[Biete] Der Diener

Neverman

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Ich habe diese Geschichte vor glaube ich etwas mehr als zwei Jahren geschrieben. Ich schrieb jahrelang nur Fantasy und das Werk entstand nach einer monatelangen Pause.
Inzwischen habe ich mich von Fantasy abgewandt, da mir dieses Gebiet mit zu vielen Klischees verunreinigt erscheint und ich keine Möglichkeit mehr sehe, etwas wirklich neues, eigenständiges zu schreiben, dass mit Fantasy zu tun hat.

Lasst euch nicht von der Länge schockieren.^^°

Der Diener

Ich möchte mich vorstellen. Mein Name ist Eduard. Von Beruf bin ich Priester.

Ich schrieb dies, weil ich hoffte dass jemand meine Gedanken oder Gefühle verstehen kann. Wahrscheinlich würde man mich für verrückt halten, aber ich kann damit leben, denn ich habe mehr gewonnen als verloren.

Zuerst einmal: Was ist mit meinem Opfer passiert?
Er starb. Der Mann krepierte elendig vor seiner Haustür. Wohlwissend, weswegen er sterben musste, aber nichtsahnend darüber, wer ich war. Danach habe ich den Dolch rausgezogen und auf den Boden gelegt. Es gehörte zu meinem Auftrag das Tatwerkzeug dazulassen. Es war ein sehr teurer Dolch. Ich bin sicher gegangen, dass der Mann wirklich tot war, denn ein Fehlschlag wäre absolut unakzeptabel. Danach bin ich gegangen.
Jetzt kommen wir zur wohl interessantesten Frage: Wieso das Ganze?
Ich war sehr religiös. Ich bin mit Religion aufgewachsen und schon sehr früh erkannte ich die ruhige Gewissheit darüber, dass über uns jemand ist, der unser aller Schicksal in der Hand hält. In meiner Religion würde man ihn wohl Gott nennen. Aber je nach Land und Religion hat er einen anderen Namen. Buddha, Allah, oder andere. Aber alle haben eines gemeinsam: Sie sind gnädig, behüten und beschützen uns. Und dann, mit zwanzig Jahren passierte es. Ich hörte Gottes Stimme. Nach so vielen Jahren, in denen ich, zugegebenermaßen ein bisschen heuchlerisch war, hörte ich endlich die Stimme des Allmächtigen. Und er sagte folgendes:
„Eduard. Werde mein Diener.“

Ihr müsst euch vorstellen, dass ihr euer Leben lang auf eine Beförderung wartet und mit einem Schlag steht ihr auf der Karriereleiter ganz oben. Ich war zuerst verwirrt, ich dachte ich wäre verrückt, aber die Stimme Gottes ist nie wieder verschwunden und auch jetzt höre ich die Stimme immer noch. Von da an war ich Gottes Diener. Ich vollendete die Schule und studierte Religion. Während dieser Zeit begleitete mich Gott, erzählte mir Sachen, die nicht in der Bibel oder in anderen Büchern aus meiner Studienzeit standen und legte mir Worte in den Mund, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Ich bestand die Studienabschlussprüfung mit Summa Cum Laude und konnte von nun an im ganzen Land in jeder Kirche, Kapelle, Kathedrale oder Dom arbeiten. Ich fing in einer kleinen Kirche in meiner Heimatstadt an. Ich war glücklich mit dieser Stelle, ich war Zuhause. Die Predigten kamen mir leicht über die Lippen. Ich predigte über Demut, Lebensfreude und Bescheidenheit. Schon bald kamen Menschen aus anderen Städten in meine Kirche um mich reden zu hören und es dauerte nicht lange, bis der Kardinal höchstpersönlich unsere Stadt beehrte. Er besuchte die Sonntagspredigt, in der ich über Sünde und Vergebung sprach. Nach dem Gottesdienst kam er zu mir und bot mir eine Stelle in der Hauptstadt an. Ich würde zukünftig in einer großen Kathedrale arbeiten können und würde zu mehr Menschen sprechen können, verkündete er mir. Mit Freude sagte ich zu, denn ich wollte so viele Menschen wie möglich mit meinen Worten erreichen. In dem Augenblick der Freude dachte ich nicht an meine Familie und meine Freunde. Die Kirche und ihre Besucher waren in dem Moment auch vergessen. Ich sagte zu. Als mir bewusst wurde, dass mich alle Kirchgänger aus meiner Stadt, als auch meine Freunde und Familie sehr vermissen würden, dämpfte dass die Freude ein bisschen. Aber ich wollte und konnte Gott meinen Dienst einfach nicht entsagen, ich musste weg und Gottes Worte in mehr Ohren legen.

Ich zog in die Hauptstadt und bewohnte dort eine kleine Mietwohnung. Der Dienst in der großen Stadt war ein ganz anderer als in meinem kleinen Provinznest, wo jeder jeden kannte. Ich konnte vor viel mehr Menschen das Wort Gottes predigen, aber gleichzeitig lag auch eine größere Verantwortung auf mir und der persönliche Bezug zu den Zuhörern fehlte fast komplett. Es war plötzlich schwerer geworden eine Predigt zu schreiben, die alle ansprach. Aber auch hierbei half mir Gott. Sein Geist inspirierte und beflügelte mich. Nachdem sich die Anzahl der Kirchgänger im ersten halben Jahr fast verdoppelt hatte, kam der Kardinal abermals zu mir und wollte mit mir über eine Beförderung sprechen. Aber ich lehnte ab. Hätte ich zugestimmt, hätte ich zwar mehr Geld bekommen, aber welch wahren Gläubigen interessiert schon das schnöde Metall? Es wäre hauptsächlich eine Demutslektion, dass ich in der Kirchenhierarchie unten bliebe und außerdem wollte ich das Wort Gottes predigen! Ich wollte es direkt in die Ohren meiner Zuhörer tragen! Ich wollte nicht schreiben oder anderen Papierkram erledigen. Ich war glücklich, wenn verbitterte Menschen hinterher entspannt aus meiner Kathedrale gingen. Nur dann war ich glücklich. Der Kardinal war sichtlich verstimmt über diese Botschaft, aber er respektierte meine Entscheidung und ging. Ich predigte also weiter und die Menschen kamen in die Kirche um mich zu hören. In der Stadt und in den Zeitungen war ich bekannt als „begeisterungsfähiger, überzeugender Diener Gottes“.

