[Biete] Drei Stunden

Munchie

Ungläubiger
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Drei Stunden

Kapitel 1 - Die Kälte des Todes

Kälte durchfuhr meinen Körper. Meine Beine froren. Meine Füße. Meine Hände. Ich hatte mich die letzten Stunden nicht bewegt und langsam begann der Frost des Winters an mir herauf zu kriechen. An mir. In mir.
Aber da war noch etwas. Nicht nur die Kälte des Winters. Nicht die des Schnees und des Eises.
Eine andere Kälte. Eine, die mir einen Schauer über den Rücken jagte.
Die Kälte des Todes.
Ich wusste nicht warum. Ich wusste nicht wie. Ich wusste nur, dass sie da war. Ich spürte sie. Aber erklären konnte ich sie nicht. Sie war einfach da und ich akzeptierte dies.
Es war niemand in der Nähe, der dieses Gefühl hätte auslösen können. Es war überhaupt niemand da. Der Bahnsteig war leer. Verschneit. Einsam. Keine Passanten, die auf ihren Zug warteten. Keine Fahrgäste, die ankamen und fröhlich aus dem Zug ausstiegen. Es würde auch kein Zug mehr einfahren. Es war mitten in der Nacht. Dabei hätte sie längst da sein sollen. Sie hätte ankommen sollen. Vor drei Stunden. Vor drei Stunden hätte der letzte Zug kommen sollen. Doch er kam nicht. Aber er musste!
Ich wartete seit dieser Zeit. Seit drei Stunden stand ich am Bahnsteig. Unbeweglich. Festgefroren. Und starrte ins Nichts. In den wütenden Schnee vor meinen Augen. Auf den Gleisen. Auf den Baumkronen. Die Flocken schwirrten ins Nirgendwo. Ich mittendrin. Im Nichts. Nur das Rauschen des Windes, des Schneegestöbers. Dort wartete ich. Auf den Zug, der niemals ankam. Der Zug, der vor drei Stunden einfahren sollte. Der es nicht tat. Sie fehlte. Sie sollte da sein. Im Zug. Hier. Neben mir. Doch sie war nicht hier. Denn der Zug kam nicht.
Ich konnte es nicht akzeptieren. Er musste ankommen, daran führte kein Weg vorbei. Kam er nicht, so war es nicht richtig. Zerbrechlich. Ein Leben ist zerbrechlich und hängt von vielem ab. Meines hing von ihr ab. Der Zug. Wo war er? Er hätte vor drei Stunden hier sein sollen. Ich sollte gehen. Vergessen. Es hinnehmen. Aber ich konnte nicht. Was tat ich? Warum tat ich es?
So verging die Zeit. Langsam und quälend.
Ich verstand es nicht.
Eisige Flocken umkreisten mich. Meine steife sterbliche Hülle. Ich sah mich selbst. Wie ich dort auf dem Bahngleis stand. Wartend und fröstelnd. Ich war bewegungslos und rastlos. Wie der Wind, so waren auch meine Gedanken unruhig. Sie rasten. Wo blieb der Zug? Wo blieb sie? Langsam bewegte ich meinen Kopf zur Seite. Sah auf die große Uhr. Sie war eingefroren. Wie ich. Und zeigte an, was ich spürte. Drei Stunden wartete ich. Es war sinnlos. Hoffnungslos. Eine verzweifelte Handlung. Aber ich konnte nicht loslassen. Es hätten auch drei Jahre sein können. Ich war im Nichts. Um mich war nichts. Ich war Nichts. Nur eine leere Hülle mit zerstörter Seele. Meine Finger waren rot. Ich hatte kein Gefühl mehr. Fühlte mich unbeweglich. Als wäre ich gerostet. Wie eine alte Maschine, die zu lange gewartet hatte. Auf Pflege. Fürsorge. Sie rostete durch die steigende Feuchtigkeit und wurde allein gelassen. Sie war unbrauchbar. Sie konnte ruhig rosten. So war ich. Ich war eine Maschine. Und ich rostete. Der Schnee reichte an meine Knöchel. Drang langsam in meine Schuhe ein und durchweichte meine Socken.
Ich würde erfrieren, wenn ich mich nicht bald bewegte, aber ich musste warten. Auf den Zug. Auf sie.
Ich sagte ihr, es wäre zu gefährlich. Das Land war unpassierbar geworden. Zu hoch waren die Schneemassen. Aber sie hörte nicht. Sie wollte kommen. Mich sehen. Mich halten. Mich bei sich haben. Ich gab nach und wollte sie abholen. Am Gleis. Vom Zug, der seit drei Stunden nicht kam. Es durfte nicht sein. Er musste kommen. Irgendwann. Mit leeren glasigen Augen blickte ich die Gleise entlang, bis sie sich im Nebel verloren.
