„Zwei Uhr und Dreiunddreißig Minuten.“
Tanja seufzte unzufrieden auf. Sie wollte endlich nach Hause. Es kam ihr vor, dass die Zeit noch langsamer an diesem Tag verging als sonst. Begleitet mit einem weiteren Seufzer, fuhr sie sich mit der rechten Hand durch ihr schwarzes, schulterlanges Haar. Ihre Schicht ging bis 5 Uhr, aber es hatte sich immer noch kein Freier sehen lassen. Außer den anderen Mädels, die den Strich entlang gingen oder an eine Laterne angelehnt eine Zigarette rauchten, sowie ein paar verlorene Seelen war kaum was los. Tanja spielte mit ihrem Zungenpiercing, während sie nachdachte.
„Andrej wird stinksauer, wenn ich wieder mit so wenig Geld ankomme. Was ist denn heut los?“
Sie schritt die Straße mit ihren hochhackigen Stiefeln entlang und das regelmäßige Klacken, was durch das Aufschlagen der Sohlen auf dem Asphalt ausgelöst wurde, vermischte sich mit den vielen anderen Geräuschen des 11. Bezirkes. Tanja zog sich die kurze Lederjacke enger, da sie es ein wenig fröstelte. Außer dieser Jacke hatte sie nicht mehr viel an: Einen kurzen, ledernen Rock, ihre Stiefel, ein bauchfreies Top und Unterwäsche. Hinter ihr zwischen den grauen Häusern, die mit Leuchtreklamen oder Monitore bespickt waren, schoss eine Magnetschwebebahn vorbei. So schnell wie sie angerauscht kam, so schnell war sie auch wieder verschwunden. Die Straße lag in einem schmutzig, gelblichen Licht und es lag der typische Geruch von einem nächtlichen Moskau in der Luft: Eine schwere Mischung aus Dreck und Abgasen, doch mit einem Hauch von Sehnsucht. Tanja lächelte belustigt. Sie war schon immer leicht romantisch gewesen.
„Heut ist ja überhaupt nichts los, Tanja. Haben die Engel alle unsere Kunden eingesammelt, oder wie?“
Obwohl die Kameras an den Straßenlaternen bei Hauptstraßen anscheinend nur sehen aber nicht hören konnten, misstraute Tanja diesen Kameras dennoch. Lieber den Mund halten als sich gefährden. Es brachte sowieso rein gar nichts.
„Könntest du vielleicht noch lauter reden, Galina, hm? Ich habe keine Lust heute in einer Schattenbarke zu enden.“
Galina war eine Kollegin von Tanja. Mit ihren blonden Haaren, die sie zu zwei Zöpfen gebunden hatte, den kleinen Brüsten und ihrem kindlichen Aussehen sowie ihrer Kleidung entsprach sie dem Teenie-Charakter, den manche Männer begehrten. Kaugummikauend stand sie nun vor Tanja und schaute sie mit ihren großen blauen Augen an.
„Ich habe nichts Unrechtes getan, also werden mich die Engel nicht abholen. Gehst du noch mit mir ins Jenny’s oder haust du dich gleich ins Bett?“
Jenny’s war ein Café in der Nähe ihres Striches zu dem Galina und Tanja oft nach Dienstschluss gingen. Der Laden sah zwar schäbig aus, die Sitze waren fettig und zerschlissen, aber das Essen war billig und gut. Sie waren nicht die einzigen Prostituierten, die dort essen gingen und man wurde dort nicht blöd angestarrt oder angemacht.
„Sorry, aber ich bin fix und fertig. Außerdem wartet mein Sascha zuhause auf mich. Lara kann ihn heut nicht lang bei sich behalten.“
Galina zuckte mit den Schultern und schaute in den bewölkten Himmel. Als sich Galina dann den karierten Rock glatt strich, wusste Tanja, was Galina sie nun fragen würde. Immer wenn Galina sich auf diese eine Art den Rock glatt strich, musste sie pinkeln. Sie musste viel Wasser in der Nacht trinken, denn es gab ab und zu einige Kunden, die spezielle Wünsche hatten. Und dieser eine Wunsch war für Galina nicht zu „speziell“. Was Tanja anging, so blieb sie lieber bei den einigermaßen normalen Sachen.