Nach einem weiteren halben Jahr passierte es dann. Unser Land wurde in den Kriegszustand gerufen. Ich mischte mich nicht in die Politik ein, aber später bekam ich die Gelegenheit zu erfahren, was genau passiert ist. Es gab einen Streit, was Lieferungen von bestimmten Artikeln anging. Beide Länder saßen dem Irrtum auf, dieselben Güter zu produzieren und anschließend ins damals noch befreundete Partnerland zu schicken. Dadurch hatte nur ein Land die Güter die es brauchte, während die anderen auf einem Berg von Waren saß und die nicht loswerden konnte. Eindeutig ein bürokratischer Fehler, den die Angestellten ausbügeln mussten. Und tatsächlich rollten einige Köpfe. Es entbrannte ein Streit, der sich, aufgrund von unfähigen Politikern, die sich selbst keine Fehler eingestehen konnten, immer mehr verschlimmerte, bis wir dem anderen Land den Krieg erklärten. Da so etwas nie geplant war, wurden wir urplötzlich mit der Situation konfrontiert, Waffen und junge Menschen segnen zu müssen, die sich freiwillig für den Krieg meldeten. Innerhalb von wenigen Tagen standen in jeder Stadt und in jedem Dorf sogenannte „Kriegssammelstätten“, in denen sich Freiwillige melden konnten. Sie wurden dann eingeteilt in Truppen und anschließend in die Regierungsstadt transportiert, wo eine sehr schnelle, nachlässige Ausbildung stattfand. Ich selbst verabschiedete mindestens zwanzig junge Männer aus meiner Kirche und auch zwei Ärzte, die alle in den Krieg zogen. Wer weiß, ob da nicht auch ein gewisser Druck, namens „Erpressung“ hinter stand. Von einem Tag zum anderen war die Stadt wie leergefegt vom jungen Volk und in meiner Kirche saßen nur noch sorgenvolle Mütter und die anderen armen Seelen, die darauf hofften, dass sie keine schlechten Nachrichten trafen. Uns Priester hätte man sicher auch am liebsten alle eingezogen aber wir hatten unser Gelübde, welches uns körperliche Gewalt verbot. Die Regierung wusste genau, dass wir eine der Hauptmächte sind, um Menschen zu manipulieren. Damals war mir das noch nicht so klar, aber mit der Zeit kam die Gewissheit, dass die Kirche auch nur eine riesige Propagandamaschinerie ist, die für die Politik missbraucht wird. Ich sah Söhne und Väter, die davonzogen, Mütter und Ehefrauen, die um die Leben ihrer Angehörigen bangten und wie viele von ihnen zusammenbrachen, wenn der gefürchtete Kriegsberichterstatter die Stadt besuchte, um die Toten bekannt zu geben. Eigentlich war das tägliche Leben wie immer. Nur anstatt von bunt gekleideten Menschen tummelten sich plötzlich nur noch Uniformierte auf den Straßen. Obwohl Krieg war, war es nicht wie aus den Geschichten. Die Sonne schien trotzdem weiter und es gab weiterhin Kriminalität, Streit und die ganzen anderen alltäglichen Probleme. Man bekam nicht viel mit, was an der Front passierte und ich glaube, es war auch besser so.

Später las ich Kriegsberichte von Menschen aus Feindesland. Es muss schrecklich gewesen sein. Obwohl sie ihre gesamte Streitkraft aufgestellt hatten, haben unsere Männer sie nach monatelangen Kämpfen mit einem einzigen finalen Schlag besiegt. Danach fing die wahre Grausamkeit an. Unsere Soldaten sind danach, voll mit Adrenalin vom Sieg, durch das Land gefahren und geritten und haben Städte geplündert, Frauen vergewaltigt und wahllos Menschen getötet. Wie die Barbaren waren sie selbst so betaumelt vom Sieg, dass sie gar nicht mehr wussten, was sie überhaupt taten. Städte und Dörfer wurden verwüstet, ihre Ländereien wurden zertrampelt und alles was gefährlich werden konnte, wurde beschlagnahmt oder zerstört. Die Soldaten, die sich ergaben, kamen in Kriegsgefangenschaft, wollte sich ein gegnerischer Soldat nicht ergeben, wurde er getötet. Das Land muss schrecklich ausgesehen haben und auch jetzt noch hat sich das Land nicht erholt vom damaligen Krieg. Und dann kam das Ereignis, dass mein Leben von Grund auf ändern sollte. Eine Nachricht ereichte mich.

Der Bote gehetzt, aufgrund der vielen Nachrichten, die er noch an andere überbringen musste. Egoistisch gegenüber den Menschen dessen Leben mit einem Brief zerstört werden konnte. Es interessierte ihn einfach nicht. Bestimmt erratet ihr schon, um was es in dem Brief ging, weil ich mich so sehr über die Gleichgültigkeit des Boten echauffiere. Meine Familie war tot. Mein Vorgesetzter aus der Kirche in meinem Heimatort schrieb mir, dass ein Kriegsgefangener entfliehen konnte. Der Mann hatte sich ein Werkzeug geschnappt und regelrecht eine blutige Schneise durch unser Dorf geschlagen. Mehrere Soldaten tötete er und zuletzt meine Familie, da sie ihm Eintritt in unser Haus verwehrten. Natürlich stand das nicht alles im Brief, aber ich erfuhr es später. Als ich die Zeilen las war mir, als wäre ich eine Klippe runtergesprungen. Plötzlich versank das Herz und ich hatte das Gefühl, ich würde ewig fallen. Wer schon einmal einen Menschen verloren hat, wird mir zustimmen, dass man das Gefühl hat, als würde man den Boden unter den Füßen verlieren. Der Bote verschwand um weitere seiner Todesnachrichten zu verteilen. Ich war fassungslos. Der Bote würde für seine Gleichgültigkeit büßen wurde mir in dem Moment tief im Inneren klar, aber noch war ich zu geschockt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Unruhig verfasste ich einen Zettel. Ich weiß nicht mehr was draufstand, aber niemand stellte Fragen als ich von meiner Reise wieder zurückkehrte. Ich ritt also, in meine Heimatstadt.

