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|Mandolei System - freier Raum|
"Du kannst den Alarm nun abstellen Baharras."
"Verstanden Doktor. Soll ich stattdessen Musik abspielen? Wie wäre es mit dem Phantom der Oper?"
Doktor Larissa Kirchhofs Lippen verzogen sich bei diesem Vorschlag zu einem warmen Lächeln und sie nickte. Die letzten zwei Wochen waren nicht gerade erfreulich für sie gewesen, doch Baharras, die künstliche Intelligenz ihres Schiffes - dem leichten Forschungskreuzer Lady of the Lake - wusste stets sie aufzuheitern. Nun stand Larissa Kirchhof mutterseelenallein im Hauptlabor ihres Schiffes und genoss den Klang des Musicals, den die fürsorgliche KI für sie abspielte. Natürlich war Baharras nur eine künstliche Intelligenz der vierten Stufe, was bedeutete, dass er nicht zum Empfinden von Emotionen fähig war, wenngleich er sie simulieren konnte. Doch nicht erst einmal hatte Doktor Kirchhof sich insgeheim gefragt, ob Baharras zu den wenigen KIs gehören könnte, die es geschafft hatten sich selbstständig über ihre Stufe hinaus zu entwickeln. Sie hatte diesen Gedanken stets verdrängt, denn wäre Baharras tatsächlich fähig, sich in die oberen Stufen der künstlichen Intelligenz zu bewegen, müsste man ihn abschalten. Die Menschheit hatte einmal den Fehler gemacht empfindungsfähige KI zu entwickeln und hatte dafür aufs bitterste bezahlen müssen.
Larissas Lächeln verwandelte sich in ein schiefes Grinsen, als ihr aufging, wie irrelevant diese Dinge geworden waren, nun, wo die Lady of the Lake zusammengeschossen, einen Schweif aus Atemluft und Trümmern hinter sich herziehend durchs All trieb und eine nefalanische Entermannschaft, angeführt von General Marakas persönlich, sich Schott für Schott durch den Schiffsrumpf zu ihr vor arbeitete. Immerhin würden sie unterwegs keine Crewmitglieder ermorden können, denn diese hatten das Schiff längst verlassen.
"Na wartet nur", murmelte Larissa, "Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt."
"Verzeihung Doktor, hatten sie etwas gesagt?", meldete Baharras sich umgehend.
"Schon gut mein Freund. Ich habe nur daran gedacht, wie das hier ausgehen wird."
Entspannt lies sie sich in den bequemen Sessel hinter ihrem persönlichen Schreibtisch sinken. Dabei beugte sie sich etwas vor, stützte den Ellenbogen auf dem Tisch und ihr Kinn auf der dazugehörigen Hand ab. So konnte sie in den Spiegel blinken, der auf dem Schreibtisch stand und mit seinem goldverzierten Rahmen so gar nicht zu der steril weißen Umgebung des Labors passen wollte. Aus dem polierten Spiegel blickte ihr aus tiefgrünen Augen eine junge Frau in den mittleren Zwanzigern entgegen, der Strähnen ihres schulterlangen, blauen Haars ins Gesicht fielen. Erneut musste Larissa lächeln, denn wenn sie auch wie eine junge Frau aussah, war sie doch in Wahrheit über ihren neunzigsten Geburtstag hinaus. Sie war eine der ersten Personen, die mit der neusten Generation des lebensverlängernden Kirchhof-Verfahrens, das ihr berühmter Vorfahr Professor Ladinas von Kirchhof entwickelt hatte, behandelt worden war. Sie hatte also, an ihrem zu erwartenden Alter gemessen, gerade einmal die Jugend hinter sich gelassen. Ein beängstigender Gedanke, wie sie fand, wenn man bedachte, dass es Planeten gab, bei deren Bevölkerung die durchschnittliche Lebenserwartung bei 23 T-Jahren lag.
Doch all diese Überlegungen wurden nun akademisch. Orange Funken sprühend begann sich die Sauerstofflanze der nefalanischen Entermannschaft durch das Schott des Labors zu schneiden. Man sparte sich den Aufwand, das komplette Schott zu zerschneiden und zerstörte einfach nur mit vier kurzen Schnitten die massiven Verschlussbolzen, die das Schott fest verankerten.
