zimmer beleuchtete nur wenige Steine der Ruine unter ihnen. Sie hatte die Ruine schon bei ihrem Kommen bemerkt, aber seit sie hier waren, hatte sie keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Sie fragte sich, wie es wohl von oben aussah und beschloss, es sich am frühen morgen anzusehen.
Still wandte sie sich ab. Natal lag zusammengerollt auf ihrem Bett und war eingeschlafen. So wie er da lag, sah er sogar richtig süß aus, fand Senna. Sie breitete die Decke über ihm aus und strich im zärtlich durch das Haar. Seine Mutter musste ihn wirklich sehr geliebt haben, dass sie ihn so lange vor der Akademie hatte verstecken können. Aber Senna war sich sicher, dass der Junge einen bleibenden Schaden vom Schock der letzten Tage tragen würde. Fast tat es ihr leid. Aber letztendlich war das Leben nun einmal nicht fair. Damit musste er leben, ob er wollte, oder nicht.
Sie spürte Sills Blick auf ihren Rücken. „Glaubst du, dass er wirklich der ist, von dem die alte Hexe gesprochen hat?°
Senna zuckte mit den Schultern. „Möglich. Und wenn nicht… ich denke, er wird nicht lange überleben können. Zumindest nicht, wenn er nicht schnell lernt, sich zusammen zu reißen. Doch so weich wie er jetzt ist… vielleicht sollten wir ihn einfach hier lassen.“ Senna betrachtete das friedliche Gesicht des Jungen.
„Und wenn er es ist? Dann verbauen wir unseren eigenen Weg, wenn wir ihn einfach hier lassen.“
Senna sagte nichts dazu, da sie dass selbst nur allzu gut wusste. Jedoch war das nicht der einzige Grund, weshalb sie ihn nur ungerne hier gelassen hätte. Es war eher das Gefühl, dass mit dieser Burg etwas nicht stimmte, auch wenn sie nicht benennen konnte, was es war. Waren es diese seltsamen Wände? War es vielleicht Madame Zoe selbst? Sie wusste es nicht. Aber sie wusste, dass sie nicht bereit wäre, den Jungen hier zu lassen, solange sie nicht wusste, dass es wirklich sicherhier war. Wie kam es, dass sie den Jungen so schnell ins Herz geschlossen hatte? War es seine verweichlichte Art, die sie dazu veranlasste, ihn beschützen zu wollen? Sie mochte ihn ja nicht einmal wirklich. Aber vielleicht war er ja auch erst durch den Schock geworden. Und wer konnte es ihm verübeln? Wäre sie nicht in der Akademie aufgewachsen, wo man ihr vieles über Magie erzählt und gezeigt hatte, hätte sie wahrscheinlich ähnlich drauf reagiert. Es war unwahrscheinlich, aber es gab trotzdem eine Chance, dass er sich von dem Schock erholen würde.
Sill legte die Arme um ihre Hüfte und küsste ihren Nacken. „Wollen wir rüber gehen?“
Senna schüttelte den Kopf, drehte sich aber um und küsste ihn. „Tut mir leid. Heute nicht. Ich bin viel zu müde, für so etwas. Verstehe das bitte.“
Nach diesen Worten wandte sich Sill ab, zog die Hose seines Pyjamas an und verschwand im anderen Raum. Sie zögerte. Sollte sie ihm folgen? Nein, besser nicht, denn dann würden sie es doch miteinander tun. Und sie war wirklich müde.
Leise legte sie sich neben den Jungen, löschte das Licht und versuchte, zu schlafen…


4​


Auszug aus der Weltenbibliothek, Senna Finik, Band 4…

Bevor dieser kleine Knirps auftauchte war alles in bester Ordnung. Na gut, vielleicht nicht in bester. Aber davor hatte ich nicht diese intensiven Gefühle, dass es etwas zu beschützen gab. Nicht einmal für Ilav hatte ich zu diesem Zeitpunkt solche Gefühle. Es gab nur unser Ziel und alles andere war unwichtig. Und dann tauchte er auf…
Wir waren tagelang, vielleicht sogar Wochen oder gar Monate, durch den Schnee gelaufen. Es ist schwer, die Zeit zu bestimmen, wenn es immer gleich hell und gleich dunkel ist und einem ein Schneesturm zur Last fällt. Aber der Schneesturm war nicht immer da. Nur ein paar Tage. Einmal hatten wir in einem alten Grabgemäuer Rast gemacht. Dort fanden wir Holz, welches wir mitnahmen, damit wir Feuer machen konnten. Und durch einen Zufall fanden wir wenige Tage später eine Höhle. Zu dieser Zeit wütete der Schneesturm ein zweites Mal. Wir blieben eine ganze Weile in dieser Höhle. Im Gegensatz zu der Gramkammer gab sie uns nicht das Gefühl, ständig beobachtet zu werden.
Diese Höhle besaß einen langen Tunnel. Ich weiß bis heute nicht, wohin dieser führte. Natal hat es mir nie erzählt. Aber in diesem Tunnel fanden wir den Jungen. Oder viel mehr, er uns.
Ich hatte schon die ganze Zeit die Anwesenheit eines anderen Blue Kids gespürt gehabt, aber dass es ein Junge war, der nicht einmal die einfachsten Grundlagen unserer Fähigkeiten beherrschte, dass hatte ich wirklich nicht erwartet. Aber das erklärte, wieso er nicht auf meine Signale reagierte.
Und dieser kleine Knirps war verstört. Er schien unter starken Schock zu stehen und stammelte immer wieder etwas von einem Spiel.
Ich glaube, Sill machte sich anfänglich die Hoffnung, dass er derjenige sein könnte, den uns die alte Hexe versprochen hat. Sie hat gesagt, wir würden im Schnee jemanden treffen, er uns unserem Ziel einen Schritt näher bringen würde. Aber ich denke, Sills Hoffnungen werden zerschlagen. Der Junge kann nichts, außer rumheulen und nerven und dieser widerlichen Gefühle in mir wecken. Ich hasse ihn so sehr dafür! Diese Gefühle sollten allein Ilav gehören und nicht diesem dahergelaufenem Gör! Aber ich dachte, dass uns der Knirps vielleicht doch noch helfen könne und lies ihn deshalb mit uns ziehen. Letztendlich behielt ich recht.
Nach dem wir die Welten gewechselt hatten und auf eine alte Burg stießen, wurde uns die Möglichkeit gegeben, uns ordentlich auszuruhen und Ilav die Chance zu geben gesund zu werden. Er war seit Tagen oder Wochen fürchterlich krank. Aber seit wir dort waren, ging es ihm sichtlich besser. Er schlieft nicht mehr soviel wie auf der Reise dorthin. Das verdankten wir Madame Zoe. Und doch muss ich sagen, dass ich bei dieser Frau von Anfang an ein ungutes Gefühl hatte. Ein Gefühl, dass mich warnte, diese Frau könnte womöglich ein Geheimnis bergen. Aber vorerst blieben wir dort. Doch als Gegenleistung sollte Natal in der Küche aushelfen. Ich war glücklich, dass er protestlos zu stimmte. Immerhin ist er uns das schuldig…

