Heute in meiner Vorlesung zur Literatur des 20. Jahrhunderts kam ein herrlicher Begriff auf.
MAINSTREAM
Jeder "gebildete" Leser würde sagen, dass alles davon NICHT hochwertig sein kann, denn es wurde zum Verkaufen für die breite Masse gemacht.
Ironie will es aber, das BRECHT und SCHILLER beide vor und im 20. Jahrhundert in diesem Bereich tätig waren. Wieso?
Simpel:
Wenn ich Künstler bin, will ich etwas ausdrücken. Ich will meine Werke der Welt geben, damit diese meine Botschaft erfahren können (ausser, ich mache es wie Friedrich und sammel meine Bildchen bei mir zuhause, bis mein Sohn sie nach meinem Tod ausstellt). Wenn ich jetzt aber in einer kleinen, abstrakten Gruppierung eigenbrödlerisch meine Sachen produziere, wird es schlicht keiner erfahren (ausser, es wird zufällig DAS Werk, das man zig Jahrzehnte später als beliebtes Beispiel für Epoche XY nimmt)
Was also tun?
Sich ein wenig den Verlagen unterwerfen und damit die Massen erreichen.
Brecht schrieb z.B. das Drehbuch des Films Kuhle Wampe und ließ ihn auch verfilmen. Er erreichte ein gewaltiges Publikum und sein Werk löste Reaktionen aus, wie es Künstler gern haben.
In diesem Fall war es Entsetzen, scheinbar wurde Kommunismus vereehrt und der Film wurde seit seiner Entstehung zweimal verboten. Aber er hat die Menschen erreicht, Emotionen ausgelöst, Brecht war zufrieden.
Wie viele Leute kennen im Verhältnis dazu den Roman vom Schloss, das Kafka geschrieben hatte?
Viele, aber auch erst fünzig Jahre nach der Veröffentlichung. Weil er damals nicht Mainstream war.
Nicht Mainstream = Hochwertig.
ABER Brecht gilt als DER Schreiber von hochwertigen Dramen schlechthin in unserer modernen Zeit. Aber er hatte von 1913 bis 1933 fast ausschließlich Mainstream-Kram produziert, nur selten war er in der politischen Avantagarde.
Deshalb, sowas auseinanderzuhalten, ist schier unmöglich.
Eine Frau (ich hab ihren Namen jetzt nicht im Kopf) hatte einen Roman rausgebracht, der die Liebe zwischen einem Pfarrer und einem Chorknaben behandelte. Der Roman löste entsetzen aus - und verkaufte sich so oft wie kein anderes Buch jemals zuvor. Obwohl jener Roman verboten wurde, wurde sie die Autorin schlechthin, steinreich. Sie schrieb weiter, mit weniger so derart pikanten Themen und begründete das Genre, das wir heute Groschenromane nennen, wo Doktor X oder Geisterjäger Y der Liebe nachjagt. Sie hat Kunst geschaffen, sie löste Emotionen aus, sie bekam Unmengen Aufmerksamkeit, es wurde im Nachhinein als erstes Aufblitzen von der Akzeptanz der Homosexualität in jener Zeit interpretiert, etc.
ABER es war letztlich ein hochverkaufter Roman, den man für ein paar Mark an der Ecke kaufen konnte.
Hochwertig kann alles sein.
Wenn ich später Dekan an der Germanistikfakultät meiner Uni sein sollte, ich könnte theoretisch dafür sorgen, dass Twillight hochwertig wird, indem ich es in den Lehrplan aufnehme.
Harry Potter ist z.B. theoretisch schon so weit, es wird in drei Unis in Literatur wie auch Medienwissenschaften bearbeitet, neben Werken wie dem Leben des Werther von Goethe, neben Dante und seinem Eindruck von Himmel und Hölle und neben Nazigedichten über die Herrlichkeit des deutschen Reiches.
So gesehen ist Harry Potter hochwertig.
Studenten, Lehrende, Universitäten und Wissenschaftler setzen sich damit auseinander, analysieren es, bewerten, kritisieren es und wenden es auf die Epoche, das Jahr und die "damaligen" sozialen Verhältnisse an.
Aber mal ehrlich, würdet ihr spontan Harry Potter als hochwertig ansehen? Rowling mit Kafka, Platon und Döblin gleichstellen? Eher nicht, richtig?