Während der Hogwarts-Express sich seinem Ziel näherte, hielt ein weiteres Gefährt direkt auf die berühmte Schule für Hexen und Zauberer zu. Es handelte sich um eine schwarze Kutsche an deren Seiten silberne Greifen gemalt waren und die von vier großen Pferden gezogen wurde, der Blick ins Innere der Kutsche wurde von dunkelroten Vorhängen verdeckt. Über der großen Tür der Kutsche war in silbernen Buchstaben
Siegreich im Leben, Siegreich im Tode auf Deutsch zu lesen. Natürlich konnten die meisten Engländer oder Schotten damit nichts anfangen und selbst in Deutschland wussten nur wenige Menschen, was es mit den silbernen Greifen und diesem Spruch auf sich hatte. Er war das Motto der Greifswald-Akademie, einer Schule für Magie die vor gerade einmal zehn Jahren in Deutschland gegründet wurde, allerdings nicht ausschließlich von deutschen Hexen und Zauberern. Die Akademie war ein Gemeinschaftsprojekt zwischen den magischen Regierungen von Deutschland, Italien, Japan, Korea und Ägypten, Grundlage dieses Projekts war die Entdeckung einer neuen Form von Magie, welche seit nunmehr zehn Jahren an der Greifswald-Akademie gelehrt wurde. Im Rest der magischen Welt wusste man kaum etwas über diese neue Art der Magie, ebenso wenig wusste man etwas über die Akademie, oder die geheimnisvolle Hexe welche dort als Direktorin das Sagen hatte, alles was man wusste war das sie und alle die mehr wussten der Meinung waren, dass diese neue Magie der alten bei weitem überlegen war. Zehn Jahre lang schwieg die Greifswald-Akademie und schottete sich vom Rest der Welt ab, doch das war nun vorbei. Die Direktorin war der Meinung, das es an der Zeit war dem Rest der magischen Welt die Früchte ihrer Arbeit zu zeigen und Hogwarts war der perfekte Ort um damit anzufangen. Wenn man ehrlich war musste man allerdings zugeben, dass es auch gleichzeitig der einzige Ort war, denn die anderen Schulen, wie Durmstrang oder Beauxbatons standen der ganzen Sache eher skeptisch gegenüber und misstrauten der Greifswald-Akademie und ihrer dubiosen Leitung, die unabhängig von jeder Regierung agierte. Hogwarts hingegen war ein wenig offener, die Direktorin McGonagall und das Ministerium hatten einer Art 'kulturellem Austausch' zugestimmt, in dem beide Schulen mehr über die Magie der jeweils anderen lernen sollten, und haben sich dazu bereiterklärt eine kleine Delegation aus Greifswald im alten Schloss zu empfangen, auf unbestimmte Zeit.
In der Kutsche befand sich eben jene Delegation, auch wenn das ein sehr großzügiger Begriff warm denn im Inneren saßen lediglich drei Personen. Die erste Person war ein blasser, äußerlich junger Mann mit müden, grauen Augen und langen, schwarzen Haaren die zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden waren. Er trug ein schlichtes Hemd aus schwarzem Stoff und trommelte nervös mit seinen Fingern auf der Fensterbank der Kutsche herum während er die Vorhänge anstarrte.
„Naruz? Ist alles in Ordnung mit dir?“ fragte die zweite Person in der Kutsche, welche dem Mann direkt gegenüber saß. Es war eine junge Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, mit kurzen, roten Haaren, braunen Augen und einem freundlichen, attraktiven Gesicht. Sie trug, trotz der herbstlichen Temperaturen, eine kurzärmelige, weiße Bluse die ihr nur bis zum Bauchnabel ging und einen kurzen, blauen Rock. Dazu trug sie schwarze Kniestrümpfe und flache Schuhe.
„Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, alles in bester Ordnung.“ murmelte der angesprochene Mann und warf einen Blick auf die dritte und letzte Person in der Kutsche, die direkt neben dem Mädchen saß. „Er wird das größere Problem sein.“
„Hm? Wovon redest du, Fledermaus?“ meinte die dritte Person, warf jedoch nicht einmal einen Blick auf Naruz, sondern starrte mit gelangweiltem Blick auf das Smartphone, welches er in seiner Hand hielt.
„Luciel... du solltest aufhören deinem Lehrer seltsame Spitznamen zu geben.“ meinte das Mädchen seufzend.
„Warum? Er passt zu ihm, hast du ein Problem damit Anya?“ fragte Luciel, erneut ohne aufzusehen. Er hatte kurze, rote Haare, wie das Mädchen neben ihm, seine Augen jedoch waren eisblau.
„Und wie üblich kriege ich keinen Spitznamen. Man könnte meinen, du liebst mich nicht.“ murmelte Anya und warf einen beleidigten Blick auf Luciel. Als sie ignoriert wurde ballte sie die Fäuste und drehte sich auf der Sitzbank so, dass er jetzt direkt vor ihr saß. „Hör gefälligst zu, wenn deine Schwester mit dir redet!“
„Mhm? Warst du nicht diejenige die gesagt hat, ich soll aufhören dich als meine Schwester zu sehen?“ fragte Luciel unbeeindruckt.
„Und hör auf damit, dich an meine Worte zu erinnern wenn es nützlich für dich ist!“
„Mach dir keine Sorgen, das war ein Scherz. Du wirst für immer meine Schwester sein, nichts auf der ganzen Welt wird jemals etwas daran ändern können.“
Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, augenblicklich schlich sich ein deprimierter Ausdruck auf Anyas Gesicht und sie drehte sich so, dass sie die Wand der Kutsche anstarren konnte während sie langsam vor und zurück wippte.
Anya und Luciel nannten sich zwar Geschwister, allerdings hatten sie außer ihrer Haarfarbe nicht viel gemeinsam, selbst äußerlich nicht. Zwar waren sie beide durchaus attraktiv, aber auf vollkommen unterschiedliche Weise. Anya schien eine sanfte, freundliche Wärme auszustrahlen und zog damit sowohl Männer als auch Frauen an. Von Luciel ging jedoch eine unnahbare, beinahe schon greifbare, eiskalte Aura aus. Wo Anya lächelte und fröhlich winkte bekam man von Luciel ein kaltes Nicken und einen gleichgültigen Blick, war sie stets von Freunden und Verehrern umringt, so hatte er eine Menge Menschen die auf Abstand blieben und ihn aus der Ferne bewunderten, verehrten oder verfluchten. Anya war ein gemütliches, helles Lagerfeuer das einem während eines eisigen, tödlichen Schneesturms Wärme und Trost spendete, Luciel war eben jener Schneesturm. Zwar hatte Luciel sich in letzter Zeit gebessert, aber trotzdem waren die beiden Geschwister noch immer so unterschiedlich, wie man nur sein konnte. Der Grund dafür war das die beiden eigentlich nicht miteinander verwandt waren, sie begegneten sich vor dreizehn Jahren in einem Waisenhaus in Venedig. Luciel war damals vier Jahre jung gewesen und gerade neu ins 'Cambeli-Haus' gekommen, wie es aufgrund seiner Gründerin genannt wurde. Es hatte nicht lange gedauert, bis er sich mit dem älteren Mädchen anfreundete und schon bald waren sie unzertrennlich und sahen sich als Bruder und Schwester.