spielerische Gefahr​

1

Sill erwachte im ersten Morgengrauen. Bevor er zu Bett gegangen war, hatte er den Vorhang beiseite geschoben, damit er nicht zu lange schlief. Es war Ewigkeiten her, dass er in einem gemütlichen Bett geschlafen hatte. Und doch hatte er nicht sonderlich gut geschlafen. Denn es war mindestens genauso lange her, dass er alleine, ohne Senna und Ilav geschlafen hatte. Senna war in der Nacht drüben geblieben. Anfangs hatte er gehofft, sie würde noch kommen, aber enttäuscht stellte er fest, dass dieser Fall nicht eintraf.
Seit dieser kleine Scheißer zu ihnen gestoßen war verhielt sich Senna so absonderlich. Sonst hatte sie es mit ihm jederzeit getrieben, er brauchte nur zu wollen und sie sprang. Und nun… nun entzog sie sich seinen Umarmungen, wenn der kleine Scheißer in der Nähe war und begründete es damit, dass er es nicht sehen sollte. Sie hatten ein verdammtes Kind miteinander! Und der kleine Scheißer war alt genug, um zu wissen, wie so etwas entstand! Wenn sich dieser gestört fühlte, dann sollte er sich gefälligst verziehen! Es nervte ihn einfach! Was bildete sich dieser kleine Scheißer überhaupt ein, einfach aufzutauchen und alles durcheinander zu bringen. Sill hätte es verstanden, wenn sich Senna ihm aus Sorge um Ilav entzog, es war schließlich auch sein Sohn und zwar der einzige, den er seinem Wissen nach hatte. Aber dass sie es wegen diesem kleinen, aufdringlichen Scheißer tat… unfassbar! Es wurmte ihn einfach. Aber immerhin würde der kleine Scheißer ab heute in der Küche aushelfen müssen und er hatte mehr Zeit, Senna in sein Bett zu holen.
Mürrisch stieg der große Mann aus seinem Bett und kleidete sich an. Von drüben her klang ein leises Summen an sein Ohr. Es war Senna, die Ilav ein Liedchen vorsang, damit er wieder schlief. Das machte sie immer, wenn sie ihn gerade gefüttert hatte und sich unbeobachtet fühlte. Aber mit was hatte sie ihn gefüttert? War in der Nacht etwa jemand unbemerkt in ihr Zimmer geschlichen und hatte etwas für den Kleinen zurückgelassen? Das beunruhigte Sill. Er hatte keineswegs so fest geschlafen, dass er es nicht bemerkt hätte, wenn jemand im Zimmer nebenan gewesen wär.
Besorgt stellte er aber fest, dass seine Befürchtung zutraf, als er den Raum betrat, in dem Senna mit dem kleinen Ilav war und er die halbleere Schüssel mit dem restlichen Brei mit den kleinen Bröckchen Obst sah. Das Bett war leer.
„Wo ist der kleine Scheißer?“, fragte er griesgrämig.
„Er wurde heute Morgen von dem Dienstmädchen abgeholt. Da war es noch dunkel. Es wundert mich, dass du das nicht mitbekommen hast. Sonst hörst du doch alles.“
Sill grummelte etwas und setzte sich auf das Bett. Er beobachtete, wie Senna den kleinen Ilav hin und her wiegte.
„Na da hat ja jemand super Laune“, stellte sie fest.
„Hm“, machte Sill und schabte mit den Füßen. Mehr war an diesem Morgen nicht mehr heraus zu bringen. Er war morgens generell nicht sehr gesprächig, aber nicht mürrisch.
„Ilav geht es heute schon viel besser“, berichtete Senna. „Die Medizin scheint Wunder bewirkt zu haben. Er kann wieder völlig frei atmen. Ist das nicht toll?“
Sill nickte.
Nach dem das Kind wieder eingeschlafen war, legte Senna es auf das Bett. „Das Dienstmädchen hat gesagt, dass Madame Zoe anfragt, ob du ihr vielleicht behilflich sein könntest. Sie bräuchte jemand, der für den Winter Holz hackt.“
Sill nickte stumm. Dann erhob er sich vom Bett und trat auf den Flur hinaus. Sofort erschien wieder einige Türen weiter das Dienstmädchen und wünschte ihnen einen guten Morgen. Sill fragte sich, ob dieses Dienstmädchen nur dazu da war, Besucher durch die Gänge zu führen. Eigentlich war das überflüssig, da Sill zwar nicht der klügste war, jedoch ein fotographisches Gedächtnis besaß und er problemlos den Weg zurück in den Speisesaal, in den sie geführt wurden, zurück gefunden hätte. Dort saß bereits Madame Zoe und erwartete sie. Doch von Natal keine Spur. Sill vermutete, dass er mit dem anderen Personal essen würde. Das war ihm nur ganz recht.
Madame Zoe erkundigte sich nach ihrem Befinden und fragte, ob es Ilav denn bereits besser ginge. Senna bedankte sich noch einmal herzlich für die Musik. So erleichtert hatte Sill sie schon lange nicht mehr gesehen und fand es merkwürdig, dass ihm jetzt erst auffiel, wie schweigsam sie geworden war, seit Ilav erkrankt war.
Wieder gab es leckere Speisen, doch Sill fiel ins Auge, dass Madame Zoe ihnen ständig Alkohol einschenkte, ohne zu fragen, ob sie denn so etwas überhaupt tranken. Hatte sie dabei irgendwelche Hintergedanken? Er konnte es unmöglich sagen. Aber ihre überfreundliche Art und Hilfsbereitschaft lies ihn dies vermuten. Fiel Senna dies denn gar nicht auf? Sie redete offen und beantwortete bereitwillig jede Frage, die ihr gestellt wurde. Dabei war sie doch die kluge und scharfsinnige. Oder zog sie ein Spiel mit Madame Zoe ab, welches er nicht verstand? Er konnte es einfach nicht durchschauen.
Schweigend nahm er sein Frühstück zu sich und stellte fest, dass es sogar noch köstlicher war, als am Tag zuvor. Auch jetzt war der Tisch wieder reichlich gedeckt, aber es kam Sill so vor, als wäre er jetzt sogar mit noch mehr gedeckt. Er fragte sich, wer dass denn alles essen sollte und was mit den Resten geschah.
Er aß zwei Brötchen und belegte diese mit verschiedenen Fleischsorten, die er bisher noch nie gegessen, geschweige denn jemals gesehen hatte.
Nachdem sie ihr Mahl beendet hatten, bat Madame Zoe das gleiche Dienstmädchen, Sill hinunter zu bringen, wo das Holz auf ihn wartete. Sie erklärte Sill, dass sie zwar jemanden hatte, der ihr das Holz schlug, aber dieser würde langsam alt werden und sie befürchtete, dass er dieses Jahr nicht genug Holz hacken könnte. Deshalb sollte er ihm doch bitte helfen. Freundlich, sich aber innerlich dagegen sträubend, willigte Sill ein. Er hatte das Gefühl, dass Madame Zoe versuchte, ihre kleine Gruppe unbemerkt auseinander zu bringen. Was bezweckte sie damit? Wollte sie Streit sähen? Aber was hatte sie davon? Sill überlegte kurz, ob sie etwa von ihrem Ziel wusste, schlug diesen Gedanken aber wieder rasch in den Wind. Wieso sollte sie etwas über ihre Mission wissen? Trotzdem lies der Gedanke ihn den ganzen Tag nicht los. Irgendwas stimmte einfach nicht.
Unten im Hof wartete ein alter Mann auf ihn. Die schlafen Muskeln verrieten, dass er früher einmal stark gewesen sein musste. Aber nun hatte er ein krummes Kreuz und Probleme damit, die Axt zu schwingen. Er war schon nach wenigen Holzscheiden außer Puste und musste sich den Schweiß von der Stirn wischen. "Tut mir leid", entschuldigte sich der Alte. "Ich werd wohl langsam wirklich zu alt für diesen Job. Madame Zoe wird sich nächstes Jahr wohl jemand anderes dafür suchen müssen. So sehr ich das auch bedaure."
Sill nickte nur und schlug weiter Holz. In kurzer Zeit hatte er bereits das dreifache an dem, was der Alte geschlagen hatte. Er fragte sich, wie man einen solch alten Mann solch einen Job machen lassen konnte. Der Alte sah fast wie hundert aus, zumindest fand er das.
"Ich habe nichts dagegen, wenn Ihr Euch irgendwo hinsetzt und eine Pause einlegt. Ich schaffe den Rest auch alleine", lies er irgendwann verkünden. Ihn nervte das angestrengte Schnauben des Alten. Der Alte - Sill hatte seinen Namen nicht ganz verstanden - nahm dankend das Angebot an.
"Ihr seit wirklich gütig", lobte dieser. Sill sagte überhaupt nichts dazu.
Eigentlich war er sogar ganz froh, mal eine Weile für sich zu sein und seinen Gedanken hinterher hängen zu können. Und so schlecht war das Holzhacken gar nicht. Es trainierte zusätzlich seine Muskeln, also zog er sogar noch einen Vorteil daraus. Es war schon länger her, dass er sich mit jemand geprügelt hatte. Das letzte mal war gewesen, als jemand in irgend so einer Bar Senna dumm angemacht hatte. Ein wenig vermisste er die alltäglichen Schlägereien. Früher, als er noch nicht mit Senna unterwegs gewesen war, hatte er sich mindestens drei Mal in der Woche geprügelt gehabt. Manchmal sehnte er sich nach dieser Zeit. Aber andererseits... andererseits lebte er jetzt ein anderes Leben, fernab von dem Alten. Sie hatten nichts mehr miteinander gemein. Vielleicht war es besser so.
Das Glühen der Baumblätter waren fast erloschen, als Sill alles vorhandene Holz zerhackt hatte. Er machte sich daran, die Holzscheite aufeinander zu stapeln und zu sortieren. Er fühlte sich zufrieden. Zwar war er sich nicht ganz sicher, weshalb, aber das machte nichts. Es war lange her, dass er etwas anderes getan hatte, als zu laufen und zu laufen und zu laufen. Und nebenbei den schweren Rucksack zu tragen.
Wie viele Jahre war es eigentlich her, dass er sein Dorf verlassen hatte? Er konnte es nicht so genau sagen. Aber es war wirklich lange her.
Er hielt kurz inne. Da war etwas, was ihn beunruhigte. Eine Erinnerung. Er hatte es gestern schon geahnt, aber da hatte er nicht wirklich sagen können, was es war. Doch nun kam die Erinnerung glasklar zurück.