„Tanja, ich muss mal pinkeln. Passt du auf, dass mich keiner dabei stört? Das letzte Mal schaute mir ein Hund zu!“
Tanja nickte und folgte Galina in eine kleine Gasse. Kaum ein Zuhälter erlaubte seinen Prostituierten alleine durch die Stadt zu laufen. Es kam manchmal vor, dass man ein Mädel mit durchgeschnittener Kehle und leerer Tasche in einer Gasse gefunden hatte. Das war nicht gut für das Geschäft. Als Galina hinter einen Container gehen wollte, schreite sie auf. Sofort zog Tanja das schmale Messer, welches fast jede Prostituierte aus eigenem Schutz sich zugelegte, aus ihrem Stiefel und rannte zu ihrer Freundin. Doch es gab keinen Grund das Messer zu ziehen. Auf dem Boden lag ein bleicher, abgemagerter Mann und stöhnte leise vor sich hin.
„Diese gottverdammten Junkies! Wieso gehen die nicht woanders sterben?“
Joy. So wie dieser Kerl aussah, konnte es nichts anderes sein. Und wenn er nicht körperlich danach aussah, so zeigten die Augen, ob ein Mensch dieser Droge verfallen war. Tanja hatte schon so viele Menschen gesehen, die an Joy gestorben waren, so dass sie nicht die geringste Lust hat es zu versuchen. Der Mann bemerkte die beiden Frauen, die ihn ansahen. Er streckte eine Hand aus, schluckte und sprach mit schwacher Stimme.
„Habt ihr ein paar Asse? Einen Denar… Joy?“
Anhand seines Aussehens war dieser Mann schon im Endstadium. Er würde nicht mehr lange leben. Noch mehr bekümmerte Tanja, dass dieser Mann um die 20 Jahre alt war. Eine Verschwendung.
„Erst erschreckst du mich fast zu Tode und jetzt willst du noch was? Für dich lohnt sich das eh nicht mehr, Junge.“
Galina redete wie immer ohne nachzudenken und schimpfte ohne aufzuhören weiter auf den jungen Mann ein. Er tat Tanja Leid. Ihrer Meinung nach, sollte Galina lieber die Dealer beschimpfen als diesen Junkie. Wer weiß, was oder wer ihn dazu brachte Joy zu nehmen. Was Tanja aber noch mehr interessierte, wo überhaupt Joy herkam. Während sie gerade in ihre Tasche greifen wollte, um dem Jungen einen Denar zu geben, krachte es etwas weiter in der Gasse. Galina unterbrach ihre Vorwürfe und blickte mit Tanja in Richtung des Geräusches. Aus dem Dunkeln der Gasse lief ein Mann auf die beiden überraschten Frauen zu. Kurz vor Tanja stolperte der Mann und sie konnte gerade noch ausweichen, als dieser neben ihr hart auf den Boden fiel. Er erhob sich keuchend und packte Tanja am Arm.
„Bitte… versteckt mich! Egal wo! Bitte! Ich… ich…“
Der Mann verstummte und sah sie erwartungsvoll an. Die Blicke der beiden Frauen trafen sich. Beide sagten dasselbe aus: Angst. Wenn dieser Mann von der GOS verfolgt würde, dann mussten sie ihn so schnell wie möglich los werden. Ansonsten könnten sie verdächtig werden, dass sie mit diesem Mann kooperieren und sie würden genauso verfolgt werden wie er.
„Verschwinde! Los! Wir können dir nicht helfen! Hau ab!“, schrie Galina panisch den Mann an.
Der Mann verstärkte seinen Griff um Tanjas Arm. Sein Gesicht war angstverzerrt und schweißüberströmt. Von seiner Stirn rann Blut seine vernarbte Wange herab.