"Ich wünschte, sie hätten das Schiff ebenfalls verlassen, Doktor." Merkte Baharras an, was Larissa dazu wehleidig aufzuschauen.
"Bitte Baharras, fang damit jetzt nicht wieder an. Wir haben das nun lang und breit ausdiskutiert und ich habe meine Entscheidung getroffen. Zumal es nun wohl eh zu spät wäre für eine Planänderung."
"Ja, Doktor", erwiderte Baharras, "Das ist es vermutlich..."
Der Funkenregen der nefalanischen Sauerstofflanze erstarb, nachdem der vierte Schnitt vollendet war. Irgendwie schaffte Larissa es, nach Außen hin den Ausdruck völliger Gelassenheit zu wahren, als sie sich von ihrem Sessel erhob und um den Schreibtisch herum in die Mitte des Labors wanderte, wobei sie ihren weißen Laborkittel zurecht zupfte, unter dem sie nahezu leger eine schwarze Bluse trug. Dann schwang das Schott zum Labor mit einem heftigen Stoß auf. In der Öffnung des Schotts zeichneten sich die Gestalten von sechs Soldaten ab, die eilig ins Labor hinein drängten. In ihren schwer gepanzerten Raumkampfanzügen waren sie gut über zwei Meter groß, ihre Gesichter hinter einem massiven Visier verborgen. Zwei orange leuchtende Kameras saßen dort in dem Visier, wo sich ihre Augen befinden müssten und darunter saß eine Atemmaske mit integriertem Lautsprecher. Ihre gepanzerten Stiefel stampften schwer auf dem Kunststoffdeck des Hauptlabors, als sie hinein stürmten, Laborutensilien, Tische und Stühle umwarfen und in einem Halbkreis um Doktor Kirchhof stehen blieben, die schweren Sturmgewehre fest auf die unbewaffnete Frau gerichtet.
Aus dem Korridor vor dem Labor wehte dabei der beißende Qualm von verbranntem Metall und Kunststoff herein, den die Arbeiten mit der Sauerstofflanze verursacht hatten und hüllte alle Anwesenden in einen qualmigen Schleier, durch den der orange Schein aus den nefalanischen Helmkameras noch versteckt wurde. Die Mündungen aller sechs Waffen waren zielsicher auf den Kopf des Doktors gerichtet, doch keiner der Soldaten machte Anstalten abzudrücken. Stattdessen warteten sie ab, ebenso wie Doktor Kirchhof selbst.
Für die Wissenschaftlerin war es klar, dass diese Männer ihr nichts antun würden, solange sie blieb, wo sie war. Zu lange war sie gejagt worden, um nun von ein paar unbedeutenden Sturmsoldaten gefangen genommen zu werden. Der Mann, der hinter der zwölfjährigen Hetzjagd auf Doktor Kirchhof steckte, würde es sich nicht nehmen lassen, sie persönlich darüber zu informieren, dass sie nun seine Gefangene war.
General Harmond Marakas trat durch das Schott, wie ein wahrer Befehlshaber. Seine Panzerstiefel knirschten, als er über die von seinen Soldaten zu Boden geworfenen Laborutensilien schritt, wobei er seinen Blick nicht einmal senkte, um zu schauen, worauf er dort trat. Anders als seine Soldaten trug er keinen Helm, denn er wollte, dass Doktor Kirchhof sein Gesicht sah, sehen konnte, was ihr verdammter Leibwächter -möge seine verdammte Leiche auf ewig durch die Kälte des Alls treiben - aus seiner rechten Gesichtshälfte gemacht hatte. Wie zu heiß gewordenes und dann wieder erstarrtes Plastik war die ganze Gesichtshälfte verformt. Haare, Ohr und sogar die Lippen waren zu einer grässlichen Maske verschmolzen, die das Gesicht des Generals entstellte. Auf seinem rundlichen Kopf mit dem kantigen Kiefer wuchsen nur noch wenige graue Haare und sein rechtes Auge war durch ein grobes Implantat ersetzt worden. Dieses Implantat war das einzige Zugeständnis, welches der Mann sich machte. Jeder wusste, dass jemand von seinem Stand sich ohne weiteres einer chirurgischen Restauration unterziehen konnte und noch andere Mittel besaß, um jedweden Schaden an seinem Körper zu beheben, doch Marakas verzichtete auf diese Möglichkeit und trug seine schaurige Verstümmelung wie einen Orden.