2

Er war ein kleiner Knirps von etwa zehn Jahren, als sie in sein Dorf kamen.
Das Dorf erstrahlte gerade in voller Blüte. Die Bäume öffneten ihre Knospen und schenkten ihrem Glanz der Stadt. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne versenkte ihm die Haut, obwohl es erst Anfang Frühling war. Doch es war nichts Ungewöhnliches in seiner Welt. Die Frühlinge und Sommer waren knall heiß, während die Herbste und Winter bitterkalt waren. Alles eine Frage der Gewöhnung.
Sein Vater hatte ihn dazu aufgefordert, die schweren Fässer in die Kneipe zu schleppen, die seine Familie besaß. Um die Mittagszeit war dort nie viel los.
Der alte, dicke Fanras saß wie immer an der Theke, löffelte etwas aus einer kleinen, schäbigen Schale, dass aussah, wie klumpige Suppe und trank sein Bier. Sill konnte sich nicht daran erinnern, auch nur einen Tag erlebt zu haben, an dem der Fette dort nicht gesessen hatte, diese ekelerregende Suppe, die seine Mutter kochte, aß und sein Bier trank. Fanras Augäpfel waren gelb und glasig. Sills Vater hatte mal zu seinem Sohn gesagt, dass er aufpassen solle, selbst nicht so zu enden. Dabei war doch klar, dass er als einziger Sohn die Kneipe erben würde. Eigentlich hatte Sill darauf ja überhaupt keine Lust. Viel lieber hätte er Pferde gezüchtet. Aber sein Vater sagte ihm, dass das kein Job für einen richtigen Kerl wir für ihn war. Und so trug er Tag ein, Tag aus diese verdammten Fässer in die Kneipe die später mal ihm gehören würde.
An besagtem Tag stand seine ältere Schwester in der Küche und bereitete die Rippchen vor, die sie verkauften. Sill wusste, dass sie zäh und trocken waren. Aber etwas Besseres gab es in dieser schäbigen Kneipe nicht. Und die Kneipe war die beste in diesem kleinen Dorf.
Vorsichtig stellte er das volle Fass neben die Theke. Einmal war es ihm passiert, dass er das Fass etwas gröber auf den Boden gestellt hatte und es daraufhin einfach platzte. Dafür hatte er von seinem Vater den Hintern so voll bekommen, wie noch nie. Das war ihm eine Lehre gewesen.
Er stellte gerade das letzte Fass auf den Boden als von draußen Tumult herein drang. Das war für diese Zeit eigentlich ungewöhnlich. Die Leute aßen entweder zu Mittag oder gingen Geschäften nach, die keinen anderen etwas angingen.
Neugierig geworden schlich sich der Junge heraus. Er wusste, dass es eine Tracht Prügel setzen würde, wenn sein Vater ihn dabei erwischte, wie er seine Pflichten vernachlässigte.
Auf der Straße standen sämtliche Anwohner des Dorfes und betrachteten etwas. Es wurde getuschelt und die Kinder liefen wild umher und versuchten, sich an den Erwachsenen vorbei zu drängen, damit sie sehen konnten, was denn so interessant war. Auch Sill versuchte sich heimlich durchzuquetschen. Dabei stieß er gegen einen Jungen, mit dem er öfters Spiele.
"He, was ist denn da los?", fragte er diesen.
"Keine Ahnung. Tschewar konnte sich bis nach ganz vorne durchquetschen und die Leute munkeln etwas von reichen, Fremden", erklärte ihm der Junge.
Reiche Fremde? Das war wirklich etwas Seltsames. Das Dorf lag so weit von den anderen entfernt, dass nur selten Fremde hier herkamen. Und wenn sie es taten, waren es arme Vagabunden. So weit er wusste war es mindestens hundert Jahre her, dass sie Besuch von Reichen bekommen hatten. Das stachelte ihn nun nur noch mehr an, sich durchzuquetschen. Ein Fehler, wie er schnell merkte.
Jemand packte ihm am Kragen und zog ihn aus der Menge heraus. Die Hand war kräftig und er hatte keine Chance, sich dagegen zu wehren. Als er sich umdrehte stand er einem großen, bulligen Man gegenüber. Eine riesige Narbe zierte sein Gesicht vom rechten Auge bis hinunter zum linken Mundwinkel, welcher sich grimmig verzog.
"Habe ich dir nicht gesagt, du sollt das Geschirr spülen, wenn du fertig mit rein tragen bist?", dröhnte die Stimme seines Vaters.
Sill schabte niedergeschlagen mit den Füßen und gab kleinlaut von sich: "Ja, schon. Hatte ich ja auch vor. Aber dann wurde es auf der Straße so laut und ich wollte wissen wieso..."
"Du hast nicht wissen zu wollen wieso! Du hast deinen Aufgaben nachzukommen! Verstanden?"
"Mmmmhm", machte der Junge.
"Wie war das?"
"Ja, Vater. Ich mach mich gleich wieder an die Arbeit."
"Und wenn du dich noch einmal davor drückst setzt es eine Tracht Prügel, mein Sohn!"
Mit eingezogenem Kopf und dicker Schmolllippe schlurfte der Junge an seinem Vater vorbei und wieder in die Kneipe hinein. Dort machte er sich gleich daran, die hölzernen Bierkrüge in Wasser einzuweichen und ab zu spülen. Er hasste diesen Job. Wieso konnte das nicht seine Schwester tun? Schließlich war er kein nichts-nutziges Weib! Er würde eines Tages so groß und stark wie sein Vater sein und im Stande, seien Familie zu beschützen. Das war einfach nicht fair!
Plötzlich ging die Tür zur Kneipe auf und sein Vater stürzte hinein.
"Weib, mach das beste Essen, dass wir haben! Und Belyna, mach das schönste Zimmer mit dem besten Ausblick fertig, was wir anbieten können! Los, los, los! Wir haben reiche Gäste in unserer Stadt! Und es versteht sich ja von selbst, dass sie hier speisen und schlafen werden! Junge, los helf deiner Mutter!" So aufgeregt hatte Sill seinen Vater noch nie erlebt. Seine Stimme dröhnte ihm in den Ohren und das schmerzte.
Mürrisch lies er den Bierkrug ins Wasser sinken und schlurfte zu seiner Mutter in die Küche. Das einzige, was er noch mehr hasste, als abzuspülen war es, bei der Essensvorbereitung helfen zu müssen. Es wäre nicht so schlimm gewesen, wenn er dabei hätte naschen dürfen, aber jedes Mal, wenn er das tat, bekam er einen kräftigen Schlag mit dem Kochlöffel auf die Finger. Und das tat weh!
Seine Mutter schickte ihn hoch, in ihre kleine Wohnung, damit er den Schinken und das Gemüse holte, dass eigentlich für ihr eigenes Abendessen gedacht war, nun aber an die reichen Fremden gehen sollte. Das passte den Jungen gar nicht, denn er hatte sich schon seit Tagen auf den fetten Schinken gefreut gehabt. So etwas gab es nicht oft. Oft musste er dass essen, was die Gäste in der Kneipe auch vorgesetzt bekamen. Aber er traute sich nicht, zu widersprechen und lief schlecht gelaunt schnell nach oben, damit seine Mutter nicht mit ihm schimpfen konnte. Er wusste nur zu gut, dass sie nie ein gutes Haar an ihm lassen konnte, wenn sie so in Eile war. Da war es besser, sich selbst zu beeilen und keine Widerworte zu geben.
Als er wieder unten in der Küche eintraf war seine Mutter gerade dabei, eine dicke Soße umzurühren. Sie riss ihm förmlich das Gemüse und den Schinken aus der Hand und befahl ihn, bei der Soße zu bleiben und sie rühren. Gehorsam tat er wie ihm geheißen, sich jedoch im Gedanken darüber ärgern, dass er den Job machen musste, den seiner Meinung nach nur Frauen zu tun hatten.
Die Soße hatte einen merkwürdigen Braunton und als er seine Mutter darauf hinwies, dass sie klumpig sei, meinte sie, das gehöre sich so und würde nach dem Überbacken des Schinkens ohnehin nicht mehr auffallen. Irgendwie war sich der Junge nicht ganz sicher, ob das wirklich stimmte, sagte aber nichts mehr dazu, da er nur zu gut wusste, was er sich dann anhören musste. Sie müsse es ja wissen, schließlich stand sie seit über zwei Jahrzehnten in dieser Küche und er solle sein freches Mundwerkt besser halten. Deshalb rührte er einfach schweigend weiter um.
Irgendwann kam seine Mutter angerauscht, nahm wortlos den Topf an sich und schüttete die Soße über den gewürzten Schinken, damit sie ihn in den Ofen schieben konnte. Sill nutzte diese Gelegenheit, um sich aus der Küche zu schleichen und zu sehen, was sein Vater tat. Das stellte sich jedoch als Fehler heraus. Kaum hatte ihn sein Vater entdeckt wurde er auch schon damit beauftragt die Kneipe auszufegen. Sein Vater selbst war dabei sich mit den Fremden zu unterhalten. Sie saßen an dem runden Tisch, der zugleich auch der größte hier war. Neugierig versuchte Sill einen Blick auf die Fremden zu erhaschen. Er erblickte einige Männer, die schwarze Anzüge trugen und ihn irgendwie an Diener erinnerten. Damit waren sie uninteressant. Seine Aufmerksamkeit erregte viel eher die Dame und der Herr, die direkt gegenüber seines Vater saßen. Der Mann trug einen weißen Anzug und hatte seinen weißen Cowboyhut so tief ins Gesicht gezogen, dass Sill unmöglich mehr erkennen konnte. Die Dame selbst trug ein altmodisches, rosablütenfarbenes Kleid, welches ihren vollen Busen und ihre schlanke Hüfte umschmeichelte. Enttäuscht stellte er fest, dass auch er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, da dieses mit einem Schleier in der Farbe des Kleides verdeckt war.
Er versuchte, wenigstens ein paar Gesprächsfetzen aufzufangen, doch sie redeten so leise, dass er nicht einmal ein Wort verstand. Über was redeten sie, dass sie offensichtlich nicht wollten, dass es jemand erfuhr? Waren es irgendwelche geheimen Geschäfte, in die sein Vater verwickelt war?
Neugierig geworden versuchte Sill beim Fegen näher an den Tisch heranzukommen. Doch sein Vater war nicht dumm und schickte ihn nach kurzer Zeit hoch in sein Zimmer. Sie würden heute mit den Fremden zu Abend speisen und er solle sich etwas Ordentliches anziehen.
Enttäuscht schleppte er sich die Treppe hoch. Etwas Ordentliches anziehen bedeutete, dass er sich schick machen sollte. Das war gar nicht so leicht, denn das schönste, was er besaß war eine abgewetzte, blaue Jeans und ein langärmliger, grüner Pullover, der für diese Jahreszeit eindeutig zu warm war. So zog er einfach ein blaukariertes T-Shirt über die Hose und seine Pferdestiefel an. Anschließend schlurfte er ins Bad, um sich die Hände nass zu machen und sich die Haare nach hinten zu streichen und zu seinem Pferdeschwanz zu binden, da er zu gut wusste, dass er ansonsten von seiner Mutter zu hören bekäme, wie ungepflegt sie aussahen und er sie sich doch endlich schneiden lassen solle. Dabei tastete er sein Gesicht ab. Sie besaßen keinen Spiegel, aber er war sich sicher, dass bald der Bartwuchs einsetzen musste. Er hoffte sehr darauf. Dann würde er sich einen richtigen Männerbart wachsen lassen, damit er damit und mit den schulterlangen Haaren richtig männlich aussah. Aber enttäuscht stellte er fest, dass auch heute noch nicht das geringste Anzeichen dafür vorhanden war.
Als er aus dem Bad kam hörte er seine Mutter nach ihm rufen. Ungeduld lag in ihrer Stimme, weshalb er zügig die Treppe hinunter kam.
Seine Mutter stand in der Kneipe und befahl ihm, endlich Platz zu nehmen. Er hörte, wie die fremde Dame kicherte und sie forderte ihn auf, sich doch neben sie zu setzen. Sie würde Kinder lieben und wolle sich mit ihm unterhalten. Gehorsam nahm er zu ihrer rechten Seite Platz. Sofort wurde er von einem blumig, süßen Duft eingehüllt, der ihm gefiel. Es roch so weiblich und frisch. Ganz anders als die Mädchen in seiner Schule, die sowieso nur dumm rumgackelten.
Die Dame beugte sich zu ihm hinunter. "Wie heißt du denn?", fragte sie und nahm dabei ihren Schleier ab...