Nur wenige Leute erkannten mich nach den anderthalb Jahren wieder, viele junge Leute waren gestorben und fremde Soldaten bewohnten zurzeit die Stadt. Ich sprang ab von meinem Pferd und rannte in voller Priestertracht zu unserem Familienhaus. Ich stieß die Tür auf und rannte im Haus umher, blieb aber sofort im Esszimmer angewidert stehen weil sich eine Blutspur quer über die Wand zog. Hatte niemand sich die Mühe gemacht und nach den Morden saubergemacht? Niemand war da. Das gesamte Haus war kalt, leer und zusammen mit den Blutspuren, die ich in drei Räumen fand, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Mir fröstelte. Ich suchte die heimische Wärme und den typischen Geruch, den wir alle von Zuhause kennen, aber vergeblich. Es war nicht weiter mein Zuhause. Für mein Alter war ich emotional wohl noch nicht komplett ausgereift, aber ich hatte eine sehr starke Beziehung zu meinen Eltern und meinen Geschwistern. Abgesehen von den Möbelstücken und alten Erinnerungen verband mich ohne die Personen, die das Haus bewohnten, nichts mehr. Ich wusste nicht, wann ich aufhören würde zu fallen, aber noch stellte sich die Trauer nicht ein, sondern bis jetzt nur Unfassbarkeit über das Geschehene.

Ich ging zur Kirche, wo ich mich erst einmal hinkniete und betete. Ich glaube, das war das erste mal, dass Gottes Stimme in mir schwieg. Mein ehemaliger Vorgesetzter Priester Humboldt kam auf mich zu:
„Wie geht es dir Eduard?“
fragte er vorsichtig. Ich strafte ihn mit Schweigen.
Natürlich ging es mir elend, ich hatte meine Familie verloren.
Giftige und sarkastische Gedanken durchströmten meinen Kopf, aber ich hatte mich soweit unter Kontrolle, dass ich nichts sagte.
Humboldt legte mir die Hand auf die Schulter. Ich habe damals viel von ihm gelernt aber er war nie so gläubig wie ich. Als Priester musste er natürlich den trauernden Familien beistehen und trösten und sollte von daher Erfahrung mit solchen Situationen haben. Es war für ihn aber wohl das erste mal ein Freund, der etwas so wichtiges verloren hatte und wusste daher nicht so ganz, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er klopfte mir sacht auf die Schulter und sagte dann folgendes:
„Möchtest du die Beilegung vollziehen?“
Ich verneinte mit einem Kopfschütteln. Ich hörte ihn zustimmend grummeln und man konnte förmlich riechen, wie unangenehm ihm die Situation war. Das sage ich nicht nur so. Priester Humboldt schwitzte tatsächlich derart, dass es mir den Atem verschlug. Er war so aufgeregt und hilflos, dass es seine Schweißdrüsen zu Hochtouren auflaufen ließ. Er rang mit sich, er war gefangen zwischen den Stühlen der Nebenliebe und der Selbstjustiz, die wohl jedem durch den Kopf gegangen wären. Der Mensch in ihm siegte über den Priester.
„Er ist im Rathaus eingesperrt. Es gibt dort im Keller einen kleinen Raum, wo er bis zu seiner Hinrichtung schmachtet.“ Stieß Humboldt aus. Dann nahm er die Hand von meiner Schulter. Ich hörte, wie er sich die verschwitzte Hand an seiner Tracht abwischte und anschließend müde von den vielen Kriegsleiden davon schlurfte. Ein innerer Kampf tobte in mir. Selbstjustiz kam überhaupt nicht in Frage. Niemand sollte sich erlauben einen Menschen vorschnell zu verurteilen, wenn man ihn nicht einmal kennt. Aber er hat meine Eltern und Geschwister umgebracht. Er hat die Personen, die mir mein ganzes Leben lang am nächsten waren, einfach getötet. Ich stand auf und verließ die Kirche.

Wieder draußen ging ich zu meinem Pferd und brachte es in den Stall des Hauses meiner Eltern. Es war später Nachmittag und die Sonne fing langsam an unterzugehen. Meine Gedanken kreisten immer nur um dieselben Themen. Vergebung oder Rache. Die letzten Vogelstimmen verklangen und mit der Dunkelheit kam auch meine Gewissheit. Ich stand auf. Meine Beine schmerzten. Ich saß mehrere Stunden und bewegte mich dabei keinen Zentimeter. Ich verließ das Haus und machte mich auf den Weg in die Kirche.
„Du tust das Richtige.“ Sagte Gott.