„Eins muss man dir lassen, du weißt wie man mit ihr fertig wird.“ murmelte Naruz anerkennend, ehe er seinen Blick wieder auf den Vorhang richtete.
„Danke, Fledermaus. Man muss nur sehr vorsichtig sein, damit sie dabei nicht kaputtgeht.“ sagte Luciel, noch immer ohne von seinem Smartphone aufzusehen. Er war der jüngste von den dreien und der einzige Schüler, seine Schwester hatte vor zwei Jahren ihren Abschluss an der Greifswald-Akademie gemacht und spielte mittlerweile als Jägerin für ein berühmtes, deutsches Quidditchteam, außerdem war sie Nationalspielerin für Italien. Der Vampir, denn dabei handelte es sich bei dem schwarzhaarigen Mann, hieß Naruz Dracul, kam ursprünglich aus Rumänien und arbeitete seit gut sechs Jahren in Greifswald, als Lehrer für Zaubertränke. Zwar konnte er als Vampir keine traditionelle Magie benutzen, aber wenn es ums Mischen von Tränken ging, oder die neue Form der Magie, gab es nicht viele Hexen oder Zauberer, die es mit ihm aufnehmen konnten.
„Für immer die Schwester... für immer die Schwester... für immer die Schwester...“ murmelte Anya leise vor sich hin, was Naruz tatsächlich dazu brachte erneut einen Blick auf ihren Bruder zu werfen.
„Bist du dir sicher, dass sie nicht schon kaputt ist?“
„Hm? Oh, keine Sorge. In ein paar Minuten ist sie wieder ganz die alte und hat das alles schon wieder vergessen. Aber ich muss ehrlich sagen, das ihr zwei mich ganz schön überrascht habt. Ich hätte nie gedacht, das ihr zusammen Ferien in England machen wollt... und mich dann auch noch mitnehmt, gibt es da etwas, das ihr mir nicht sagt?“ fragte Luciel, leicht misstrauisch und warf zum ersten mal einen Blick zu Naruz hinüber.
Dieser schenkte ihm ein kaltes Lächeln. „Aber Luciel, wir würden dir doch niemals etwas verheimlichen.“
„Ich traue euch beiden nicht, überhaupt nicht... zum Beispiel habt ihr mir noch immer nicht gesagt, warum eine Kutsche aus Greifswald für uns bereitstand, oder wo wir überhaupt hinfahren.“
„Wir fahren zu unserem... Hotel.“
„Hotel? Da kann man auch mit einem Bus, oder der U-Bahn hinfahren. Die Muggel haben nicht umsonst solch großartige, technologischen Wunder erschaffen, musst du wissen.“ sagte Luciel und wedelte mit seinem Smartphone in der Luft herum.
„Weißt du, ich frage mich schon die ganze Zeit was du da eigentlich liest.“ sagte Anya plötzlich und mischte sich somit wieder in das Gespräch ein, anscheinend schien es ihr schon wieder besser zu gehen.
„Ich? Nichts besonderes, nur einen neuen Manga den ich gefunden habe,
Denpa Kyoushi. Der ist wirklich gut, wenn du willst dann...“ Luciel brach ab und seine Miene versteinerte sich urplötzlich.
„Ist alles in Ordnung, Luciel?“ fragte Anya, leicht besorgt.
„Nein! Nichts ist in Ordnung! Mein Handy... es funktioniert plötzlich nicht mehr!“ rief Luciel, mit leicht panischem Unterton in der Stimme.
„Das... ist alles?“
„Wie, 'das ist alles'? Natürlich ist es alles! Was könnte es schlimmeres geben, als so eine Katastrophe? Ich bin mir sicher, das es noch mindestens vierzig Prozent Batterie hatte! Wie kann es sein, dass es plötzlich ausgeht? Wir müssen die Kutsche anhalten!“
„Wie bitte? Warum das denn?“
„Damit ich mein Reservehandy aus dem Gepäck holen kann natürlich!“
„Ja... tut mir leid dir das zu sagen Luciel, aber das wird auch nicht funktionieren.“ sagte Naruz plötzlich und lachte leise vor sich hin.
„Fledermaus... du weißt etwas! Was geht hier vor sich?“ fragte Luciel, mit einem bedrohlichen Unterton in der Stimme. Er war normalerweise ein netter und freundlicher Mensch... aber das hier ging zu weit.
„Was? Ich habe es doch gesagt, wir nähern uns unserem Hotel... gut, das war eine kleine Lüge. Um ehrlich zu sein sind wir in der Nähe von Hogwarts, einer britischen Schule für Hexen und Zauberer.“
„Warum?“
„Nun gut, da du es eh rausfinden würdest... Luciel, ich habe dir etwas wichtiges zu sagen. Ich werde ab nächstem Jahr nicht mehr in Greifswald unterrichten, sondern hier, in Hogwarts.“ sagte Naruz seufzend. „Anya hat mir angeboten dabei zu sein, wenn ich meinen neuen Posten antrete.“
„Moooooment! Das erklärt noch immer nicht, was mit meinem Handy los ist!“
„Ah ja, stimmt. Technologie funktioniert nicht in der Nähe von Hogwarts.“
Ein breites Grinsen trat auf Luciels Gesicht und er blinzelte ein paar mal ungläubig, ehe er ein leises „Hä?“ hervorbrachte.
„Naruz hat recht, Hogwarts ist sehr alt und dermaßen von Magie durchdrungen, das moderne Technik nicht in seiner Umgebung funktioniert, sie dreht durch und wird nutzlos.“ erklärte Anya seufzend. „Wenn du im Unterricht aufpassen würdest, dann wüsstest du das auch.“
„Technologie... funktioniert... nicht...“ sagte Luciel und es zuckte in seinen Augen- und Mundwinkeln. Dann, ohne Vorwarnung, sprang er von seinem Sitz auf, allerdings schien Naruz bereits damit gerechnet zu haben.
„Anya! Lass ihn nicht entkommen!“
„Jawohl, Sir!“ rief diese begeistert und stürzte sich auf ihren Bruder, der in eben jenem Moment einen Schritt in Richtung Tür getan hatte. Sie krachte gegen Luciel und stieß ihn somit gegen die andere Sitzbank auf der Naruz sich befand, ehe der junge Schüler reagieren konnte hatte der Vampir auch schon seine Arme gepackt und hielt ihn fest.