3​


Sill runzelte die Stirn.
Wie hatte damals das Gesicht der Frau ausgesehen? Was war danach passiert?
Irgendwie konnte er sich nicht daran erinnern. Es war alles so verschwommen. Das Gesicht... Er konnte sich an zwei hellgrüne Augen erinnern. Das war alles. Und wieso konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was danach passiert war? Wie hatte er das vergessen können? Und wieso erinnerte er sich jetzt daran? Hing es irgendwie mit Madame Zoe zusammen? War sie das damals gewesen? Aber... aber dann hätte er sie doch wiedererkannt, oder nicht etwa? Es war alles so... voll Nebel. Ja... da war Nebel gewesen... Aber an mehr konnte er sich einfach nicht erinnern. Es bereitet ihn sogar richtige Kopfschmerzen.
Nachdenklich sortierte er das restliche Holz und ging dann hinein. Im Hofeingang wartete bereits ein Dienstmädchen auf ihn, die ihn zum Speisesaal bringen sollte, wenn er fertig war.
"Wenn es Euch nichts ausmacht würde ich mich gern vorher umziehen. Ich bin doch recht verschwitzt", murmelte er in Gedanken.
Das Dienstmädchen nickte und meinte, dass sei absolut kein Problem, er müsse sich jedoch beeilen, da Madame Zoe nicht gern wartete. Mit eiligen Schritten gingen sie durch die Burg und kamen schließlich zum Badesaal in dem er bereits am Abend zu vor gewesen war. Das Dienstmädchen sagte ihm, dass in dem kleinen Schrank ein frischer Anzug für ihn hinge, da man bereits mit gerechnet hätte, dass er sich frisch machen wolle.
Normalerweise legte Sill nicht so viel wert auf sein Äußeres. Zumindest nicht mehr, seit er mit Senna unterwegs war. Aber nun kam es ihm zu gute, da er so noch etwas ungestört nachdenken könnte.
Langsam entkleidete er sich und wusch sich mit dem Lappen, den man extra dafür an das Waschbecken gelegt hatte. Dabei lies er sich extra viel Zeit, um seinen Gedanken hinter her zu hängen, jedoch mit dem Ergebnis, dass es keines gab.
Alles beiseite schiebend lies er sich schließlich von dem Dienstmädchen in den Speisesaal bringen, in dem bereits alle anderen auf ihn warteten. Sogar Natal saß am gedeckten Tisch. Sill stellte fest, dass er müde und abgeschafft aussah. Na ja, das schadete dem kleinen Scheißer nicht. Wenn er lernte, mit anzupacken, würde er vielleicht doch nicht so ein Hindernis auf ihrer Reise sein. Und wenn doch, dann war es vielleicht besser, wenn der Junge einfach hier blieb. Er hatte ohnehin darüber nachgedacht, dass der Junge hier besser aufgehoben sei, als bei ihnen. Vor dem Schlafengehen würde er mit Senna darüber sprechen und ihre Meinung dazu einholen. Wenn es um solche Sachen ging, war sie einfach die Klügere von ihnen beiden.
Sie aßen zu Abend und unterhielten sich über belangloses Zeugs. Madame Zoe fragte nach Natals Befinden und ob er mit der Arbeit in der Küche klar käme.
"Oh ja!", antwortet der Junge energievoll, obwohl er total fertig aussah. "Es macht mir unglaublich viel Spaß. Der alte Weise hat gesagt, dass ich ihm morgen das Rezept zeigen darf, welches Ihr Euch gewünscht habt."
"Das freut mich, mein Junge. Ich glaube, der alte Weise mag dich. Er hat dich vorhin gelobt und gesagt, du seist sehr fleißig", lobte ihn Madame Zoe. "Ich hoffe, es wird dir morgen noch genauso viel Spaß machen."
"Ganz bestimmt!", lächelte Natal. Sill stellte fest, dass er zwar abgeschafft aber ungewöhnlich fröhlich wirkte.
Nachdem Essen bat Madame Zoe sie zu entschuldigen, sie müsse noch einen wichtigen Brief zu ende schreiben, würde sich dafür aber morgen extra viel Zeit für ihre Gäste nehmen und beauftrage ein Dienstmädchen, sie wieder zurück in ihre Gemächer zu bringen.
"Wie war dein Tag?", fragte Sill desinteressiert, lediglich um ein Gespräch anzufachen, während sie auf dem Weg in ihre Gemächer waren.
"Recht nett", antwortete Senna. "Madame Zoe hat mir ein wenig die Umgebung gezeigt. Ich weiß gar nicht, wie wir uns haben verlaufen können. In der Nähe liegt ein kleiner Waldweg. Aber der Wald hier ist wirklich schön. Du würdest gar nicht glauben, was für schöne Blumen hier blühen." Endlich erreichten sie ihr Zimmer und waren allein. Sill hatte damit gerechnet, dass Sennas Stimmung sofort umschlagen würde, stellte aber fest, dass dem nicht so war. Sie war nach wie vor gut gelaunt. Sie redete vergnügt auf Ilav ein und spielte mit ihm. Etwas, was sie äußerst selten tat. Aber das beunruhigte ihn nicht. Was ihn beunruhigte war die allgemein sehr heitere Laune seiner Gefährtin. Aber er wagte es nicht, danach zu fragen. Irgendwie hatte er ein ungutes Gefühl wenn er daran dachte, sie danach zu fragen. Außerdem interessierte es ihn nicht wirklich. Sollte sie gute Laune haben. Wieso auch nicht? Für ihn hatte das schließlich auch Vorteile. Und es dauerte nicht lange, bis er seinen Vorteil darauf ziehen konnte.
Kaum war Ilav eingeschlafen, zog sich Senna aus und machte sich daran, Sill zu verführen. So etwas lies er sich gern gefallen.
Er spürte ihren warmen, zerbrechlichen Körper unter dem seinen und ihre innere Wärme und genoss es. Es war wirklich lange her, dass sie in einem Bett miteinander geschlafen hatten.
Ihr Stöhnen konnte man bis auf den Flur hören und später war sich Sill sicher, dass das Natal davon abgehalten hatte, bei ihnen ins Zimmer zu schauen und ihnen zu sagen, dass er nun da war, denn es waren einige Stunden vergangen, als sie erschöpft neben einander zum liegen kamen. Der Schweiß glänzte auf seiner behaarten Brust und Senna legte ihren Kopf darauf. Während ihres Spieles hatte Sill das Licht gelöscht und nun sah er zu der dunklen Decke hinauf.
Worüber hatte er sich vorhin so Gedanken gemacht? Es war doch wirklich alles in bester Ordnung. Solange sie hier waren, konnte er seinen Gelüsten freien Lauf lassen. Außerdem bekamen sie warme Mahlzeiten und konnten sich waschen. Was beschwerte er sich? Was sollte hier nicht stimmen? Okay, die Hausherrin war etwas übernett und die Burg etwas seltsam. Aber er hatte in seinem Leben doch wirklich weit aus merkwürdigere Gestalten getroffen und sie verdächtigt, nur um fest zu stellen, dass sein Misstrauen keinen Grund hatte. Wieso sollte es hier anders sein? Er war mit der Zeit wahrscheinlich einfach übervorsichtig geworden. Und wer konnte ihm das schon verdenken? Sie waren auf ihrer Reise auf viele Leute gestoßen, die Dreck am Stecken hatten. Aber normalerweise waren dass doch die Leute gewesen, die am normalsten gewirkt hatten und keinerlei Verdacht erregten. Dieses Mal täuschte er sich ganz bestimmt.
Zärtlich strich er über Sennas Haar. Es reichte bis zur Hüfte...
Und da hielt er wieder inne. Bis zur Hüfte? Das konnte nicht sein. Er musste sich täuschen. Sie hatte es sich gestern geschnitten gehabt. Ja und mit der neuen Frisur hatte sie wirklich sexy ausgesehen. Sexy und viel reifer.
Er tastete abermals nach dem Haar. So ein Käse. Es war wieder schulterlang, wie zu vor, so wie es sich gehörte. Er musste so müde sein, dass er es mit der Decke oder so verwechselt hatte. Schließlich war die Decke flauschig und fast so seidig wie ihr Haar. Ja, dass musste es sein. Was denn auch sonst? Aber so vieles schien in dieser Burg ein Trugbild zu sein. Wie konnte es sein, dass sie ohne Treppen oder angehobene Wege in andere Stockwerke gelangten?
Langsam triftete Sill gedankenvoll in den Schlaf und damit in einen Traum.
Er träumte, wie er das dem Bett stieg und sich im Dunklen zur Tür vortastete, um anschließend hinaus auf den Flur zu treten. Seine Füße trugen ihm im Traum durch viele Gänge. Der Boden war unter seinen nackten Füßen angenehm warm, als läge dort kein Stein sondern ein flauschiger Teppich. Obwohl er im Traum nur mit seinen Shorts bekleidet war, fror er überhaupt nicht. Mondlicht fiel durch die weit auseinander liegenden Fenster und lies ihn die Umrisse des Weges erkennen.