Mit einem etwas sicheren Gefühl betrat ich die Gottesstätte. Ich ging sofort neben dem Eingang die Treppe zur Orgel hoch. Kurz bevor ich oben anklopfen konnte, hörte ich wie Humboldt eine Flasche hastig zudrehte und sich ächzend von seinem Stuhl erhob. Er hatte mich wohl auf der Treppe gehört. Die Tür öffnete sich knarrend. Humboldt stand an der Tür und sah mich ruhig an.
„Ich habe damit gerechnet, dass du kommst.“ Sagte er gefasst. Er roch nach Alkohol, sein einziges Laster und seine Art mit Problemen umzugehen.
„Komm rein. Hast du Hunger?“
Ich verneinte und setzte mich zu ihm an einen kleinen Tisch, auf dem ein Laib Brot und ein Glas Schmalz stand. Unter dem Tisch stand ein Weidenkorb in dem man eine Flasche, die mit einer alkoholischen Flüssigkeit gefüllt war, erkennen konnte. Ich nahm mir einen Hocker und setzte mich an den Tisch.
„Du bist wohl immer noch nicht von deiner Schwäche runtergekommen, wie du es mir an meinem Abschied versprochen hattest?“
Humboldt feixte und holte die Flasche aus dem Korb, bevor er sich an die Orgel setzte.
„Du kennst mich doch. Besonders in der Kriegszeit war es sehr schwer für mich. Auch der Tod deiner Familie hat mich sehr getroffen.“
Ich legte meinen Kopf in die Arme. Die Erwähnung meiner Familie ließ mich schaudern und ich versuchte die aufsteigenden Tränen runterzudrücken.
„Wie... sind sie gestorben? Was hat er gemacht?“
Humboldt sah mich abschätzend an. Dann registrierte er die Orgel und fing an in leisen glockenhellen Tönen zu spielen. Humboldt war ein begnadeter Orgelspieler, der alle seine Gefühle in seine Interpretationen hineinlegte. Es konnte eine sehr schöne aber auch sehr schmerzvolle Musikuntermalung sein.
„Der Gefangene riss sich los.“
Er nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche und spielte in schnellen rasanten Tönen.
„Bevor man bemerkte, dass er überhaupt verschwunden war, hatte er sich bereits aus dem Staub gemacht. Wäre er einfach nur geflohen, wäre nichts passiert, aber er muss so einen Hass auf dieses Land gehabt haben, dass er es einfach jemandem heimzahlen musste. Er schnappte sich also zwei Werkzeuge, die ein nachsichtiger Bauer am Feldrand hat liegen lassen und ging von hinten auf zwei Soldaten los. Es war schrecklich... Zuerst suchten sie in der Kirche nach dem Entflohenen. Ich ging mit ihnen, um zu helfen und ich fand die Leichen der Soldaten. Wie es aussah, ist der Typ mit einem stumpfen Gegenstand auf sie losgegangen. Eine Hacke oder so etwas. Ich glaube, der Typ war irre... Mit einem Bauernwerkzeug zwei Menschen umzubringen... Unbegreiflich. Ich wollte gerade die anderen rufen, da höre ich plötzlich deine Mutter laut schreien!“
Die schnelle Melodie steigerte sich in ein Forte und die Töne wurden tiefer, dunkler, bedrohlicher. Mit schneller Hand wechselte Humboldt die Registrierung und sorgte für eine bedrohliche Atmosphäre, die sich wie ein Mantel um mich legte.
„Die Soldaten und ein paar Bauern kamen und gemeinsam rannten wir zu eurem Haus. Die ganze Zeit hörte man deine Mutter schreien und weinen... dann verstummte es. Wir erwischten den Typen zum Glück, er wollte aus dem Fenster auf der anderen Seite des Hauses fliehen. Zusammen haben wir ihn gleich zum Rathaus geschleppt und dafür gesorgt, dass er nicht wieder abhauen kann.“ Das Orgelspiel wurde langsam, aber bedrohlich, mit einzelnen tiefen Schlägen, Akzente, die ruckartig herausstießen.
„Wir gingen zurück zum Haus und hofften, dass der Typ nichts angestellt hat. Aber schon im ersten Zimmer sahen wir deinen Vater liegen...“
Humboldts Stimme wurde zitterig, während mir Tränen über das Gesicht liefen. Meine Schultern bebten, als mich schlagartig die geballte Kraft des Verlustes traf und mir deutlich machte, dass ich sie nie wieder im Leben sehen und berühren könnte. Es erschien mir wie ein Verlust für die Ewigkeit. In solchen Momenten umpackt einen die Trauer derart, dass man denkt, man würde nie wieder des Lebens froh. Mit schwacher Stimme fuhr Humboldt fort, während die Töne in einem gewaltigen, brutalen Mettzooforte und Crescendo gipfelten:
„Der Typ hat mit einer Mistgabel... zugestochen! Es sah so schlimm aus... Ich glaube, ich werde wochenlang Alpträume kriegen... Er hat deinen Vater mitten im Gesicht erwischt, und hat ihn dann noch in den Bauch reingestochen. Ich habe sofort für deinen Vater gebetet, dass er gut bei Gott ankommt. Die Bauern haben deinem Vater eine Decke übergelegt und haben ihn weggebracht. Ich bin froh, dass ich nur deinen Vater gesehen habe, deine Mutter und deine zwei Geschwister hätte ich nicht verkraftet.“

Das Spiel hörte auf und Humboldt wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Er stand auf und nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, während ich leise schluchzend am Tisch hockte und mir Vorwürfe machte, dass ich meine Familie nicht oft genug besucht hatte. Humboldt stellte seine Flasche auf den Tisch und legte mir beide Hände auf den Kopf.
„Als Gläubige verabscheuen wir Gewalt und haben auch einen Eid abgelegt. In diesem Fall wird Gott aber eine Ausnahme machen. Einem der Unseren, einem der so gläubig ist, wie kein Zweiter wurde großer Schaden zugefügt. Wenn du dich dann besser fühlst, gehe hin zu dem Hurensohn und räche dich. Ich erteile dir hiermit Absolution und auch Gott wird dir vergeben. Gehe hin in Frieden, mein Sohn.“
Humboldt nahm seine Hände von meinem Kopf und ohne ein weiteres Wort zu sagen stürzte ich die Treppe runter und rannte aus der Kirche.