„Lasst mich los! Ihr seid doch vollkommen verrückt geworden! Ich weiß nicht was ihr vorhabt, aber ich kann nicht dahin! Das ist unmöglich, der Ort ist das pure Böse! Kein Internet? Kein Strom? Vergesst es, ich will nicht dahin, nichtmal für einen Augenblick!“ rief Luciel und wand sich im Griff seiner Schwester und seines Lehrers.
„Bleib ganz ruhig Luciel.“ meinte Naruz beruhigend. „Du musst nicht lange bleiben, das verspreche ich dir. Nur ein paar Stunden, in Ordnung? Du würdest doch nicht wollen, das dein Lieblingslehrer einfach so verschwindet, ohne das du dich verabschieden konntest, oder?“
„Ich... muss wirklich nur ein paar Stunden bleiben?“
„Nur bis ich als Lehrer vorgestellt wurde, danach darfst du wieder gehen, versprochen.“
Luciel schien kurz darüber nachzudenken, dann seufzte er. „Also gut, von mir aus. Ich werde es schon ein paar Stunden... Anya? Warum siehst du mich so an?“
„Oh... weißt du es denn nicht, Luciel? Es ist die Eröffnungszeremonie in Hogwarts, da muss man angemessen gekleidet sein! Also solltest du so schnelle wie möglich aus diesen Straßenklamotten schlüpfen und deine Schuluniform anziehen!“ sagte Anya, voller Begeisterung und strahlte Luciel aus erwartungsvollen Augen an.
„Ich glaube nicht dass das nötig ist, wenn ich Naruz verabschiede... außerdem habe ich meine Schuluniform... wo im Namen des Teufels hast du die her?!“ fragte Luciel ungläubig, als er sah wie seine Schwester auf einmal wie aus dem nichts eine schwarze Hose und einen weißen Mantel in der Hand hatte, der an den Seiten und Schultern königsblau gefärbt war.
„Luciel, Luciel, Luciel... es ist die Pflicht einer Schwester zu wissen, wo ihr kleiner Bruder seine Schuluniform aufbewahrt! Also los, zieh dich aus und...“ weiter kam Anya nicht, ehe Naruz ihr Luciels Uniform aus der Hand riss und sie ihm zuwarf. Dann packte der Vampir Anya am Kragen, ging mit ihr auf die andere Sitzbank und hielt ihr eine Hand vor die Augen. „Naruz! Was fällt dir ein? Ich kann nichts sehen! Weißt du wie lange ich darauf gewartet habe?! Komm schon, nur ein klitzekleiner Blick!“
„Mach dir keine Sorgen Luciel, ich halte dir die Verrückte vom Leib, also ziehe dich ruhig um. Denn in einem Punkte hat sie zumindest recht, du solltest nicht so in Hogwarts auftauchen.“
Luciel schüttelte kurz den Kopf, zuckte dann jedoch mit den Schultern. „Also gut, von mir aus... und danke Fledermaus, deine Hilfe ist mehr als willkommen.“
Kurze Zeit später hatte Luciel sich umgezogen, woraufhin Naruz Anya freigab die einen enttäuschten Gesichtsausdruck aufsetzte.
„So nahe und doch so fern... ich kann es nicht glauben, dass du mir so etwas antun würdest Naruz!“
„Und ich kann es nicht glauben, was aus dir geworden ist. Als ich in Greifswald angefangen habe warst du so ein nettes, unschuldiges Mädchen und jetzt, na ja, man sieht es ja.“ meinte der Vampir seufzend.
„Da fällt mir ein, warum muss Anya sich nicht umziehen? Sie wird dich ja wohl auch verabschieden, oder?“ fragte Luciel, ehe Anya auf den Lehrer reagieren konnte.
„Luciel! Ich dachte schon du würdest gar nicht mehr fragen!“ rief Anya und strahlte auf einmal wieder übers ganze Gesicht. „Wenn es das ist was du willst, werde ich natürlich sofort... autsch“ Anya verstummte und rieb sich den Hinterkopf, nachdem Naruz ihr einen leichten Schlag mit der Handkante verpasst hatte.
„Sobald wir in Hogwarts sind werden wir beide vorgehen während Anya sich umzieht.“
„Das wäre Zeitverschwendung, ich kann mich auch gleich hier und jetzt umziehen, wenn du willst Luciel. Du musst nicht einmal die Augen zu machen, im Gegenteil, ich wäre dir sehr dankbar wenn du sie offen lassen würdest.“
„Verstehe, also zieht sie sich um sobald wir angekommen sind.“ meinte Luciel seufzend und ignorierte seine Schwester. „Warum hast du eigentlich den Posten hier angenommen? Ich dachte immer du magst die Insel nicht.“
„Direktorin Greifswald hat mich darum gebeten.“ antwortete der Vampir seufzend. „Sie hat darauf bestanden, dass ich es bin. Anscheinend hat sie eine Art Austausch mit Hogwarts geplant, in der beide Seiten mehr über die Magie der jeweils anderen lernen.“
„Hm? Warum dann ausgerechnet du? Ich dachte eigentlich immer, dass sie dich nicht mag.“
„Tut sie auch nicht, aber sie denkt dass ich der einzige bin, der dafür geeignet ist um auf... na ja, sie denkt jedenfalls das außer mir keiner der Lehrer mit der Aufgabe zurechtkommt.“
„Gut, kommen wir zu einer letzten, wichtigen Frage: warum sind wir vom Flughafen aus direkt nach Hogwarts aufgebrochen, anstatt vorher in unserem Hotel anzuhalten und das Gepäck abzugeben? Ich traue der ganzen Sache nicht, irgendetwas verschweigt ihr mir noch immer.“
Bevor irgendjemand darauf antworten konnte hielt die Kutsche plötzlich an und die Tür öffnete sich.
„Professor Dracul, Mrs. Cambeli, Mr. Cambeli, wir haben unser Ziel erreicht.“ sagte der Kutscher und verneigte sich leicht.
„Vielen Dank, Luciel und ich werden bereits vorgehen, Anya wird sich noch umziehen und uns dann folgen.“ meinte Naruz während er aus der Kutsche stieg. Luciel zögerte einen winzigen Augenblick, seufzte dann jedoch und folgte ihm. In gewisser Weise hatte Naruz vorhin recht gehabt, denn der Vampir war tatsächlich der einzige Lehrer der Akademie, den Luciel leiden konnte. Es würde schon schwer genug für ihn werden wenn Naruz plötzlich weg war, also konnte er auch ein paar Stunden seiner Zeit erübrigen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück in seiner neuen Schule zu wünschen... auch wenn Luciel sich noch immer fragte, warum man ihn nicht vorher etwas gesagt hatte. Es war bereits dunkel und als Luciel aus der Kutsche stieg fiel sein Blick direkt auf das große, alte Schloss vor dem das Gefährt angehalten hatte. Es schien wahrhaft riesig zu sein und erweckte einen ehrfürchtigen und imposanten Eindruck, ganz anders als die Greifswald-Akademie, welche sich nicht großartig von gewöhnlichen Schulen unterschied. Vor den Toren des Schlosses stand ein alter Mann mit grauen Haaren der eine, ebenfalls sehr alt aussehende, Katze in seinen Armen hielt.