Unwillkürlich musste Larissa Kirchhof an das Phantom der Oper denken, deren Klänge noch immer durch das Labor hallten. Auch in dieser uralten Geschichte ging es um einen entstellten Mann, doch war dieser von Liebe getrieben worden und nicht von dem Egoismus, der Männern wie General Marakas innewohnte.
Die Arme auf dem Rücken verschränkend blieb der General mittig von seinen Soldaten vor Doktor Kirchhof stehen. Fast eine halbe Minute betrachtete er die Frau schweigend und sie erwiderte seinen Blick unbeeindruckt. Im Gegensatz zu ihr wirkte er wie ein Mann im Alter zwischen 50 und 60 Jahren, war jedoch auch bereits über 150 Jahre alt und lediglich mit dem Kirchhof-Verfahren vierter oder fünfter Generation behandelt worden. Mit einer der Gründe, aus denen General Marakas Larissa Kirchhof hasste. Nicht, dass es dem Nefalaner um Schönheit ging, doch wie die meisten hochrangigen Militärs seiner Nation sah er auf alles 'hinab', das sich ihm in irgendeiner weise überlegen zeigte.
"Nun, Doktor", begann der General endlich zu sprechen, "Wie es aussieht, haben sie ihre Fähigkeiten dieses eine mal überschätzt."
Fast schon gleichmütig lächelnd sah Larissa dem General in die Augen - das kybernetische und das natürliche mit der matt grauen Iris - und antwortete, "Oder mein Glück."
"Vielleicht auch das. Doch wie wir es auch nennen, sie stehen mit dem Rücken zur Wand, Doktor. Sie haben sich gut geschlagen. Kaum jemand hat es je geschafft sich unserem Griff derart lange zu entziehen, doch nun ist es vorbei. Ich denke daher, es ist nicht nötig, dass wir das leidige Heldenspiel spielen. Wir beide wissen natürlich, dass sie mir niemals freiwillig die Geheimnisse der Kybernetischen Ferntransition aushändigen werden und ich bin auch nicht so naiv zu glauben, sie hätten den Schlüssel dazu hier irgendwo in ihren Datenbänken abgespeichert. Oh nein, so etwas Bedeutendes werden sie im Kopf behalten und nur in ihrem Kopf. Aber sie wissen auch, dass ihr Willen unter der Zuwendung unserer Interrogatoren irgendwann brechen wird."
Larissa musste schwer schlucken, denn genau so, wie der General es sagte, war es auch. Sie hatte ihren wissenschaftlichen Durchbruch nirgendwo verzeichnet. Zumindest nicht zur Gänze. Natürlich hatte sie die tausende Seiten umfassenden Theorien und Erkenntnisse ihrer Forschung dokumentiert, doch der Schlüssel zum eigentlichen Durchbruch, den bewahrte sie in ihrem Verstand auf.
Mit einem dezenten Nicken antwortete Larissa dem General: "Sie haben recht. Zumindest was den Aufbewahrungsort der Schlüsselsequenz angeht." Noch immer schaffte es Larissa, ihr sanftes Lächeln auf den Lippen zu behalten, obwohl sie sich offensichtlich am Ende ihres Lebens befand. Oder war es gerade deswegen?, fragte sie sich. Die Dinge hatten eine alles überschattende Endlosigkeit erreicht, die ihren Mut zur Unerschütterlichkeit festigte. Als sie sich dessen bewusst wurde, schaffte sie es sogar sich noch sicherer zu geben, als sie weiter sprach. "Allerdings irren sie sich, was ihre Interrogatoren angeht, General. Keiner von ihnen wird auch nur einen Finger an mich legen, denn ich werde nicht mit ihnen nach Nefalan kommen."
"Meine Liebe, ich fürchte, da bleibt ihnen gar keine andere Wahl.", erinnerte sie General Marakas mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht.