Mein Ziel war der Quacksalber und Scharlatan aus unserer Stadt. Wir hatten keinen richtigen Arzt, die waren immer noch alle damit beschäftigt die Verletzten des Krieges in den großen Lagern zu pflegen. Es war inzwischen später Abend und ich ging erst mal in das Haus meiner Familie, wo ich meine Sachen hingebracht hatte. Das Haus war tot und ich fühlte mich nicht wohl darin, aber ich hatte keine andere Unterkunft. Ich betrat das Haus und spürte sofort wieder die Kälte und Einsamkeit. Es war keiner mehr da, der den Ofen in Gang setzte, oder eine Mahlzeit an der Feuerstelle briet, bis der Bratenduft das gesamte Haus füllte. Ich erinnerte mich an meine Kindheit, als mein Vater und ich Schattenspiele im Schein des Feuers spielten. Einmal habe ich versucht Gott als Schatten darzustellen, um meinem Vater zu zeigen, dass seine Tiere nichts dagegen sind. Als er mich fragte, was meine halbgeballte Faust denn darstellen sollte, antwortete ich, dass es Gott sei. Er schlug mich und ich fing an zu weinen, denn ich verstand nicht, wieso er mich schlug. Und das war gleichzeitig die erste Lektion, die ich über Gott lernte, als mein Vater mir verständnisvoll erklärte, dass sich keiner erlauben darf von Gott ein Bildnis herzustellen. Er ist so wundervoll, gnädig und mächtig, dass es uns Menschen nicht zustehe. Ich wanderte in die Vergangenheit und durchlebte noch einmal alle Phasen meiner Kindheit, meiner Schulzeit und der Studienzeit. Nach einer Weile merkte ich, wie mein Gesicht nass wurde. Ich stand im dunkeln, habe ins Nichts gestarrt und dabei ganz die Zeit vergessen. Ich hatte nur meine normalen Straßenkleider dabei, die ich trage, wenn ich nicht im Dienst bin. Ich legte sie an und machte mich auf dem Weg zum Quacksalber. Als ich draußen war, fing es plötzlich an zu regnen und ich beeilte mich, die ungepflasterten Straßen durch die Stadt noch zu schaffen, bevor alles nur noch Matsch war. Auf dem Weg zum Quacksalber, mit dem ich über meine Familie sprechen wollte, musste ich über Humboldt nachdenken. Etwas in mir war anders als vorher. Anstatt dass Gott meine Gedanken leitete, legte er mir Gedanken in den Kopf, die fast wie Befehle klangen. Humboldt hatte mich enttäuscht. Den Alkohol konnte ich ihm verzeihen, aber dass er glaubte, ich würde aus so einem niedrigen Motiv wie Rache heraus handeln, war einfach zuviel. Und dann wollte er Gott einfach als Sündenbock für mich missbrauchen. Das war wahrlich unchristlich.

Ich erreichte die schiefe Hütte des Scharlatans und klopfte laut dagegen, damit er es im Regen auch hörte. Nach einer Weile, als ich gerade noch mal gegen die Tür hämmern wollte, erschien ein alter runzliger Mann mit dünnen, lockigen, halblangen Haaren, die glatt an seinem Kopf klebten.
„Was woll’n se?“ fragte der alte Kerl mich mit einer Stimme wie ein Reibeisen.
„Ich bin ein Angehöriger von der Familie, die vor einiger Zeit ermordet wurde. Ich würde mich gerne mit ihnen darüber unterhalten.“
Der Alte verengte die Augen und zeigte dabei seine lückenhaften Zähne.
„So spät noch?“ krächzte er, machte aber bereitwillig seine Tür auf. Er glaubte wohl, ich würde später vielleicht noch etwas in seinem Laden kaufen, aber da hatte er sich geirrt. Als Priester hielt ich nicht besonders viel von Leuten aus der Zunft der Medizin und Alchemie. Ich glaubte an göttliche Heilung und an die Unerklärbarkeit und Einzigartigkeit der Natur. Die Wissenschaft versuchte die Wunder Gottes zu erklären und somit zu zerstören. Ich trat ein und fühlte mich sofort in meinen Vermutungen bestätigt. Ich sah viele verschiedene Kräuter an den Decken hängen und kleine Fläschchen, in denen sich irgendwelche Flüssigkeiten befanden, sogenannte „Arzneien“. Aber ich sah auch kleine Tierchen, die scheinbar in Gläsern zu schweben schienen. Mich packte der Ekel. All das waren Sachen wider der Natur und wider Gott.
„Also, Sie sin’n Angehöriger der Familie? Was möcht’n se wiss’n?“
„Ich wüsste gerne, ob man einen von ihnen noch hätte retten können.“
Der Alte fing an zu lachen, aber es klang so, als würde er husten.
„Schuldet ihn’n wohl einer Geld, he?“
Er schien das echt lustig zu finden und lachte eine Zeit lang vor sich hin, während ich Mühe hatte, mich an meine ethischen Gebote zu halten.
„Nein...Es war meine Familie. Ich hätte sie gerne noch bei mir gehabt. Was ist mit meiner Mutter und mit meinen beiden Geschwistern passiert?“
„Ah, die Alte und die beid’n Jung’n... Das war echt nich’ schön. Weiss’ du, ich glaube, die Jungs wollt’n ihre Mutter bis zuletzt schütz’n. Der Ausländer hat den beid’n nämlich einfach’n Schädel mit der Hacke weggehau’n, bevor er auf sie eingehackt hat.“
Mir wurde fast schlecht bei dem Gedanken daran, wie sich meine Brüder vor meine Mutter geworfen haben, nur damit sie noch ihren beiden Söhnen beim sterben zusehen musste und dann selber abgeschlachtet wurde. Mir stiegen wieder Tränen in die Augen. Der Alte schien zu merken, dass es mir nicht so gut ging und er versuchte ein Verkaufsgespräch:
„Woll’n se nen Anhänger, der die Trauer vertreibt?“
Fragte er unnötigerweise, was ihm einen strafenden Blick einbrachte.
Ich machte auf der Stelle kehrt und verließ seine Hütte. Es regnete noch immer und so schnell es ging machte ich mich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen legte ich mich erschöpft ins Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag weckte mich das Zwitschern der Vögel. Es duftete nach Ei und nach gebratenem Speck, während die Sonne auf meinen Kopf durch das Fenster schien. Ich riss die Decke von mir runter und wollte gerade „Guten Morgen“ rufen, was mir aber qualvoll im Halse stecken blieb. Ich hatte mir alles nur eingebildet. Obwohl es draußen schön und warm war, war das Haus leer und strahlte eine Kälte aus, wie sie auch schlecht besuchte Kirchen aufweisen. Ich warf mich zurück und fing an zu weinen. Ich fühlte mich allein gelassen, obwohl ich schon längst auf eigenen Füßen stand. Ich wollte nicht aufstehen, ich wollte nur liegen bleiben und sterben. Der Hunger quälte mich, aber ich wollte nicht rausgehen, ich wollte den Duft, der noch von meinem Bruder im Bett hing nicht verlieren.
„Steh auf.“
Befahl mir Gott. Ich horchte auf. Nur selten bekam ich einen so deutlichen Befehl von ihm und ich versuchte zu gehorchen. Kraftlos sackte ich jedoch nach einem Versuch zurück, der Schmerz schien mir alle Kraft und Lebenslust genommen zu haben.
„Es geht nicht.“
Sagte ich müde.
„Ich habe einen Auftrag für dich.“ Das war ein ganz besonderer Moment. Noch nie hatte Gott zu mir gesagt, dass er einen Auftrag für mich hat. Mein Interesse war geweckt und ich lauschte aufmerksam seiner Stimme.
„Alle Priester haben einen Eid abgelegt, niemals einen Menschen physisch zu verletzen. Wer dieses Gebot bricht kann nicht mehr mit meinem Wohlwollen rechnen. Allerdings gibt es Gläubige und auch Priester, die dieses und auch andere Gebote verletzen. Ich möchte, dass du mein Sprachrohr wirst. Finde die Übeltäter und bestrafe sie. Deine erste Aufgabe ist der ausländische Soldat, der deine Familie getötet hat. Zeige ihm am eigenen Leib, was deine Familie für Schmerzen durchleben musste. Und jetzt steh auf.“
Ich richtete mich langsam auf. Die Stimme Gottes hatte sich verändert, aber damals merkte ich die Veränderung nicht, da in mir böse Gedanken brüteten. Ich war fassungslos. Gott verlangte von mir, dass ich einen Menschen töte. Einfach so, aus Rache.
„Ich weiß nicht, ob ich... das tun kann.“ Sagte ich vorsichtig. Ich rechnete wahrscheinlich mit allem, aber nicht mit Gottes Antwort:
„Ich würde niemals so etwas unehrenhaftes von dir verlangen.“
Sprach er voller Güte und Wärme.
„Aber der Soldat kann jederzeit ausbrechen, und wenn er das tut, werden mehr Menschen sterben, viel mehr. Er wird viel Leid über viele Familien bringen. Du hast die Möglichkeit und meinen Segen, all das zu verhindern. Durch dein Eingreifen wird es mehr Menschen geben, die in Sicherheit leben können. Es ist notwendig, dass er stirbt.“
„Aber wie soll ich es anstellen?“
„Die Werkzeuge findest du hier im Haus. Pfarrer Humboldt vermutet bereits, dass du dich rächen willst, er wird versuchen die meiste Zeit Wachen vom Rathaus fernzuhalten. Als Priester kommst du in den Keller, um dem Verbrecher die Beichte abzunehmen. Die Werkzeuge versteckst du in deinem Gewand.“
Ich wurde etwas mutiger. Gott übertrug mir diese Aufgabe um viel Mehr Menschen zu retten, als ich verloren hatte. Wieso sollten andere Menschen wegen meiner Untätigkeit leiden? Es war ein Dienst an Gott und ein Dienst ans Volk.