Er kam in seinem Traum an unzähligen Türen vorbei, ging Wege, auf denen es keine Fenster und damit kein Licht gab und er sich vortasten musste und ging auch Wege, auf denen er lange Zeit keine einzige Tür entdeckte. In seinem Traum gab es im hintersten Winkel der Burg Treppen. Schmale, halb verfallene Treppen. Einige erklomm er, andere stieg er hinab. Wohin er wollte wusste er nicht. Es war einfach ein Traum, der ihn durch die Burg streifen lies. Im Schlaf dachte er, dass es wahrscheinlich daher kam, dass er sich vor dem Schlafengehen so viele Gedanken gemacht hatte. Irgendwann gelangte er in seinem Traum auf Wege, die mit kleinen Flammen an den Wänden beleuchtet wurden. Später konnte er nicht mehr sagen, ob es sich dabei um Fackeln oder etwas anderes gehandelt hatte. Im Schlaf interessierte es ihn einfach nicht. Langsam, wie unter Wasser, bestritt er weiterhin seinen Weg. Jetzt aber wählte er die Wege sorgfältiger, durchstreifte die Burg nicht mehr so planlos wie am Anfang des Traumes. Irgendwas zog ihn. Was es war, würde er erst am Ende des Traumes erfahren, da war sich sicher. Außer es weckte ihn jemand.
Es war unheimlich still in den Gängen und die Flammen an den Wänden verzerrten die kleinsten Schatten in riesige Monster. Dabei gab es in den Gängen nicht viel, was verzerrt werden konnte. Hier stand nichts und auch die Wände waren sehr schmucklos gehalten.
Ihm fiel auf, wie der Boden unter seinen Füßen allmählich kühl wurde. Vielleicht hielt er sich in seinem Traum im zerstörten Teil der Burg auf? Möglich war es. Denn er war nun schon so lange gelaufen, dass es unmöglich war, sich noch im heilen Teil aufzuhalten. Zwar war dieser groß, aber doch wieder nicht so riesig. Aber Träume verzerren natürlich alles und lassen das Surreale zur Realität werden. Und schließlich lies diese Burg viele Fragen offen, die man mit Hirngespinste beantworten konnte. Es war lange her, dass er so intensiv geträumt hatte. Normalerweise schlief er nicht wirklich sondern befand sich in einer Art wachem Halbschlaf. So etwas, wie ein Ruhezustand. Wieso war er heute wirklich eingeschlafen? War er so erschöpft gewesen? Nein, dass konnte nicht sein. Zwar hatte ihm das Holzhacken angestrengt, aber nicht so sehr wie an manchen Tagen das Laufen.
Plötzlich veränderte sich der Traum. Die Wände schienen für einen Augenblick zu verschwimmen, wurden dann aber wieder scharf. Er erblickte jemanden an der nächsten Ecke, der vor der Verzerrung nicht dort gestanden hatte. Ein Junge. Er rührte sich nicht und schien Sill einfach anzustarren. Aber um das genau zu sagen war er noch viel zu weit entfernt. Sill lief genau auf ihn zu. Irgendwie kam ihm der Junge bekannt vor. Und desto näher er ihm kam, desto mehr bekannte Züge nahm der Junge an. Zuerst dachte er, er würde von Natal träumen, stellte dann aber fest, dass dieser Junge hier viel zu groß und alt war. Er war sogar nicht mal mehr ein Kind. Eher ein Jugendlicher. Aber er kannte ihn. Zuerst konnte er nicht sagen, woher er ihn kannte, doch dann machte es plötzlich klick und er fragte sich, wieso er ihn nicht sofort erkannt hatte. Er hatte doch heute erst an diesen Jungen gedacht. Der Junge, der ihm damals gesagt hatte, dass Tschewar sich bis nach vorne durchringen konnte um einen Blick auf die reichen Fremden zu erhaschen. Gentros. Gentros, mit dem er als Kind gespielt hatte. Und der ihn jetzt in seinem Traum so anklagend ansah. Was war eigentlich aus ihm geworden? Er wusste es nicht mehr, glaubte aber, dass seine Familie fortgezogen war.
Sill bemerkte, dass der Junge ungewöhnlich blass war. Aber vielleicht lag dass auch nur an dem Feuerschein.
"Hey!", sagte Sill ganz automatisch. Doch Gentros starrte ihn weiterhin anklagend an, ohne auch nur im Entferntesten darauf zu reagieren. Sill kam argwöhnisch näher. "He, ist irgendwas?"
Gentros bewegte den Kopf so langsam, als hielte ihn eine dicke Masse davon ab und endlich bewegten sich seine Lippen. Seine Stimme klang genauso, wie Sill sie in Erinnerung hatte, aber es schwang ein so vorwurfsvoller Ton mit, den Sill noch nie an seinem Freund aus Kindheitstagen gehört hatte. "Wie konntest du es vergessen?"
Vergessen? Was vergessen? Meinte er das Gesicht der reichen Fremden und was danach geschehen war? Langsam fand Sill den Traum blöd. War etwas passiert, weshalb er sich Vorwürfe machte und deshalb davon träumte? Aber wieso ausgerechnet jetzt?
"Was?", fragte der Mann misstrauisch.
Der Junge hob langsam seine Hand und deutete auf sich und dann hinter sich. Wieder verzerrten sich einen Momentlang die Wände in seinem Traum und dann erblickte er all die Kinder mit denen er aufgewachsen war. Sogar seine Schwester. Wieso träumte er von ihnen? War das ein Albträume? Er wollte erwachen, konnte aber nicht.
"Was soll das?", fragte Sill.
Seine Schwester trat neben Gentros und antwortete ihm. Ihre Bewegungen waren genauso träge, wie die des anderen. "Wieso hast du vergessen? Bitte erinnere dich, lieber Bruder? Sieh doch!" Auch sie deutete zu den anderen und nun sah Sill Kinder, an die er sich entweder nicht erinnern konnte oder die sein Traum einfach dazu erfand.
"Was soll das?", fragte Sill noch einmal. Alles, was ihm über die Lippen kam, war irgendwie vorprogrammiert und gesagt, bevor er überhaupt wusste, dass er es dachte.
"Bitte erinnere dich doch!" Die Stimme seiner Schwester klang flehend und sie wollte auf ihn zu treten, doch Gentros hielt sie am Arm fest und warf ihr einen warnenden Blick zu, weshalb sie stehen blieb. "Was ist aus uns geworden?"
Sill stellte fest, dass er diese Frage nicht ohne weiteres beantworten konnte. Bis heute hatte er schließlich Jahrelang nicht einmal mehr daran gedacht. Wieso auch? Die Vergangenheit war abgeschlossen. Zumindest hatte er das gedacht. Aber jetzt merkte er, dass er wirklich nicht wusste, was aus seinen Freunden geworden war. Nicht über einen einzigen wusste er Bescheid. Nicht mal über seine Schwester. Aber hatte sie nicht geheiratet? Und waren die anderen nicht fortgezogen? Nein... Nein, dass stimmte nicht. Daran war etwas falsch. Irgendwas stimmte nicht damit!
"Wir geben dir einen kleinen Denkanstoß, mehr können wir nicht machen, alter Freund?"
Sill erschrak, als Gentros plötzlich vor ihm stand. Wann war er zu ihm gekommen? Der Traum wurde immer seltsamer. Sill wich zurück, als Gentros seine Hand hob und ihn berühren wollte. "Nicht", hauchte der Mann. Wieso zitterte er? Wovor hatte er Angst. "Ich will nicht..."
"Du musst." Mit diesen Worten streifte der Junge mit den Spitzen seiner Finger Sills Lieder. Es ging so schnell, dass Sill gar nicht reagieren konnte. Und dann waren sie da. Die grünen Augen, an die er sich erinnern konnte. Aber nicht nur sie. Sondern auch das Gesicht, dass zu ihnen gehörte. Es war das Gesicht einer Jungen, hübschen Frau, die überhaupt nichts mit Madame Zoe gemein hatte. Er fragte sich, wie er darauf gekommen war. Aber diese Frage beantwortete er sich selbst, als ihm die Erinnerung kam, dass der Mann im weißen Anzug neben der Dame plötzlich seinen Hut abgenommen hatte. Sill hatte ihm damals kaum Aufmerksamkeit geschenkt, denn die Schönheit der Frau hatte ihm jeglichen Gedanken an alles andere geraubt. Doch nun konzentrierten sich seine ganzen Erinnerungen auf den Mann neben ihr. Auf sein Gesicht. Auf das Gesicht des alten Weisen aus der Küche. Und dann wusste Sill wieder, was geschehen war. Es verschlug ihm den Atem und versank ihm Traume so sehr in die Erinnerungen, dass er alles noch einmal durchlebte. So wie so oft, nach diesem Tag. Er träumte nicht zum ersten Mal davon. Kurz danach hatte er es oft getan. Bis er endlich alles verdrängt hatte und eine Möglichkeit gefunden hatte, zu vergessen. Aber jetzt durchlebte er es ihm Traume noch einmal. Vielleicht zum letzten Mal. Er hoffte so sehr, dass er es zum letzten Mal durchleben musste. Aber es erschreckte ihn dieses Mal so sehr, wie noch nie zuvor. Nicht einmal am besagten Tag war er so entsetzt gewesen. Aber letztendlich war er nicht so sehr über die Ereignisse geschockt, er hatte schon schlimmeres erlebt, sondern, dass er es vergessen hatte. Vergessen, was mit den Menschen passiert war, mit denen er aufgewachsen war und die er geliebt hatte...