„Ihr müsst die Gäste aus Deutschland sein auf die wir warten, nehme ich an?“ sagte der Mann und humpelte auf Naruz und Luciel zu.
„Geht ruhig vor, ich finde euch dann schon.“ meinte Anya und schloss die Tür zur Kutsche hinter den beiden, um sich umzuziehen.
„Die sind wir, ich bin Naruz Dracul und werde zukünftig als Lehrer für Zaubertränke hier arbeiten. Der junge Mann hier ist Luciel Cambeli, in der Kutsche ist seine ältere Schwester, Anya Cambeli. Die beiden begleiten mich heute Abend.“
„Freut mich Sie kennenzulernen, ich bin Filch, der Hausmeister von Hogwarts.“ sagte der Mann und warf Luciel einen musternden Blick zu. „Ist das der Junge, der...“
„Darüber werden wir später noch reden können.“ unterbrach Naruz den Hausmeister mit einem Lächeln und legte eine Hand auf Luciels Schulter. „Vorerst müssen Sie nur wissen, dass er mich begleitet, Mr. Filch.“
„Fledermaus! Was wollte der Katzenfetischist gerade sagen?“ fragte Luciel im Flüsterton, als der Hausmeister sich schnaubend abgewandt hatte und wieder in Richtung Hogwarts humpelte.
Naruz und Luciel setzten sich in Bewegung, jedoch mit einigem Abstand damit ihr Gespräch nicht gehört werden konnte.
„Nichts wichtiges, ich glaube er hat dich für einen Schüler gehalten der zu spät gekommen ist. Entweder das, oder deine Uniform hat ihn verwirrt, ich bin mir sicher die sieht man nicht allzu häufig hier im Norden.“
„Mhm... wenn du meinst.“ murmelte Luciel, womit das Gespräch auch vorerst beendet war.
Als sie das Schloss betraten sah Luciel direkt in der Eingangshalle vier große Stundengläser die in Einbuchtungen an der Wand standen, jedes mit einem anderen Wappen über sich und gefüllt mit Edelsteinen, jedoch jedes mit einer anderen Farbe, eines war grün, eines rot, eines blau und das letzte gelb. Gegenüber des Eingangs zum Schluss war auch direkt eine weitere, große Flügeltür zu sehen, Licht schien unter dem Schlitz hervor und Gemurmel war aus dem Raum zu hören.
„Was ist das? Die Eröffnungszeremonie?“ fragte Luciel, an niemand bestimmtes gewandt während sie sich der Tür näherten.
„So kann man es nennen. Das ist die Große Halle, die Schüler wurden gerade auf ihre Häuser verteilt und essen, sobald sie fertig sind, wird die Direktorin euch vorstellen.“ sagte Filch, ohne sich umzudrehen, drehte dann jedoch kurz vorm Eingang zur Großen Halle ab und führte Naruz und Luciel zu einer Art Seitengang, den diese überhaupt nicht bemerkt hatten. „Der Gang hier führt direkt zum Podium der Lehrer.“ erklärte der Hausmeister und trat ein.
„Was meint er mit Häusern, Fledermaus?“ fragte Luciel, während er sich gähnend streckte und zusammen mit Naruz dem Hausmeister folgte.
„Hogwarts teilt seine Schüler auf eines von vier Häusern auf, die alle nach den Gründern der Schule benannt sind. Soweit ich es verstanden habe konkurrieren diese untereinander darum wer das beste Haus ist... oder etwas in die Richtung.“
„Teamarbeit? Lächerlich.“ murmelte Luciel und schlagartig verfinsterte sich seine Miene.
„Du denkst genauso wie Direktorin Greifswald.“ meinte Naruz und lachte leise. „Nun gut, jeder Schüler der Akademie denkt natürlich so. Hogwarts ist vollkommen anders als Greifswald, musst du wissen. Hier geht es einfach nur darum junge Hexen und Zauberer auszubilden, wie eine normale Schule der Muggel es mit gewöhnlichen Kindern macht.“
„Tatsächlich? Und ich dachte schon alle Schulen sind so wie zuhause, ich verstehe langsam warum du zugestimmt hast hierher zu wechseln.“ sagte Luciel und steckte eine Hand in seine Hosentasche. Als er sie wieder hervor nahm hielt er drei kleine Kugeln in der Hand, eine war silbern, eine eisblau und eine blutrot, alle drei waren aus einem leichten Metall hergestellt und gaben eine unnatürliche Wärme von sich. „Tch, Anya denkt wirklich an alles. Ich hatte die eigentlich in meinem Schlafzimmer in Greifswald gelassen.“ sagte Luciel seufzend, während die Kugeln aus seiner Hand schwebten und anfingen um seinen Kopf zu schwirren.
„Natürlich, ich kann meinen kleinen Bruder doch nicht ohne seinen Fokus aus dem Haus lassen!“ erklang plötzlich eine Stimme hinter Luciel, kurz darauf gesellte Anya sich an seine Seite. Sie trug nun ebenfalls eine Schuluniform aus Greifswald, zusammen mit hochhackigen Schuhen. Um ihren Hals trug sie eine silberne Kette in Form eines Kreuzes, in dessen Mitte ein Rubin schimmerte. „Wie gefällt es dir?“ fragte Anya und wirbelte einmal um die eigene Achse, als sie merkte wie Luciel sie musterte.
„Du siehst überraschend gut darin aus.“
„Das 'überraschend' war unnötig.“ sagte Anya und ließ den Kopf hängen.
„Aber warum hast du überhaupt eine Schuluniform? Du hast doch schon deinen Abschluss gemacht.“
„Warum? Natürlich für den Fall, das du eines Tages einen Fetisch für Schuluniformen entwickelst! Dann kann ich...“
„Vergiss das ich gefragt habe.“ kanzelte Luciel seine Schwester ab und hielt urplötzlich an, um nicht in Naruz' Rücken zu laufen. Der Vampir war zusammen mit Filch vor einer geöffneten Tür stehengeblieben.
„Wartet hier einen Moment, ich werde der Direktorin sagen dass ihr da seid.“ meinte der Hausmeister und trat durch die Tür in das ein, was Luciel für die große Halle hielt. Nur eine knappe Minute später stand Filch wieder vor ihnen und nickte. „Gut, ihr dürft eintreten.“ sagte er, woraufhin Naruz sich wieder in Bewegung setzte.