Ich sah nichts. Nur weiß und grau. So sah es wohl auch in mir aus. Weiß und grau. Kein Sinn. Kein Leben. Ich war nur eine Maschine. Aber ich fühlte noch. Ich fühlte Verzweiflung. Trauer. Verständnislosigkeit. Verwirrung. Ich fühlte den Schmerz der Kälte. Den Schmerz in meiner kleinen Seele. Und den Schmerz des Todes. Er war grauenhaft. Der schlimmste Schmerz von allen.
Sie lag da. Sie lag da draußen im Schnee. Ebenfalls allein. Ohne jemanden, der sich um sie kümmerte. Ihre Augen geschlossen, ihr Körper erschlafft, ihr Herz fast still.
Der Zug. Er existierte. Doch er würde nicht ankommen. Er wollte es so wie ich. Vor drei Stunden. Tränen. Sie liefen über meine kalten Wangen. Es brannte. Es tat weh. Aber ich konnte nicht anders. Es wurden mehr davon. Nass und brennend. Sie würde kommen. Sie musste einfach! Sie würde aussteigen und zu mir kommen. Mich umarmen. Ich würde sie spüren. Ihre Wärme, ihre Haut. Ich würde sie riechen. Ihren lieblichen Duft, der schöner war als der Duft der schönsten Blume. Wir würden nach Hause gehen. Zusammen. Doch es war nicht real. Sie würde nicht kommen. Mich nicht umarmen. Ich würde sie weder spüren noch riechen. Sie lag dort alleine im Schnee. Verlassen. Und konnte nichts dagegen tun. Wir beide waren nur rostende Maschinen. Wir würden niemals zusammen nach Hause gehen. Ich würde niemals nach Hause gehen!
Es war unmöglich.
Die Welt war grausam. Die Menschen waren grausam. Ich merkte dies alles innerhalb drei Stunden. Drei Stunden des endlosen Wartens. Der Kälte und des Schmerzes.
Alles was ich wollte war sie. Alles was ich brauchte war sie. Alles was ich war war sie. Ich war sie und sie war ich. Alleine waren wir leere Körperhüllen. Leblos. Zusammen waren wir etwas. Nicht nichts. Würde der Zug erscheinen, so wären wir etwas. Doch er kam nicht. Das war die Realität. Ich war also Nichts. Ein frierendes verschneites Nichts.
Das Warten musste enden. Ich hatte es drei Stunden ertragen. Drei Stunden hatte ich gewartet ohne mich zu bewegen. Nun war es Zeit zu ihr zu gehen. Sie kam nicht zu mir, also musste ich zu ihr kommen.
Ein kurzes Schnappen. Leise im Lärm des Windes. Laut in meiner Seele. Es berührte meine Haut. Kälter als das Eis. Sie war nun näher, die Kälte des Todes. Sie war bei mir. Stand neben mir.
Ich wollte mich umsehen, doch ich konnte nicht. Ich musste zu ihr. Ich konnte keinen Rückzieher mehr machen.
Die Kälte drückte in meine Haut. Das Weiß wurde dunkler. Ich drückte stärker zu. Schloss die Augen. Wieder Tränen. Schmerzender als zuvor.
Ich musste zu ihr.
Jetzt.
Sofort.
Das dunkle Weiß wurde noch dunkler. Dann Rot. Weiter. Ich drückte tiefer. Stärker. Musste zu ihr. Jetzt!
Mehr Rot.
Das Graue und Weiße um mich und in mir verschwand. Wandelte sich in Rot. Blutrot. Mehr. Mehr! Es war süß. Süßes Rot. Tränen. Rot.
Sie.
Ich musste zu ihr.
Es gab keinen Weg zurück. Ich drückte so tief ich konnte. Stechende Schmerzen. Viel Rot. Zu viel Rot. Alles war rot.
Heiß.
Kalt.
Überall.
Ich sank auf die Knie. Ich war fast bei ihr. Ich spürte es. Ich spürte sie! Ein weiteres, letztes Mal. Drücken. Schneiden. Tränen. Brennen. Rot.
Die Kälte des Todes war rot. Sie war nicht weiß wie ich dachte. Nicht farblos.
Da war doch niemand, der diese Kälte hätte auslösen konnte. Drei Stunden war da niemand. Rot. Ich hatte sie fast erreicht.
Rot.
Warum kam der Zug nicht?
Rot. Süß.
Warum kam sie nicht?
Rot!
Ich sah sie. Sie sah mich.
Viel zu viel rot.
Die Kälte. Der Tod. Mehr Rot.
Ich wusste es jetzt.
Mehr süßes Rot.
Ich wusste wer das Gefühl ausgelöst hatte, warum ich es wusste.
Süßes Rot!
Die ganze Zeit über. Die ganzen drei Stunden.
Schönes süßes Rot!
Die Kälte des Todes.
Mehr! Mehr Rot! Schön! Süß!
Die Kälte des Todes war ich selbst.
ROT!
Ich war bei ihr.
In dem Moment wurde aus dem Rot Schwarz. Die Maschine hörte auf zu funktionieren. Aber ich war bei ihr. Wir waren zusammen. Mein Körper war aufgebraucht. Eine letzte Träne floss hinunter. Dann war ich eins mit ihr.
Es hatte drei Stunden gedauert.
Grau.
Weiß.
Rot.
Schwarz.
Tod.
 
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