4


Zitternd und ängstlich saß der Junge in dem Versteck, welches er sich mit seinen Freunden geschaffen hatte, damit sie dem schrecklichen Alltag und den Erwachsenen entkommen konnten. Hier hatten sie Geheimnisse miteinander ausgetauscht und sogar ihre ersten, sexuellen Erfahrungen mit einander gemacht. Vor einiger Zeit hatte er Xillmie, die gleichaltrige Tochter des Pferdewirtes, mit hier her gebracht und sie hatte ihm angeboten, es ihm mit dem Mund zu machen. Zwar fand er das Mädchen mit ihren langen, schwarzen Haaren, die dass pferdeartige Gesicht unvorteilhaft betonten, hässlich, aber abgelehnt hatte er nicht. Und sie hatte es seiner Meinung nach wirklich gut gemacht. Auch wenn er natürlich überhaupt keinen Vergleich zu ihr hatte.
Mit diesem Gedanken versuchte er sich zu trösten und von den Bildern in seinem Kopf ablenken. Doch so ganz wollte ihm das nicht gelingen.
Das Versteck war eigentlich eine kleine Höhle im nahe gelegenen Wald. Als sie klein gewesen waren, hatte man ihnen verbotenen, hier her zu kommen, da angeblich gefährliche Tiere im Geäst lauerten, die nur darauf warteten, kleine Kinder zwischen die Zähne zu bekommen. Heute verbrachten sie viel Zeit am Fluss, der irgendwo seine Quelle im Inneren der Höhle hatte und durch das Dorf floss und noch mehr Zeit in der Höhle. Einmal hatten sie versucht die Höhle zu erkunden, doch nach dem sie auf mehrere Wege gestoßen waren und der Fluss irgendwo zwischen zwei Spalten verschwand hatten sie es gelassen, da sie clever genug waren, um das Risiko des Verlaufens zu kennen. Und keiner der Erwachsenen wusste etwas von dieser Höhle.
Normalerweise fühlte er sich hier sicher. Doch jetzt wollte sich das Gefühl der Geborgenheit einfach nicht einstellen. Tränen standen in seinen Augen. Wie lange saß er nun hier und wartete? Ärgerlich strich er sich die Nässe aus den Augen und rief sich in Erinnerung, dass er zu alt war, um rum zu heulen. Schließlich würde er bald ein richtiger Mann sein!
Der Wald vor ihm lag still und dunkel vor ihm. Die Sonne war vor geraumer Zeit untergegangen und langsam wurde es kalt. Tau legte sich nieder und Nebel zog auf. Aber der Junge wagte es nicht, Feuer zu machen, obwohl er gut wusste, wie man welches zündete. Die Angst, dass ihn der Rauch verraten könnte, hielt ihn davon ab. Morgen früh, wenn die ersten im Dorf aufstanden, würde er sehen, wie es dort zu ging und ob noch immer diese unheimlichen Fremden da waren. Wenn ja, dann würde er noch einen Tag abwarten und wenn sie bis dahin nicht verschwunden waren, dann würde er wahrscheinlich nie wieder zurückkehren.
Die grausigen Bilder tauchten vor seinen Augen auf. Er hatte durch einen Türspalt gesehen, wie diese Frau etwas mit seiner Schwester tat und diese dann einfach zusammensackte. So richtig hatte er nicht sehen können, was sie getan hatte, aber später, als sie fort war, war er zu seiner Schwester gegangen und sie war... Er konnte es gar nicht in Worte fassen. Sie war bei vollem Bewusstsein gewesen und doch starrte sie einfach vor sich hin und sabberte wie ein kleines Kind. Als hätte sie mit einem Mal den Verstand verloren. Doch das Schlimmste war, dass ihrer beiden Eltern daneben gestanden hatten, als diese fremde Frau dies seiner Schwester antat. Sie hatten sogar seine Schwester nur deshalb geholt und sich sogar noch bedankt, bevor die Fremde gegangen war. Was hatte diese Frau nur mit seiner Schwester und seinen Eltern getan? Sie musste eine böse, böse Hexe sein. Aber was für einen Zweck hatte ihr Tun. Er konnte es nicht sagen und es war ohnehin gleich, denn er vermutete, dass seine Schwester nicht das einzige Opfer gewesen war. Es war etwa eine Woche her, dass die Fremden in die Stadt gekommen waren. Seither hatte sich das Verhalten der Erwachsenen merkwürdig verändert. Sie waren überfreundlich zu den Kindern geworden und hatten ihnen auf einmal möglichst viel Freizeit gelassen. Selbst sein eigener Vater hatte ihn nicht mehr die schweren Fässer in die Kneipe schleppen lassen. Zuerst waren die Kinder sehr erfreut darüber, doch dann waren nach und nach drei von ihnen nicht mehr zum Unterricht erschienen. Aber was Sill ab besorgniserregendsten fand war, dass sich offensichtlich niemand mehr außer ihn an die anderen Kinder erinnern konnte. Wieso? Was hatte diese böse Hexe getan? Und wieso hatte sie es nicht mit ihm getan? Wieso nur? Es wäre ihm so viel lieber gewesen, wenn sie es auch mit ihm getan hätte. Er war in den Wald gerannt, weil er einfach nicht wusste, an wen er sich wenden sollte. Sie schauten ihn ja ohnehin doof an, wenn er von jemanden sprach, der einfach nicht mehr aufgetaucht war. Er fragte sich, ob mit ihnen dasselbe passiert war, wie mit seiner Schwester.
Es war so schrecklich gewesen. Eigentlich hatte er schlafen sollen. Aber seit geraumer Zeit schlafwandelte er. Bisher war das nur in seinem eigenem Zimmer passiert. Doch dieses Mal war er die Treppe zur Kneipe hinunter gelaufen und war erst erwacht, als er sich seinen großen, nackten Zeh, am Türrahmen gestoßen hatte. Leise hatte er geflucht und wollte wieder die Treppe hinauf gehen, als er plötzlich Stimmen aus der Küche gehörte hatte. Dabei musste es bereits so spät gewesen sein, dass selbst seine Eltern schliefen.
Neugierig geworden war er zur Küchentür geschlichen und hatte durch den Türspalt gelunzt. Er hatte die Rücken der reichen Frau und des alten Weisen aus Küche - wie sie den Mann im weißen Anzug, der sie stets überall hin begleitete vorgestellt hatte - erkennen können, so wie seinen Vater und seine Schwester, die halb verdeckt von den anderen worden war.
"Gut. Ich denke, dann sind wir uns einig. Ich werde dann Ihren Sohn und die anderen Kinder morgen mit mir nehmen. Sie waren die letzten, deren Einwilligung wir brauchten", hatte der alte Weise verkündet.
Sills Vater hatte stolz genickt. "Aber natürlich, gerne. Es ist uns eine große Ehre, dass Ihr unseren Sohn mit Euch nehmen wollt."
Anschließend hatte diese Frau - Sill hatte ihren Namen vergessen - die Hände gehoben und seiner Schwester angewiesen, näher zu treten, die dies bereitwillig getan hatte. Dadurch war sie völlig von den anderen verdeckt worden. "Jetzt wollen wir uns erst einmal Ihrer Tochter zu wenden."
Was danach passiert war, hatte Sill nicht wirklich erkennen können, da er nur die Rücken gesehen hatten. Aber es war sich sicher, dass irgendwas Schlimmes passiert war. Denn danach war seine Schwester in sich zusammengesackt und als sein Vater sogar noch dafür dankte, war er still und leise in sein Zimmer geschlichen, mit dem Entschluss, später nach seiner Schwester zu sehen. Zwar hatte sie ihn oft genervt und sogar aufgezogen, aber es war dennoch, die einzige, die er hatte und damit die einzige, die er lieben konnte.