„Los, wir auch.“ flüsterte Anya Luciel ins Ohr und stieß ihn leicht an. Gemeinsam betraten die Geschwister hinter Naruz die Große Halle, wobei Luciel merkte dass er aus irgendeinem Grund immer nervöser wurde. Er hatte irgendetwas übersehen, ein sehr wichtiges Detail... nur was?
Bevor er jedoch Zeit hatte weiter darüber nachzudenken, wurde seine Aufmerksamkeit auf eine alte Frau mit Brille gelenkt, deren Haare fast vollständig unter einem großen Hut verschwanden und die eine verdammt altmodische, schwarze Robe trug. Sie schlug mit einem Löffel gegen ihr Glas und sorgte somit dafür, dass das allgemeine Gemurmel, welches bis eben in der Halle geherrscht hatte, verstummte, wenn auch langsam. „Ruhe, bitte!“ sagte die Frau mit einem strengen Unterton in der Stimme.
Während die letzten Gespräche in der Halle noch verstummten, ließ Luciel seinen Blick durch die Gegend wandern. Er selber stand mit seiner Schwester und Naruz auf einem leicht erhöhten Podium, von wo aus man die gesamte Halle überblicken konnte und an dem mehrere, alte Männer und Frauen saßen, wahrscheinlich die Lehrer der Schule. Hier und da konnte Luciel auch einen etwas jüngeren Lehrer erkennen, aber die meisten waren recht alt. In der Halle selber standen vier riesige Tische, deren Sitzbänke bis auf den letzten Platz mit Schülern in allen Altersgruppen vollgestopft waren. Als er nach oben sah bemerkte Luciel, dass die Decke der Halle entweder aus Glas zu bestehen schien, oder aber mit irgendeinem Zauber belegt sein musste, welcher die Wetterbedingungen draußen wiedergab, denn anstelle einer steinernen Decke sah er einen dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Inzwischen hatten sich die Blicke sämtlicher Schüler auf das Podium gerichtet, vor allem auf Luciel und Anya, die mit ihren Uniformen weit mehr herausstachen als Naruz, welcher ohnehin schon gut darin war keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen und unauffällig in einer Ecke zu stehen. Natürlich könnte es auch an Luciels Fokus liegen, den drei Kugeln die noch immer um seinen Kopf schwebten.
„Wie ich bereits vor dem Essen gesagt habe, wird es dieses Jahr in Hogwarts zwei Besonderheiten geben.“ sagte die streng aussehende Frau, die Luciel für die Direktorin der Schule hielt, Minerva McGonagall, wenn er sich nicht irrte. „Zum einen begrüßen wir einen neuen Lehrer für Zaubertränke in unseren Reihen.“ fuhr sie fort, woraufhin Naruz einen Schritt nach vorn trat und somit die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. „Professor Naruz Dracul, ein rumänischer Experte für Zaubertränke, der bislang an der Greifswald-Akademie von Deutschland unterrichtet hat. Wie Sie alle sicherlich wissen ist die Akademie noch sehr jung, hat aber trotzdem bereits einen gewissen Ruf talentierte Schüler hervorzubringen. Professor Dracul wird fortan hier in Hogwarts unterrichten und uns neue Formen von Zaubertränken zeigen, welche er selber in Rumänien entwickelt hat, oder deren Herstellung in Greifswald beigebracht wurde.“
Naruz selber sagte nichts, er winkte nur kurz den Schülern zu und verbeugte sich leicht, als diese für ihn klatschten. Luciel klatschte ebenfalls, runzelte jedoch mit der Stirn. Je mehr er darüber nachdachte, desto merkwürdiger wurde das ganze. Warum hatte Naruz ihm nicht schon früher gesagt, dass er Greifswald verlassen würde? Sie hätten sich schon viel früher voneinander verabschieden können. Und warum hatte seine Schwester ihm vorgelogen, sie würden Ferien in Großbritannien machen, wenn sie nur Naruz auf wiedersehen sagen wollte? Warum musste sie ihn anlügen und so nach Britannien locken? Hatte sie Angst, dass er nicht mitkommen würde wenn sie die Wahrheit sagte? Selbst wenn, was wäre so schlimm daran, wenn er für die paar Tage in Deutschland geblieben wäre?
Die Antwort auf diese Frage erhielt Luciel noch im selben Augenblick, in dem er sie sich gestellt hatte, und zwar von der Direktorin von Hogwarts.
„Jedoch werden wir nicht nur einen neuen Lehrer in Hogwarts begrüßen können.“ sagte sie, nachdem der Applaus für Naruz sich gelegt hatte. „Zum ersten mal in der Geschichte von Hogwarts werden wir einen Gastschüler begrüßen können! Als Teil eines Austausches und gegenseitigen Lernens mit Greifswald, haben unsere neuen Freunde in Deutschland uns einen ihrer Schüler geschickt, der die nächsten zwei Jahre zusammen mit Ihnen studieren wird. Er wird in der sechsten Klasse einsteigen und ich bitte jeden hier, ihn so zu behandeln, als wäre er schon seit seinem ersten Jahr hier.“
„Oh? Ein Gastschüler?“ fragte Luciel verdutzt an seine Schwester gewandt. „Jemand den ich kenne?“
„Hm... kann man so sagen.“ murmelte Anya und ging einen Schritt nach hinten und zwei nach links. Dadurch stand sie wie zufällig direkt zwischen Luciel und der Ausgangstür, dem in diesem Augenblick klar wurde, das er einen gewaltigen Fehler gemacht hatte. Er hatte seiner Schwester und Naruz vertraut und sich nichts weiter bei der ganzen Sache gedacht... und das rächte sich jetzt.
„Begrüßt bitte Luciel Cambeli!“ sagte McGonagall und erneut klatschten die Schüler, wenn auch mit weit mehr Getuschel und Gemurmel als bei Naruz.
Luciel bekam davon jedoch recht wenig mit, er blinzelte die Direktorin nur ungläubig an und deutete mit dem Finger auf sich. „Ähm... ich?“ fragte er, leicht verwirrt.
„Wenn Sie Luciel Cambeli sind, dann ja, Sie.“ meinte die Direktorin und nickte. „Anhand Ihrer Reaktion gehe ich davon aus, dass Sie nicht von Ihrer Direktorin darüber unterrichtet wurden?“ fragte sie und runzelte die Stirn.
„Kann man so sagen.“ murmelte Luciel und warf einen Blick zu Anya.
„Nun, ich fürchte es ist beschlossene Sache.“ sagte McGonagall, inzwischen war der Applaus abgeklungen und es wurde noch lauter Getuschelt. „Sowohl Ihre Direktorin, als auch Ihr Vormund haben uns die Erlaubnis gegeben, wir haben sogar Ihre Unterschrift auf den notwendigen Papieren.“ sagte McGonagall.