„So helft mir doch! Ich habe sie abgehängt… Wirklich! Ich weiß nicht wohin! Meine Freunde sind verschwunden! Ich habe sogar Denare!“
Mit seiner freien Hand griff der Mann in seine Hose und stopfte Tanja ein Bündel Denare in die Jacke, dabei fielen ein paar Asse auf den Boden, die die Aufmerksamkeit des jungen Junkies erregten. Dieser sammelte ein paar Asse ein, bevor Galina ihn wegtrat und den Mann der Tanja festhielt einen kleinen Revolver an den Kopf setzte. Sie zischte mit zorniger, doch hörbar panischer Stimme den Mann an.
„Lass sofort Tanja los oder ich schieß dir dein Hirn heraus!“
„Ich werde sowieso sterben, wenn ihr mir nicht helft!“, sagte der Mann verzweifelt. Tanja bemerkte, dass er den Tränen nahe war.
„Aber wir wollen nicht mit dir sterben!“, schrie Galina entschlossen.
Galinas Worte zeigten Wirkung. Der Mann kam offensichtlich zu Sinnen und er ließ von Tanja ab. Er blickte die beiden noch kurz an, dann rannte er die Gasse hinaus auf die offene Straße, wo er sich wild umschaute und in einer Seitenstraße verschwand. Ohne etwas zu sagen, gingen Tanja und Galina ruhig auf einem anderen Weg zurück zu ihrem Strich. Nur zu gut waren sich beide der Kameras bewusst und wollten so unauffällig wie möglich erscheinen. Angekommen starrte Galina in Gedanken versunken die Straße entlang, während sich Tanja eine Zigarette anzündete. Eigentlich wollte sie aufhören.
Tanja zog ein Taschentuch hervor und reichte es Galina, die es dankend annahm. Sie wischte sich die Tränen weg und beruhigte sich wieder.
Sie standen noch einige Zeit stumm nebeneinander und dachten nach ohne ein Wort zu sagen. Als ein Freier erschien und nach Galina verlangte, war Tanja allein. Sie holte ihr Handy hervor und schrieb eine Nachricht an Lara, dass sie bald kommen werde. Nachdem sie die Nachricht getippt hatte, betrachtete sie das Bild ihres Sohnes, was sie als Hintergrundbild auf ihrem Handy eingestellt hatte, dann steckte sie das Handy wieder ein.
Doch das Lächeln, welches durch das Bild ausgelöst wurde, verschwand mit dem Auftauchen von drei schwarzen, gepanzerten Fahrzeugen. Die Lichter der Straße spiegelten sich im tiefschwarzen Lack der Schattenbarken, die langsam an Tanja vorbeifuhren. Obwohl sie schon mehrere Male eine Schattenbarke gesehen hatte, so hielt sie trotzdem immer angespannt den Atem an. Sie erinnerte sich an Natascha, die mit einem reichen Disco-Besitzer aus dem Inneren Bezirk eine Beziehung hatte, wie sie mitten auf der Straße in eine Schattenbarke geschleppt wurde. Natascha war auf die offene Straße gelaufen, da GOS-Soldaten sie unbemerkt abführen wollten, doch sie entkam ihnen und lief nach Hilfe schreiend davon. Ein Schockstab in den Rücken stellte sie ruhig und sie wurde in die Schattenbarke getragen. Mit der Zeit verstummten die Gerüchte, was aus ihr geworden ist. Aber Tanja hat sie nie mehr am Strich gesehen.
Tanjas Schicht war nun zu Ende. Galina war wieder zurückgekommen und gemeinsam verabschiedeten sie sich von den anderen Prostituierten. Galina begleitete Tanja nach Hause. An der Tür angekommen, umarmte Galina Tanja überraschend.
„Pass auf dich auf, Kleine."
Bevor Tanja etwas erwidern konnte, ging Galina schon wieder weg. Tanja schloss die Tür auf und trat in das kleine Zimmer ein. Ihr Sohn schlief ruhig, als sie zu seinem Bett ging. Sie fuhr sanft mit ihrer Hand über den kleinen blonden Kopf. Dann wischte sie sich die wenigen Tränen weg, die ihr über die Wange gelaufen waren und zog sich still um.