Nachdem alles im Haus still geworden war, schlich er dann wie vorgehabt in die Küche zurück um nach seiner Schwester zu sehen. Dann war er hier her gekommen. Nein, nicht einfach nur gekommen. Er war hierher gerannt. Richtig gehetzt war er. Er begriff noch gar nicht richtig das Entsetzen, dass sein Vater dies alles zu gelassen hatte. Dass sie anderen Eltern es mit ihren Kindern geschehen ließen. Und dass diese Fremden offensichtlich alle anderen Kinder mitnehmen wollten. Aber nicht mit ihm! Eher würde er von daheim weglaufen, als mit ihr zu kommen. Niemals würde er mit ihr gehen! Nein! Ausgeschlossen! Aber er verstand einfach nicht, wieso er der einzige war, dem dies alles auffiel und wieso sich seine Schwester nicht einmal gewehrt hatte. Das überstieg einfach seinen Verstand. Aber wohin sollte er gehen, wenn er gezwungen war, mit den Fremden zu gehen? Hier, in dieser Höhle konnte er nicht bleiben, da sie ihn hier sicherlich entdecken würden. Doch darüber wollte er sich jetzt keine Gedanken machen. Das hatte Zeit. Er wurde morgen erst einmal die Lage überprüfen. Vielleicht sollte er vorher etwas schlafen. Ja, Schlaf tat ihm jetzt sicherlich gut.
Mit etwas Laut unter sich versuchte es sich der Junge so bequem wie möglich auf dem erdigen, harten Boden der Höhle zu machen. Aber auch als er die bequemst möglichste Position gefunden hatte, konnte er einfach nicht einschlafen. Ihn verfolgen die Bilder und er hatte Angst, wieder zu schlafwandeln und dann ins Dorf hinunter zu wandern.
Schließlich brach der neue Morgen an. Sill wartete bis die Sonne etwa ihren halben Aufstieg hinter sich gebracht hatte, bevor er sich endlich aufraffte. Seine Glieder waren steif und verspannt. Aber das störte ihn nicht. Langsam und vorsichtig ging er hinunter zum Dorf. Er wollte auf keinen Fall entdeckt werden. Aber das war fast gar nicht nötig. Im Dorf herrschte reges Treiben, so wie damals, als die Fremden gekommen waren.
Was war los? Vorsichtig stahl sich Sill von Haus zu Haus und verbarg sich im Schatten. Dass konnte er relativ gut, da sie als kleine Jungen Cowboy und Geheimagent auf diese Art und Weiße gespielt hatten.
Als er an ihre Kneipe gelangte, schlich er sich hinein. Er hatte seine Eltern zwischen den anderen Leuten auf der Straße gesehen und die Erwachsenen waren alle zu groß, als dass er richtig sehen konnte, was dort vor sich ging. Deshalb wollte er aus dem Fenster des Elternschlafzimmers sehen, welches direkt auf die Straße zeigte. Und je nach Situation blieb ihm dann noch die Wahl, ob er ein paar Sachen zusammenräumte oder einfach hier blieb.
Ungesehen schlich er sich hoch und schaute auf die Straße hinunter. Dort standen die Fremden. Sie hatten hier einen Wagen und ein Pferd gekauft. Sill hatte sich zuerst gefragt, was sie damit wollten, als er davon hörte. Denn die Fremden schienen keinerlei schweres Gepäck bei sich zu haben. Doch nun sah er, dass die Fremden das Pferd vor das Wägelchen gespannt hatten und dieses Wägelchen war mit allen Kindern im Dorf beladen. Sogar seine Schwester entdeckte er unter ihnen. Sie lag einfach an eine Wand gelehnt und neben ihr die drei anderen. Aber niemand schien es zu stören, dass sie einfach ausdruckslos vor sich hinstarrten und dass der eine sogar anfing, seinen Arm aufzubeißen. Es herrschte eine ausgelassene, fröhliche Stimmung und man rief den Fremden Grüße zu.
Sill hatte genug gesehen. Sill hatte genug gesehen. Er schlich sich in sein Zimmer und packte nur die wichtigsten Sachen ein. Eine warme Hose und ein warmer Pulli. Und eine Feldflasche Wasser, so wie etwas Brot und Käse. Dann stahl er sich davon. Das ging ohne Probleme, da das gesamte Dorf auf der Straße vor der Kneipe stand. Er dachte, dass er nie wieder zurückkehren würde, doch in einem Jahr würde er hier wieder leben, als sei nie etwas gewesen.



5​


Sills Traum änderte sich abermals. Die Erinnerung, das Reale darin war verschwunden. Er stand wieder in dem Gang, von dem er geträumt hatte, hier stünden seine Schwester und sein alter Freund. Jetzt war er allein. Und er fror. Die Wände hier waren nicht mehr so warm wie im heilen Teil der Burg.
Seine Füße trugen in tiefer in den Gang hinein und steuerten zielstrebig eine Treppe an, die nach unten führte. Sie ging spiralen förmig und er zählte im Traum die Stufen. Es waren ganze siebenhundertundacht Stufen. Dann endete die Treppe in eine Tür aus Holz. Sill hielt kurz inne. Aus dem Raum, der hinter dieser Tür lag, drangen Geräusche. Ein Rascheln. Und Wimmern.
Als Sill die Tür öffnete knarrte diese und im Raum dahinter wurde es still. Er blickte in einen kleinen Saal, in dem unzählige kleine Betten standen, auf den Kindern saßen oder lagen. Doch es waren nicht genug Betten für alle da. Aber das war nicht einmal das entsetzlichste. Die Kinder schienen alle geistig zurückgeblieben zu sein. Manche starrten einfach nur vor sich hin, andere sabberten und murmelten wirres Zeugs vor sich hin. Doch dass, was ihn am meisten erschreckte war, dass die Kinder allesamt abgemagert waren und einige von ihnen sogar halb verwest in der Ecke lagen und sich die Kinder offensichtlich von diesen ernährten. Manche hatten sich sogar selbst ihr eigenes Fleisch aufgebissen und bluteten aus verschmutzten Wunden. Es stank fürchterlich in diesem Raum, obwohl Sill vermutete, dass in dem Raum dahinter ein Bad lag. Die Kinder waren geistig einfach nicht anwesend und reagieren lediglich mit Schweigen, als die Tür aufschwang.
Langsam machte er einen Schritt hinein und trat in etwas Warmes, Klebriges. Er blickte nach unten und entdeckte eine Blutspur, die zu einen der Kinder führte. Es fühlte sich so real an. Überhaupt nicht wie ein Traum.
Er war wach. Hellwach. Das konnte nur heißen, dass er geschlafwandelt war. Ja, er musste geschlafwandelt sein und geträumt haben, hier seien die Kinder, mit denen er aufgewachsen war. Eine andere Erklärung gab es nicht, denn er war sich ganz sicher, nicht im wachen Zustand hier hergekommen zu sein. Aber es war Jahre her, dass er geschlafwandelt hatte. Das letzte Mal war gewesen als...
Der Traum kam zurück und Sill machte sich daran, durch die Gänge zu eilen. Sie mussten hier weg. Unbedingt. Sie waren genug verwöhnt worden. Er konnte nur hoffen, dass es noch nicht zu spät sein würde...
Er wandte sich von den armen Kindern ab, die dort im Raum saßen und verkümmerten. Sie interessieren ihn nicht. Für se konnte er einfach nicht mehr machen. Was wichtig war, war dass er nun zu seinem eigenen Kind eilte.
Während er durch die Gänge eilte stellte er fest, dass ein Teil der Burg unterirdisch veranlagt war und dass es nicht das Mondlicht gewesen war, dass durch die Fenster fiel, sondern das schwache Leuchten der Blätter, welches dem Mondschein sehr ähnlich war. Aber dafür hatte er jetzt eindeutig keine Zeit.