Ich stand auf, ich hatte wieder etwas Kraft in den Beinen. Ich wusste nun, dass ich einer edleren, höheren Sache diene. Meine Lebensgeister waren geweckt und ich machte mich sofort an die Arbeit. Zuerst machte ich mich fertig. Ich zog meine lange Robe an, als auch meine Schärpe. Dann ging ich einkaufen. Von einem Händler auf dem Marktplatz bekam ich grobes Leder und ein langes Hanfseil. Ich holte mir auch Lebensmittel, um etwas zu mir zu nehmen, ich brauchte eine Menge Energie. Nach dem Mahl ging ich in den Stall, fütterte mein Pferd und holte zwei Werkzeuge. Einen rostigen Schmiedehammer und eine Sichel. Ich begutachtete die Werkzeuge und Gott fand, dass es gut war. Nach dem Mittag machte ich mich auf den Weg zum Rathaus. Zwischendurch traf ich mehrere Leute, die mich kannten, und die mir alle ihr Beileid wünschten. Trauer stieg wieder in mir hoch, aber auch Spannung und Erregung, wegen dem Dienst, den ich Gott erweisen sollte. Er sagte mir, dass ich niemandem etwas davon erzählen sollte und dass ich sehr unauffällig sein muss. Ich erreichte das Rathaus und ging hinein.

Als ich drinnen stand, sah ich plötzlich Humboldt. Der Bürgermeister, der gerade im Gespräch mit dem alten Pfarrer war zeigte auf mich und überrascht drehte er sich um. Er sah mir in die Augen und nickte unmerklich. Danach legte er den Arm um den Bürgermeister und verwickelte ihn mit weit ausholenden Gestikulationen in ein Gespräch. Humboldt führte den Bürgermeister aus dem Rathaus raus, wobei ich einige Wortfetzen aufschnappen konnte.
„... Also die Bierproduktion in unseren Ländereien...“
„Er muss sterben.“ Sagte Gott.
Ich nickte und verstand ihn. Humboldt wusste zuviel. Außerdem wollte er den Namen Gottes als Deckmantel für eine Racheaktion benutzen und brach das Gesetz Gottes, indem er Alkohol Gott vorzog. Ich wandte mich mit meinen Gedanken wieder meiner geplanten Aktion zu. Die Kellertür war nirgends zu sehen. Ich ging im Rathaus umher, einem simplen, rechteckigen Komplex, in dem sich nur drei Räume befanden. Das Zimmer des Bürgermeisters, das Zimmer des Richters und das Vorzimmer. Ich drückte an der Tür des Bürgermeisters. Sie ging ohne Probleme auf und sofort konnte ich es sehen. Eine Erhebung im Boden, an dem sich wohl die Luke zum Keller befand.