„Mein Vormund? Anya... was hast du getan?“ fragte Luciel und warf seiner Schwester einen strengen Blick zu.
Diese lächelte jedoch nur und zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid Luciel, aber sowohl ich als auch Naruz hielten das für die beste Möglichkeit. Dir hat es in Greifswald eh nie gefallen, ich bin mir sicher dass es dir hier weit besser gehen wird.“
„Bist du wahnsinnig?“ fragte Luciel, vollkommen ungläubig. „Es gibt hier kein Internet! Kein Strom! Wie soll es mir hier besser gehen?! Tut mir leid, Frau Direktorin, Anya, Naruz. Aber das hier ist nichts für mich! Ich werde zurück nach Greifswald gehen!“
„Das bezweifle ich, Luciel.“ sagte Anya und lächelte noch immer. „Es hat schon seinen Grund, warum ich dabei bin. Du bist nicht dumm und wahrscheinlich schon alle Fluchtmöglichkeiten durchgegangen, nicht wahr?“ fragte Anya, während sie ihrem Bruder zuzwinkerte. „Deine Fluchtchancen sind inzwischen bei elf Prozent... sieben.“ verbesserte sie sich, als sie sah wie Naruz einen Schritt nach vorn trat und somit den Weg zu einer gegenüberliegenden Tür auf dem Lehrerpodium versperrte.
„Verzeihung, Mrs. Cambeli... aber wovon reden Sie hier eigentlich?“ fragte McGonagall.
„Das werde ich Ihnen erklären, sobald Luciel aufgegeben hat.“ sagte Anya beruhigend, ließ Luciel dabei jedoch nicht aus den Augen.
Dieser seufzte und ließ seine Fokuskugeln plötzlich in seinen Händen landen. „Schon gut, ich gebe auf Anya.“ sagte er und schenkte seiner Schwester ein strahlendes Lächeln, dem selbst auf der Akademie in Deutschland niemand wirklich widerstehen konnte. „Du bist einfach zu gut für mich, Schwesterherz.“ fügte er hinzu, woraufhin Anya anfing glücklich zu strahlen.
„Luciel! Du...“ begann sie und musste im selben Augenblick mit ansehen wie ihr Bruder seine Kugeln wieder in die Luft warf, einen Schritt nach vorn trat und vom Lehrerpodium nach unten in die Halle sprang. „... hast mich mal wieder reingelegt.“ beendete Anya mit niedergeschlagener Stimme ihren Satz, während Luciel begann so schnell er konnte in Richtung der großen Türen zu laufen. Er konnte spüren wie die Blicke sämtlicher Anwesenden an ihm zu kleben schienen, doch davon ließ er sich nicht beeindrucken. Sobald er die Halle verlassen hatte, war er in Sicherheit soviel stand fest! Jedoch sollte er nicht einmal bis zur Tür kommen. Als er die Halle bis zur Hälfte durchquert hatte, erklang hinter Luciel auf einmal eine Art sanftes Glockenläuten und ein Raunen ging durch die Halle, keine zwei Sekunden später schoss etwas über Luciel durch die Luft und landete direkt vor ihm. Es war Anya, aus deren Rücken zwei Flügel aus reinem, weißem Licht wuchsen.
„Das... das ist doch wohl ein Scherz, oder Anya?“ fragte Luciel und schluckte nervös. 'Die Schwingen der Seraphim' war ein Zauber den nur die besten Studenten in Greifswald überhaupt nutzen konnten, ihn innerhalb von wenigen Augenblicken ohne Formel anzuwenden überstieg selbst die Fähigkeiten der meisten Lehrer dort. Anscheinend hatte sich Anya ihren Titel als Kampfmagierin durchaus verdient. „Du hast nicht gerade wirklich einen 'A-Rang' Zauber benutzt, nur um mich an der Flucht zu hindern, oder?“
„Du wirst mir nie entkommen, Luciel.“ meinte Anya und lächelte. „Jetzt sei brav, gib auf und finde dich damit ab, dass du für eine Weile in Hogwarts bleiben wirst.“
„Niemals, eher...“ weiter kam Luciel nicht, denn seine Schwester schoss ohne Vorwarnung nach vorn und rammte ihre Faust in seine Magengrube, ehe sie ihn einem Hieb mit der Handkante gegen den Nacken gab.
Das letzte, was Luciel hörte bevor alles um ihn herum schwarz wurde war Anyas Stimme die sagte: „Tut mir leid, aber so ist es am besten für dich...“
…
Mit einem leisen Stöhnen öffnete Luciel die Augen und merkte, dass er auf einem kleinen Sofa lag, mit seinen Fokuskugeln direkt neben sich. Er richtete sich langsam auf und sah sich um, während er sich den Bauch rieb der noch immer ein wenig schmerzte nach Anyas Schlag. Anscheinend war er in einer Art Pokalzimmer, denn überall standen Vitrinen mit diversen Pokalen und Trophäen, etwas anderes schien es nicht zu geben. In der Nähe standen drei Stühle, auf zwei von ihnen saßen Anya und McGonagall, auf dem dritten ruhte ein schlichter, mitgenommener, brauner Hut.
„Luciel! Dir geht es gut!“ rief Anya plötzlich, die sich bis eben noch mit der Direktorin unterhalten hatte und stürzte sich auf ihren Bruder. „Ich hatte solche Angst, als du plötzlich zusammengebrochen bist!“ fügte sie hinzu, während sie ihm um den Hals fiel.
„Ach ja? Und wessen Schuld ist das wohl?!“ fragte Luciel aufgebracht und schob seine Schwester ein wenig von sich.
„Mr. Cambeli, Ihre Schwester hat mir eben alles über Sie erzählt... über Sie und Ihre Situation in Greifswald.“ sagte McGonagall und bei diesen Worten verfinsterte sich Luciels Miene.
„Anya... was hast du ihr gesagt?“
„Genug damit sie weiß, dass es am besten für dich ist wenn du hier in Hogwarts bleibst.“ sagte Anya und wandte schuldbewusst den Blick ab.
Luciels Blick wanderte zu McGonagall. „Und? Nach allem was Sie gehört haben, wollen Sie mich noch immer hier in Hogwarts haben?“ fragte er und lächelte schwach.
„Nach allem was ich gehört habe, war es ein Unfall. Sie betrifft keine Schuld.“
Luciel schnaubte, sagte jedoch nichts.