6​


Auszug aus der großen Bibliothek, Sill Thum, Band 5...

Wie hatte ich dass damals vergessen können? Wie nur? Es war doch meine eigene Schwester gewesen!
Das Jahr hatte Großteils in einem Dorf verbracht, dass von meinem etwa einen Tagesmarsch entfernt lag. Dort habe ich gearbeitet und mir mein eigenes Brot verdient. Wieso war ich in mein Dorf zurückgekehrt? Ich weiß es nicht mehr. Aber noch unbegreiflicher ist es für mich, dass ich die Geschehnisse vergessen konnte. Das werde ich mir nie verzeihen.
Wären wir nicht auf diese verdammte Burg gestoßen hätte ich mich vielleicht niemals daran erinnert! Aber vielleicht ist es besser so. Ich kenne die Alternativen nicht. Aber fest steht, dass, wenn ich mich nicht erinnert hätte, wir niemals etwas vom blauen Hirschdrachen erfahren hätten. Aber ich kann einfach nicht fassen, dass es bis zu diesem Zeitpunkt vergessen hatte. Und es ist irgendwie seltsam. Die ganze Zeit über dachte ich, es sei Madame Zoe, die irgendwas verheimlicht. Natürlich hat auch sie ihre Geheimnisse gehabt. Aber das merkwürdigste ist doch, dass ich nicht den geringsten Verdacht spürte, als sie uns den alten Weisen aus der Küche vorstellte. Ich hielt ihn einfach für einen einfachen Koch, der in Kräuterkunde sehr bewand ist. Wie man sich doch täuschen kann.
Diese Nacht hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Bevor ich einschlief, war ich glücklich und zufrieden, aber vor allem befriedigt, da ich lange nicht mehr solch ausgiebigen Sex mit Senna gehabt hatte. Es war der beste seit langem gewesen.
Doch als ich dort im kalten Gang erwachte, nur den Feuerschein als einzige Lichtquelle, fühlte ich mich wie damals als vierzehnjähriger, nachdem ich beobachtet hatte, was mit meiner Schwester geschah. Selten habe ich mich so hilflos und panisch gefühlt. Ein Gefühl, dass ich sonst gar nicht kenne. Eine greifbare Gefahr kann man mit Fäusten zerschlagen, doch diese unsichtbare Gefahr, die vom alten Weisen und Madame Zoe ausgingen, dagegen war ich machtlos. Man hatte mir mal, als ich klein war, beigebracht, wie man mittels Magie Feuer entzündete, aber das war es auch schon. In dem Dorf, in dem ich aufwuchs war Magie einfach nur eine Hilfe für das Alltägliche, nicht mehr und nicht weniger. Und so konnten es die wenigsten beherrschen.
Doch damals, in dem dunklen Gang, als alles hoch kam, wünschte ich mir innig, gelernt zu haben, Magie auch in anderen Weisen zu gebrauchen. Aber so war es nicht und deshalb blieb mir nichts anderes übrig, als einfach zurück zu eilen und die anderen zu wecken, damit wir so schnell wie möglich aufbrachen. Dass ich mich nicht verlief verdankte ich alleine meinem fotografischem Gedächtnis, dass offensichtlich selbst im Traume funktionierte. Trotzdem war es kurz vor Sonnenaufgang, als ich unser Schlafzimmer erreichte...
 
Zuletzt bearbeitet:

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
So, Kapitel "Mit- oder Gegenspieler?" ist nun auch online, obwohl ich denke, dass sich dort noch immer heimtückische Fehler verstecken und ich früher oder später ohnehin irgendwas hinzufügen, streichen oder sonst irgendwie ändern werde. Aber da ich jetzt schon seit fast einem Monat dran rumkrickle, dacht ich mir, dass es langsam zeit wird, bevor ich noch irgendwie durchdrehe

Gruß
Nakyo
 

Ironhide

Na hast du Angst Kleiner?
VIP
So, ich hab zwar erst den Prolog gelesen, muss näcmlich jetzt gleich noch weg, aber wenn es so weitergeht und der Rest hält, was der Anfang verspricht, dann bin ich schon ganz gespannt darauf den rest zu lesen. ;)

Also der Prolog ist super beschreiben, die Kälte und die Gefühe der Protagonisten kommen sehr gut rüber.

So, aber ich hab n kleinen Fehler gefunden, dierekt zum anfang, im Gedicht^^

gelich die zweite zeile: Monet heiß das Moment?
 

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Nein, Staubkind singt wirklich Monet bzw. nicht singt sondern sagt xD Das stimmt also so ^^
Schön, dass du den Prolog schon mal interssant findest =) Aber ich befürchte, der Anfang wird erst einmal ein wenig zäh werden, wobei ich diesen so beibehalten möchte. Hoffe mal, du lässt mcih deine Meinung noch zum Rest wissen. ^^

Gruß
Nakyo
 

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Sorry für den Doppeltpost (hoffe mal auf die automatische Beitragszusammenfügung) aber ich wollt noch drauf aufmerksam machen, dass ich nun auch "Zwischenspiel (I)" zur Verfügung gestellt habe, auch wenn dieses Kapitel arg kurz ist (es ist eben nur ein Zwischenspiel) und wer da "spricht" wird man wohl erst am Ende meiner Geschichte erfahren. Zumindest war es nicht ihr/sein letztes Lebenszeichen. ^^
 

Ironhide

Na hast du Angst Kleiner?
VIP
So, nun bin ich auch endlich dazu gekommen, mir mal alles durch zu lesen und ich muss schon sagen, ich bin gespannt auf den nächsten Teil^^

Es ist irklich viel zu lesen, aber es lässt sich auch gut lesen ;) Bin gespannt was es mit Natal und seinen begleitern auf sich hat. Und taucht das leine Mädchen nochmal wieder auf und erfährt man mehr über sie?
 

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Sagen wirs so... ich hasse Leute, die auftauchen, obwohl sie keinen großen Nutzen haben. Mehr verrate ich zu Sha'abre noch nicht ^^

Na ja...natürlich ist es viel zu lesen, eigentlich nochmehr als dort steht. Sind schließlich 50k Wörter gewesen, die ich innerhalb des Novembers geschrieben hatte ^^ Und die Geschichte hat bei diesen 50k noch nicht einmal die Häfte erreicht gehabt. Sie wird also wohl noch eine ganze Zeitlang fortgesetzt werden.
 

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
Es grenzt fast an ein Wunder...
Nach meinem PCcrash glaubte ich, alles von "Der blaue Hirschdrache" verloren zu haben, bis auf das, was ich hier bereits gepostet habe. Denn auf der externen hatte ich auch nichts gesichert. Und dann fiel mir gestern abend plötzlich ein längst vergessener USB-Stick in die Hand und siehe da. Alles, bis zur letzten Seite ist darauf vorzufinden. Und nun für euch, das nächste Kapitel: "Merkwürdige Spielgenossen".
Ich habe versucht, alle Fehler zu eleminieren, aber ihr findet bestimmt noch was. Aber auf jedenfall viel spass beim Lesen!

Gruß
Kýestrika
 

Ironhide

Na hast du Angst Kleiner?
VIP
Sooooooooo
nun hab ichs endlich gelsen und ein wenig sacken lassen, sehr schön udn wie imemr sehr detailreich geschreiben, wie immer :)
Ich kann dir nur meine Hochachtung aussprechen, für dieses Werk^^
 

Kýestrika

Otakuholic
Otaku Veteran
auch wenns letztemal nur sehr wenig Kommentare zu gab... hier ein neuer Teil.. ichhoffe, es sind alle Fehler draußen
Bald fängt der November wieder an, und auch dieses Jahr findet der NaNoWriMo statt und je nach dem, wieviel Zeit ich haben werde, werd ich auch dieses Jahr wieder dran teilnehmen... Ob ich aber an dieser Geschichte hier oder an einer neuen schreibe, weiß ich noch nicht, noch hab ich ja nen monat zeit ^^ ach ja, derzeit sitze ich an einem Glossar für BHD ^^
 
Zuletzt bearbeitet:

Ironhide

Na hast du Angst Kleiner?
VIP
Wieder eien Menge zu lesen und auch sonst, das gewohnte Bild beid er Geschichte, sehr Detailreich :)
Sicherlich ist das hier nicht jedermanns Sache, aber mir gefällt es und ich lese es gerne. Schade das es sonst keinen zu Interessieren scheint ;)
 
Status
Für weitere Antworten geschlossen.
Oben