Ich hob die Luke hoch und linste nach unten. Eine grobe, steinerne Treppe führte nach unten, sie lag so gut wie im Dunkel nur entfernt unten sah man ein Licht, rötlicher Schein wie von einer Fackel. Ich ging hinunter und setzte die Lukentür über mir wieder ab. Ich passte auf, dass ich mich nicht vertrat oder stolperte und erreichte schon noch wenigen Metern den hellen Bereich. Es war ein kleiner Raum, der gerade mal so hoch wie ich selber war. Zwei Fackeln erhellten ihn und schienen ein zusammengekauertes Etwas in der Mitte des Raumes zu durchleuchten. Das Etwas war ein Mann. Abgemagert, zerzaust und vollkommen apathisch kniete er und lag bloß nicht, weil zwei Ketten von der Decke herab seine Arme nach oben zerrten. Er sah jämmerlich aus, und bemitleidenswert. Wäre er ein hünenhafter Berserker gewesen, dem vor Hass die Augen glühen, so wäre mir die Aufgabe leichter gefallen. Aber vor mir kauerte ein gebrochener Mensch, der keinen Lebenswillen mehr zeigte, so hilflos und bemitleidenswert, dass man gar nicht glauben konnte, was er für eine blutrünstige Tat vollbracht hat. Ich trat auf den Mann zu. Aus klebrigen Augenlidern heraus sah der Mann mich an, senkte aber sofort den Blick, als wäre er bereits so zugerichtet worden, damit er keinen Wiederstand leistet.

„Wer... bist du...?“
fragte der Mann halb betäubt.
Mit zitternder Stimme antwortete ich. Gott schien aus mir herauszusprechen und ich hörte auf zu denken, jetzt wo er mich führte.
„Ich bin der Mann, dessen Familie du getötet hast!“
Der Mann riss die Augen auf und fing an, an den Ketten zu zerren.
„Ich hab das nicht gewollt, ich hab das alles nicht gewollt!“ schrie er mit verbliebender Kraft.
„Ich wollte doch nur etwas zu essen, eure Streitkräfte haben uns nichts zu essen gegeben. Wir wären verhungert!“ Der Mann brach ächzend zusammen und stöhnte und heulte zugleich.
„Wieso hast du sie dann umgebracht?“ zischte ich tränenerstickt.
„Sie wollten mir nichts geben und dann kam plötzlich der alte Mann auf mich zu mit einem Messer! Ich wollte sie nicht töten, sie haben mich gezwungen!“
Ich fing an zu zittern vor Wut. Meine Familie hätte nie derartiges unternommen, mein Vater war ein ehrbarer Mann, der niemals Gewalt angewendet hätte. Langsam holte ich die Sichel aus meinem Hemdsärmel. Als der Mann die Sichel sah, wurde er blass und fing an zu wimmern.
Plötzlich schrie er los, wie ein Irrer.
„Ich habe auch Familie gehabt! Meine Familie wurde auch von euren Soldaten getötet! Nur ich habe es nicht gewollt, ich bin doch nur ein normaler Bauer!“
Laut weinend und flehend richtete der Mann seine Arme auf mich, als wolle er mich beschwören.
„Bitte! Tun sie mir nichts! Ich bin doch genauso wie sie! Ich...“
Ich schlug zu.
Die scharf geschliffene Sichel durchtrennte Fleisch und Sehnen wie Butter, blieb aber am Knochen stecken. Mit einem ruck zog ich sie wieder raus, während Blut wie ein Strom aus seinem Arm floss. In meinen Ohren rauschte es, sodass ich es nicht hörte, aber ich sah den Mann schreien vor Schmerzen, wie er rumzuckte, wie er versuchte loszukommen. Er schrie so laut es seine Kräfte zuließen. Sein Gesicht war eine Maske des Todes. Es war mein erstes Mal, dass ich den Tod bei seiner Arbeit zusah, und es war erschreckend und faszinierend zugleich. Das Gesicht des Mannes wurde von unmenschlichen Schmerzen gezeichnet, Qual und Angst. Und in dem Moment des unendlichen Leidens besaß er dennoch die Energie so laut zu schreien, und zu heulen, wie noch nie in seinem Leben zuvor. Sein Gesicht war deformiert. Sein Mund war weit aufgerissen, immer noch tönten gellende Schreie daraus. Seine Augen, zusammengekniffen, obgleich ein steter Strom an Tränen herausfloss. Es war schmerzhaft das mit anzusehen. Ich musste ihn von seinen Leiden erlösen. Ich holte das Stück Leder raus und schaffte es auch ihm in den Mund zu stopfen, obwohl er an den Fesseln zerrte und riss und er vor Schmerzen des tiefen Schnittes bebte. Blut quoll immer noch ohne Unterlass aus der Hand. Sein Schreien wurde zu einem dumpfen Fiepen und mit tränenverquollenen Augen atmete er sehr unregelmäßig, er zog die Luft ein, als würde er gerade im Eiswasser baden. Ich holte den Hammer aus meinem Umhang. Der Mann reagierte nicht. Er war schon fast tot, nahm mich mit seinen Augen nicht mehr wahr und wartete wohl nur noch auf das Unausweichliche. Ich erwies ihm die Ehre und zertrümmerte mit meinem Hammer seinen Schädel. Das Rauschen hörte auf und Gott verschwand aus mir.
Ich hatte Angst die Leiche anzusehen, deswegen kniff ich die Augen zu, bis ich die Treppe erreicht hatte, die im Dunkeln lag. Ich bestieg sie mit wackeligen Beinen und trat dann aus dem Keller. Oben angekommen setzte ich meine Kapuze auf und verschwand so schnell wie möglich aus dem Rathaus.