"Ich denke doch.", warf ihm Larissa unbeirrt entgegen, "Wie sie bereits so treffend anmerkten, stehe ich mit dem Rücken zur Wand. Das erlaubt einem eine ganz andere Sicht auf die Dinge."
General Marakas schürzte spöttisch die Reste seiner Lippen, als die gut 20 Zentimeter kleiner Frau vor ihm diese Worte aussprach. "Ich würde eher sagen, die Unausweichlichkeit ihrer Lage vernebelt ihnen die Sicht auf die Dinge. Sie werden jetzt mit uns kommen. Wehren sie sich nicht, dann bleiben ihnen Schmerzen erspart." Der General klang kein bisschen, als würde er Doktor Kirchhof irgendetwas ersparen wollen, vor allem nicht Schmerzen.
"Einen Moment noch." Rief Larissa so laut, dass selbst die gedrillten nefalanischen Soldaten, die sich soeben vorgeschoben hatten, um sie zu packen, inne hielten. General Marakas war indes bereits im Gehen begriffen, doch er drehte sich noch einmal halb um und sah die Doktorin an. "Ja?"
Ein letztes mal holte Larissa tief Luft, bevor sie ihren Häschern entgegen warf, "Sie wollen meine Erfindung missbrauchen, um unendliche Macht zu erlangen, doch sie haben dabei noch nicht mal erkannt, dass all dies einmal zu etwas größerem gehören sollte, das nun dank ihnen auf immer der Traum einiger Visionäre bleiben wird. Ihr Nefalan seid so von eurem Egoismus, Machthunger und Selbsterhaltungswillen eingenommen, dass euch gar nicht in den Sinn kommt, was manche Menschen zu tun bereit sind, einfach nur um das Richtige zu tun. Es gibt nur eine Möglichkeit zu verhindern, dass Menschen wie ihnen jemals meine Errungenschaft in die Hände fällt: Indem ich die Schlüsselinformation vernichte. Darum werde ich nicht mit ihnen kommen General und auch sie werden dieses Schiff nicht verlassen!"
General Marakas riss sein verbliebenes Auge weit auf, als ihm klar wurde, wie sehr er sich in seinem Gegenüber getäuscht hatte. Ihm blieb keine Zeit mehr darauf einzugehen oder nach einem Ausweg zu suchen. Mit einem gleißenden Blitz detonierte die Fusionsflasche des Hauptkraftwerks der Lady of the Lake.
Das Heck des 340 Meter langen Forschungskreuzers hörte augenblicklich auf zu existieren. Eine Reihe von Explosionen setzte sich über den filigranen Rumpf des Kreuzers bis zu seinem schnittigen Bug fort, schleuderte dabei Rumpfplatten hinaus und verteilte die Trümmer des Kreuzers im All, bis nur noch das geschmolzene Wrack des Schiffes wie das Skelett eines gewaltigen Tieres im Weltraum trieb. Doktor Larissa Kirchhof wurde ebenso ins Vakuum hinaus geschleudert, wie General Harmond Marakas und seine Männer, wo die Kälte des Alls ihre Körper zu Eisstaturen gefrieren lies.
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Kapitän Hisman starrte bestürzt auf den Plot - die holografische Vorrichtung zur Darstellung der Umgebung im Weltraum auf Schiffsbrücken. Sie benötigte eine gefühlte Ewigkeit, um ihre Fassung vollends wieder zu erlangen. Zum Glück waren alle anderen auf der Brücke ebenso von der Explosion der Lady of the Lake überrumpelt, wie sie.
Mit trockener Kehle fragte sie ihren Taktischen Offizier, "Irgendwelche Spuren von Rettungskapseln oder dem Sturmshuttle von General Marakas?"
Im Grunde wusste Kapitän Hisman, dass die Chancen dafür gegen Null gingen, doch sie musste fragen. Alleine schon fürs Protokoll.
"Nein Ma'am. Keine Überlebenden.", antwortete ihr Taktischer Offizier nach kurzem Schweigen. Weder ihm, noch irgendjemand anderem auf dem Schiff fiel das Signal auf, das exakt 3,57 Sekunden von einem kleinen Überlichtsender zwischen den Trümmern der Lady of the Lake ausging, bevor der Sender sich selbst zerstörte.