„Allerdings werden wir Sie natürlich nicht dazu zwingen, gegen Ihren Willen in Hogwarts zu bleiben.“ fügte die Direktorin hinzu. „Daher haben Mrs. Cambeli und ich uns etwas überlegt. Wie wäre es, wenn Sie einen Monat lang auf Probe hier in Hogwarts bleiben? Wenn Sie danach noch immer nicht bleiben wollen, können Sie sofort nach Greifswald zurückkehren. Solange würde Ihre Schwester auch hier bleiben... das war eine ihrer Bedingungen.“
Luciel seufzte, er hatte überhaupt keine Lust hier zu bleiben, aber wie es schien blieb ihm keine große Wahl. Selbst wenn er entkommen und nach Deutschland zurückkehren könnte, würde Anya ihm diese Flucht wahrscheinlich nie verzeihen. Außerdem... was hatte er schon noch in Deutschland? Nun gut, Internet und Strom, aber nicht viel mehr. „Also gut, ich gebe auf. Ich werde diese Probezeit mitmachen.“ sagte er schließlich und zuckte mit den Schultern. „Allerdings unter einer Bedingung.“
„Was für eine Bedingung?“
„Wie ich das sehe, wird hier in Hogwarts in der Großen Halle gemeinsam gegessen... ich will eine eigene Küche.“
„Sie... wollen selber kochen?“
„Genau, nichts für ungut, aber ich habe mein ganzes Leben lang selber gekocht und werde so schnell nicht damit aufhören, außerdem traue ich den ausländischen Küchen nicht.“ sagte Luciel und verschränkte die Arme. „Alles was ich brauche sind Zutaten, Geschirr, ein paar Töpfe und ein Herd, lässt sich das einrichten?“
McGonagall schien eine Weile lang nachzudenken, nickte dann jedoch. „Das dürfte kein Problem sein, auch wenn es... ungewohnt ist. Sie sind der erste Schüler, der eine solche Bitte hatte.“
„Gut, dann ist das ja geklärt.“ meinte Luciel und lächelte. „Was passiert jetzt?“
„Da Sie nun offiziell Teil von Hogwarts sind, müssen wir erst einmal sehen zu welchem Haus Sie gehören werden. Jeder Schüler gehört zu einem Haus hier in Hogwarts, Sie werden zusammen mit den anderen Schülern Ihres Hauses schlafen, mit ihnen essen und den Großteil Ihrer Freizeit mit ihnen verbringen. Die vier Häuser sind Gryffindor, Ravenclaw, Hufflepuff und Slytherin.“
„Verstehe, darf ich mir eines aussuchen?“
„Nein, das übernimmt der Hut für Sie.“ meinte McGonagall und deutete auf den lumpigen Hut, der auf dem Stuhl neben ihr lag.
„Aha, der... Hut wird mir sagen, in welches Haus ich gehöre.“ sagte Luciel mit tonloser Stimme und warf der Direktorin einen leicht besorgten Blick zu. Ob sie wohl ein wenig verrückt war?
„In der Tat, das werde ich.“
Luciel zuckte zusammen und konnte nicht ganz glauben, was er dort sah. Der Hut... bewegte sich! Er hatte plötzlich eine Art Mund und etwas, das an Augen erinnern konnte und er... sprach! „Das... Ding kann sprechen?“ fragte er erstaunt.
„Natürlich kann ich sprechen, ich bin der Sprechende Hut. Seit hunderten Jahren habe ich die neuen Schüler von Hogwarts auf ihre Häuser verteilt.“
„Interessant.“ murmelte Luciel, stand vom Sofa auf und kniete sich vor den Hut. „Ich wusste gar nicht, das man mit Magie so nutzlose Dinge wie einen sprechenden Hut erschaffen kann.“
„Nutzlose Dinge?“ fragte der Hut und klang leicht empört.
„Verzeiht meinem kleinen Bruder.“ warf Anya ein und legte eine Hand auf Luciels Schulter. „Er ist ein wenig verärgert wegen, ähm, na ja, mir.“
„Ich werde es ihm nachsehen, immerhin seid ihr nicht von hier. Aber ich warne dich, Junge, sage so etwas nicht noch einmal.“ ermahnte der Hut Luciel, der jedoch nur mit den Schultern zuckte.
„Von mir aus, tut mir leid... was soll ich jetzt machen?“
„Setzen Sie den Hut auf und warten dann, bis er ihnen sagt zu welchem Haus Sie gehören.“ sagte McGonagall.
„Das ist alles?“
„Das ist alles.“
„Na gut, wenn Sie meinen.“ mit diesen Worten packte Luciel den Hut und setzte ihn sich auf den Kopf.
„Mhm... verstehe... wirklich eine interessante Schule, diese Akademie. Du hast das Wesen deiner alten Schule wirklich ganz und gar verinnerlicht, Junge. Daher gibt es keinen Zweifel, du gehörst nach Slytherin.“ sagte der Hut, woraufhin Luciel ihn wieder absetzte.
„Das ging schneller als erwartet.“ meinte McGonagall überrascht. „Ich hätte nicht gedacht, das es so leicht wird jemanden zuzuordnen, der bereits jahrelang auf eine andere Schule gegangen ist. Aber gut, da das nun geklärt ist... Filch!“ rief die Direktorin, woraufhin der Hausmeister, der bislang unbemerkt in einer Ecke gestanden hatte, einen Schritt nach vorn trat.
„Ja, Direktorin?“
„Holen sie die neue Vertrauensschülerin aus Slytherin, sie soll Mr. Cambeli und seine Schwester zum Gemeinschaftsraum führen.“
„Jawohl, Direktorin.“ antwortete der Hausmeister und verließ das Zimmer.
„Moment! Haben Sie gerade gesagt, das meine Schwester ebenfalls nach Slytherin kommt?“
„Sie ist keine Schülerin hier und nur dafür da, um Sie zu beobachten, also ja. Sie kommt ebenfalls nach Slytherin.“
„Wie... schön.“ murmelte Luciel
„Findest du wirklich?“ fragte Anya begeistert und umarmte Luciel erneut. „Wir werden einen ganzen Monat zusammen verbringen, ich kann es kaum erwarten!“ fügte sie begeistert hinzu.
„Und ich kann es kaum glauben.“ antwortete Luciel und versuchte erneut seine Schwester von sich zu schieben.
McGonagall öffnete gerade den Mund um etwas zu sagen, als es an der Tür klopfte. „Herein.“ sagte die Direktorin, woraufhin die Tür aufschwang und ein junges Mädchen mit langen, blonden Haaren und grünen Augen eintrat. Sie trug die schlichte, schwarze Kleidung, welche Luciel für die Uniform von Hogwarts hielt und auf ihrer Brust war ein grünes Wappen gestickt, auf dem eine silberne Schlange zu sehen war.
„Sie haben mich gerufen, Direktorin?“ fragte das Mädchen und wirkte ein wenig überrascht.