Ich eilte ohne einen klaren Gedanken an den Menschen vorbei und hörte erst auf mich verfolgt zu fühlen, als ich Zuhause war. Dort setzte ich mich vor einen Spiegel und nahm die Kapuze runter. In meinem Gesicht befanden sich einige Blutstropfen, letzte Zeugen meiner Gräueltat. Ich nahm einen Lappen und wischte sie davon aber unter den Blutstropfen war meine Haut rot, als wolle sich die verräterische Spur nicht verwischen lassen. Ich wischte und wischte und schlug anschließend mich selber, damit man in meinem Gesicht nichts ausmachen konnte. Danach besah ich meinen Umhang und meine Robe. Ich war wohl blutbefleckt durch die halbe Stadt gelaufen, es grenzte an ein Wunder, dass ich nicht von Wachen angehalten wurde. Die Säuberung meiner Sachen würde eindeutig mehr Zeit in Anspruch nehmen. Ich machte mir keine Sorgen um die Werkzeuge, die ich dort gelassen hatte, ich war mir sicher, dass der Fall nicht weiter verfolgt werden würde. In den nächsten Tagen ging ich oft in die Kirche. Ich betete für die Seelen meiner Familie und für ihr Leben bei Gott. Humboldt tat mir die Freude und sprach mich nicht einmal an. Ich glaube diese Sache hat unsere langjährige Freundschaft zerstört. Es war wie eine große schwarze Mauer, die man einfach nicht überwinden konnte. Hatte Humboldt jetzt Angst vor mir? Dass er mich mit meinen Gedanken in Ruhe ließ und den Mord mit keinem Wort erwähnte rechnete ich ihm hoch an, sodass es mir fast leid tat, dass er sterben musste. Ich wollte ihm einen leichten Tod verschaffen. Ich ging eines Nachts wieder zu dem alten Kauz, dem Scharlatan, der meine Familie begutachtet hat. Es war alles schnell geregelt. Ich sagte ihm, ich hätte Schlafstörungen und er gab mir ein Kraut, ein leichtes Betäubungsgras, dass weniger einen geruhsamen Schlaf gewährt, sondern eher den Körper für Stunden außer Gefecht setzt. Einen ganzen Strauch davon und ich würde nie wieder aufwachen. Am nächsten Tag suchte ich den alten Mörser meiner Mutter, womit sie noch selber das orientalische Getränk namens „Kaffe“ zubereitet hatte und zerstieß die groben Kräuterblätter. Anschließend kaufte ich eine Flasche starken Alkohols, ließ eine Schleife drum binden und stellte die Flasche bei mir bereit. In den nächsten Tagen passierte nicht viel. Ich betete und unterhielt mich manchmal wieder mit Humboldt, obwohl nicht wirklich wieder eine religiöse Debatte wie damals aufkommen wollte. Am Sonntag dann lag ein Zettel in meiner Tür. Auf dem schrieb mir Humboldt, dass heute die Beisetzung meiner Familie stattfinde und er die Zeremonie und den Gottesdienst abhalte. Er bat mich zu kommen und wünschte mir noch mal sein Beileid. Es war soweit. Ich packte meine Sachen, sattelte mein Pferd und wartete ab. Ich würde mehrere Andenken meiner Familie mitnehmen, ansonsten würde ich alles da lassen. Dann füllte ich das Giftpulver in die Flasche.

Gegen späten Nachmittag, noch bevor die ersten Trauergäste erschienen, kam ich angeritten. Vor der Kirche stieg ich ab, band mein Pferd an und betrat sie. Humboldt stand gerade am Altar und zündete die vielen Kerzen an, welche die Kirche schmückten. Er drehte sich um und zuckte zusammen als er mich plötzlich sah.
„Welch Überraschung. Ich habe noch gar nicht so früh mit dir gerechnet.“ Sagte er dann mit einem sanften Lächeln.
„Es tut mir Leid... Ich kann nicht zur Beerdigung bleiben.“
Sagte ich ehrlich bedauernd.
„Aber wieso denn nicht?“ fragte Humboldt bestürzt.
„Das ist deine Familie, die hier beerdigt wird! Damit zeigst du nicht gerade, das du ein liebevoller Sohn warst.“
„Es tut mir Leid... Ich muss zurück...“
Humboldt sah mich traurig an.
„Meine Tat... Ich möchte dafür büßen...“ log ich.
„Ich glaube, wenn ich es hier tue, werden die Seelen meiner Familie nicht rein sein. Ich werde in Adorni jeden Tag für sie beten!“
Der Gesichtsausdruck von Humboldt wurde wieder etwas freundlicher.
„Dann... Leb wohl mein Freund.“
Wir gingen aufeinander zu, wollten uns zuerst die Hand geben, umarmten uns dann aber. Ich glaube, wir beide wussten, dass es ein Abschied für immer war. Er hielt mich fest und ich hörte sein Schniefen.
„Komm schon... sei nicht traurig. Wir werden uns wiedersehen.“ Versuchte ich ihn aufzumuntern. Zwischen Schluchzern lachte er. Ich holte die Flasche hervor und drückte sie ihm in die Hand.
„Das... Ist ein Abschiedsgeschenk... Es ist bester Schnaps aus den fruchtbarsten Ländereien!“
Obwohl Humboldt noch Tränen in den Augen standen fing er herzhaft an zu lachen. Ich wusste, dass ihn dieses Geschenk glücklich machte und ich würde dieses glückliche Gesicht von ihm bis zu meinem Tod so in Erinnerung behalten. Er umarmte mich noch einmal und dann gingen wir ohne ein weiteres Wort auseinander. Als ich draußen in die Sonne blinzelte sah ich von weitem bereits die erste Trauerkutsche. Ich band mein Pferd los und ritt Richtung Adorni, meiner neuen Heimat. Ich würde nie wieder zurückkehren.

Der Trauergottesdienst fing an. Die Kirche war voll, die Familie hatte viele Freunde. Alles in der Kirche war schwarz und vorne lagen vier Särge, in denen die exhumierten Leichen vom Vater, der Mutter und den beiden Söhnen lagen. Das Eingangslied fing an, gespielt von Priester Humboldt. Ein langes, sehr schnelles, gewaltiges Stück mit auf und abschwellenden Tönen, die sich stets abwechselten und eine Dramatik erzeugten, die dem Trauergast eine Gänsehaut bescherte. Das Stück lief seit einiger Zeit, ohne auf einen bestimmten Höhepunkt hinauszulaufen, als plötzlich das Spiel der Trauer von einem unförmigen, unmelodiösen Klang unterbrochen wurde, weil etwas Schweres auf die Orgeltasten gefallen ist und dort liegen blieb.
Zu dem Zeitpunkt befand sich Eduard bereits kurz vor Adorni. Es war seine letzte Begegnung mit Humboldt.

Ende(?)

Vielen Dank für Kommentare eurerseits.^^
 
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