„In der Tat, das habe ich Mrs. Greymoore. antwortete McGonagall und nickte. „Das hier ist Morrigan Greymoore, Fünftklässlerin und Vertrauensschülerin von Slytherin.“ fügte sie an Luciel gewandt hinzu, ehe sie sich wieder an das Mädchen wandte. „Und das sind Luciel Cambeli, unser Gastschüler und seine Schwester Anya Cambeli. Die beiden werden eine Weile mit uns in Hogwarts leben und zwar als Slytherin. Ich möchte Sie darum bitten die beiden in den Gemeinschaftssaal zu führen, nachdem mir eine wichtige Frage beantwortet wurde.“
„Frage?“ meinte Luciel und ignorierte das neue Mädchen vollkommen. Andererseits schien sie ihm ebenfalls keinerlei Beachtung zu schenken, weshalb sie sich nicht sonderlich daran störte.
„Genau genommen ein paar Fragen, und zwar über Greifswald, oder besser gesagt diese neue Art der Magie, von der Ihre Direktorin in ihrem Brief an mich geschrieben hat.“ sagte McGonagall und musterte Anya aufmerksam. „Um ehrlich zu sein habe ich zuerst nicht geglaubt, dass sich unsere Magie so sehr von der euren unterscheidet, aber was ich in der Halle gesehen habe hat mich eines besseren belehrt. Außerdem sehe ich keine Zauberstäbe, was also hat es mit eurer Form der Magie auf sich?“
Nach der Frage der Direktorin herrschte eine Weile lang schweigen, dann ließ Anya sich plötzlich auf dem Sofa nieder, schloss eines ihrer Augen und warf Luciel aus dem anderen einen auffordernden Blick zu. „Mein Bruder kann es besser erklären als ich.“ behauptete sie und schloss dann auch das andere Auge.
Luciel seufzte erneut, schüttelte dann jedoch mit dem Kopf, setzte sich und richtete seinen Blick auf McGonagall, während er seine Kugeln aufhob und sie wieder um seinen Kopf schwirren ließ. „Also gut, da Anya zu faul ist, werde ich es einmal versuchen.“ meinte er und sah wie Morrigan sich auf einem der freien Stühle niederließ. „Im Prinzip ist es ganz einfach, unsere Magie ist nicht... natürlich, im Gegensatz zu Ihrer und der Ihrer Schüler. Man kann sagen, dass unsere Magie künstlich ist. Vor beinahe zehn Jahren erschuf eine geniale Magierin in Japan etwas das bei uns als 'Kern' bezeichnet wird. Niemand weiß wie genau er funktioniert, aber er produziert Unmengen an Energie, die von uns in Magie umgewandelt werden kann, mithilfe solcher Geräte.“ sagte Luciel und deutete auf die Kugeln. „Jeder Magier in Greifswald hat einen Gegenstand, den wir 'Fokus' nennen, bei mir sind es diese drei Kugeln, bei Anya ihre Halskette. Der Fokus entzieht dem Kern Energie und hilft uns dabei sie in Magie umzuwandeln und somit zu zaubern. Die meisten Zauber benötigen sprachliche Befehle um sie zu benutzen... man könnte diese Sprüche als Makros bezeichnen. Es sind Befehle, die auf magische Art und Weise in den Fokus eingespeichert wurden. Wenn man dann den Befehl ausspricht, erinnert der Fokus sich an den Zauber der dazu gehört und wirkt ihn beinahe automatisch. Je mächtiger der Zauber ist, desto länger ist die Formel um ihn zu aktivieren. Allerdings kann man nicht jeden beliebigen Spruch nehmen, jeder Zauber hat einen fest vorgeschriebenen Befehl, alles andere würde den Kern und den Fokus überlasten.“
„Das klingt ein wenig nach... Muggeltechnologie.“ sagte McGonagall, leicht verwundert.
Luciel nickte. „Ich weiß, Technologie ist ein wichtiger Bestandteil unserer Magie. Je mächtiger ein Magier ist, desto weniger muss vom Befehl ausgesprochen werden, manche Magier können gar ohne Befehle mächtige Zauber wirken. Allerdings ist das eher den Lehrern und Königen der Akademie vorenthalten.“
„Könige? Ist das eine Bezeichnung für die Schulleitung?“
„Nein, für einige der Studenten. Sie müssen wissen, dass unsere Akademie ganz anders ist als Hogwarts, bei uns gibt es keine Häuser, sondern einen individuellen Wettkampf. Wir sind ungefähr dreihundert Schüler, die gegeneinander konkurrieren. Jeder Schüler hat einen Rang der zeigt wie gut er, oder sie, ist. Ränge werden alle drei Monate neu verteilt und werden anhand von Prüfungsergebnissen und Duellen gemessen. Die Ränge eins bis drei werden in Greifswald als 'Könige' bezeichnet, als die absolute Elite der Akademie.“ erklärte Luciel und warf einen kurzen Blick zu Anya. „Glauben Sie es oder nicht, aber meine Schwester war tatsächlich einmal die Nummer zwei der Akademie.“
„Ach Luciel, du schmeichelst mir.“ sagte Anya, peinlich berührt und kratzte sich verlegen am Hinterkopf.
„Ich selber bin seit meinem letzten Duell übrigens Rang hundertzwanzig.“ fügte Luciel hinzu. „War das alles was Sie wissen wollten, Direktorin?“
McGonagall zögerte kurz, nickte dann jedoch. „Ja, vielen Dank, Mr. Cambeli. Diese neue Magie klingt... interessant. Es ist definitiv etwas, das man unseren Schülern zumindest einmal zeigen sollte. Aber darüber können wir später noch reden, ich nehme an Sie sind müde nach der langen Anreise. Mrs. Greymoore, bringen sie Mr. Cambeli und seine Schwester bitte in den Gemeinschaftssaal. Alles andere, wie zum Beispiel Ihren Stundenplan, können wir dann beim Frühstück klären, Mr. Cambeli. Ich wünsche Ihnen nun eine gute Nacht.“ meinte die Direktorin und erhob sich von ihrem Stuhl, woraufhin auch Morrigan, Luciel und Anya aufstanden.
„Natürlich, Direktorin.“ meinte Luciel. „Gute Nacht.“
„Gute Nacht, Professor McGonagall... folgt mir.“ sagte die Vertrauensschülerin und wandte Luciel ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen den Rücken zu und verließ das Pokalzimmer. Dieser fragte sich kurz, ob er womöglich etwas falsches gesagt hatte, zuckte dann jedoch mit den Schultern und folgte dem Mädchen, zusammen mit Anya. Er hatte größere Probleme, als dieses fremde Mädchen das er womöglich beleidigt hatte... zum Beispiel die Tatsache das er tatsächlich gerade eben die Schule gewechselt hatte. Luciel seufzte leise und schüttelte den Kopf. Vielleicht wäre es wirklich am besten, erst einmal zu schlafen, sich zu beruhigen und zu sehen, was der nächste Tag so bringen würde...