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Prophet
Das Überleben der Menschlichkeit
Aus der Ferne war eine dünne Rauchsäule zu sehen, die über New Gallow stand und bedrohlich von zwei großen, dunklen Vögeln umkreist wurde. Mit einem unguten Gefühl ließ John seine rotbraune Stute in einen schnelleren Trab verfallen.
Am Rand der ersten umzäunten Felder stieg er ab und setzte die Vollschutzmaske auf. Sein Gewehr schussbereit vor der Brust schritt er langsam die rissige Asphaltspur entlang, die in einer bald schon vergessenen Zeit eine Straße dargestellt hatte. Sowohl die Atemschutzmaske aus Militärbeständen als auch sein Pferd Ellis entsprachen einem kleinen Vermögen und es gab viele, die nicht zögern würden, um in ihren Besitz zu gelangen. Ein Menschenleben spielte dabei keine Rolle.
Johns Blick glitt aufmerksam über die Umgebung, während Ellis hinter ihm hertrottete. Ordentliche, in bunten Farben gestrichene Holzhäuser säumten die einzige Straße. Niedrige Zäune umschlossen kleine, mit Kakteen und anderen dem trockenen Wetter angepassten Pflanzen besetzte Vorgärten und saubere Solarpaneele glänzten auf den Dächern. Im Kontrast dazu standen die frischen Kampfspuren, die sofort ins Auge fielen, die zerbrochenen Fenster und zerschrammten Fassaden, die schiefen, offenen Eingangstüren und niedergetretenen Zaunfelder.
Er erreichte ein Haus mit hellrotem Anstrich und einladend weißen Fensterrahmen. Statt eines Daches ragten jedoch nur noch die verkohlten Reste eines Dachstuhls empor, aus denen die Rauchsäule aufstieg. In den Wänden bemerkte John Einschusslöcher und auf der hölzernen Veranda dunkle Flecken. Mit Sorge wanderte sein Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo sich ein zweistöckiges, gemauertes Gebäude befand. „Walsh’s Shop“ stand in großen Lettern im Schaufenster, dessen Glas entgegen aller Wahrscheinlichkeit bis heute überlebt hatte. Und kleiner darunter: „Kaufe alles, verkaufe, was da ist.“
In der Lücke zwischen dem Laden und einem wellblechgedeckten Schuppen regte sich etwas. Reflexartig hatte John das G36 im Anschlag. Mit eingezogenem Kopf kam ein dürrer Mann aus dem Schatten. Er trug ausgeblichene Jeans, ein Hemd und darüber eine gefütterte Weste, die nur aus Taschen zu bestehen schien. Mehrere Tage alte Bartstoppeln und langes fettiges Haar ließen keinen Zweifel, dass er nicht zur Dorfgemeinschaft gehörte. John senkte den Lauf des Gewehrs etwas, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Zögerlich, die Augen starr auf die Mündung gerichtet, blieb er stehen, die leeren Hände zur Seite gestreckt.
„Ich hab' nix gemacht. Ich bin unschuldig. Bitte tu mir nix. Ich hab nur geschlafen.“ Hektisch und abgehackt brachte er die Sätze hervor. Er vermied es, John anzusehen. „Ich bin schon wieder weg. Ich bin gar nicht da.“ Vorsichtig machte er einen Schritt rückwärts und wollte wieder verschwinden.
„Hey, nicht so schnell. Du sagst mir erst mal deinen Namen und was hier passiert ist.“ Johns befehlender Ton ließ den Mann erstarren.
„Dave. Ich heiße Dave. Also zumindest nennen mich alle so.“ Er grinste nervös und entblößte dabei eine Lücke in der oberen Zahnreihe. Er schien nicht gerade besonders helle zu sein.
„Plünderer waren das. Haben das Dorf überfallen. Ich hab in der Scheune geschlafen.“ Er deutete auf ein Gebäude, das in zweiter Reihe hinter einem der Wohnhäuser an der Straße stand. „Aber nur die Nacht!“, ergänzte Dave sofort und grinste erneut.
„Erzähl weiter“, meinte John. Argwöhnisch sondierte er die Umgebung. Plünderer waren in dieser Gegend selten geworden. Und solche, die ganze Dörfer überfielen erst recht.
„’s wurde grad morgen, als se kamen. Haben laut rumgeballert und die Leute aus den Häusern geholt. Einen haben se sogar angeschossen. Dann haben se alle mitgenommen. Aber mich haben se nicht gefunden.“
Sie hatten die Bewohner entführt und das Dorf unangetastet gelassen? Das war äußerst seltsam. Aber dann Bestand die Möglichkeit, dass sie noch am Leben waren.
„Wo sind sie mit ihnen hin?“, fragte John ungeduldig.
Dave überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Westen. In die Hügel.“ Sein Arm wies die Straße hinab. „Se hatten die Sonne im Rücken. Konnten mich nicht sehen, als ich se beobachtet hab.“ Wieder präsentierte er seine Zahnlücke. „Sind weggeritten und haben alle mitgenommen.“
„Danke, das hilft mir weiter. Am besten, du siehst zu, dass du hier wegkommst, ehe die Kerle es sich anders überlegen.“ John warf ihm zwei Münzen zu, die Dave geschickt auffing und blitzschnell in den Tiefen seiner Weste verschwinden ließ.
„Ich werd' den Kerlen folgen.“ John ergriff Ellis' Zügel und folgte ohne ein weiteres Wort der Hauptstraße zum anderen Ende von New Gallow. Eine staubige Spur von Fußabdrücken, vermischt mit Hufabdrücken setzte am Ende der Häuser ein und führte geradewegs zwischen die spärlichen Felder, die um das Dorf angelegt worden waren. Im Gehen nahm er die Maske ab, gegen Plünderer würde sie ihm nicht helfen.
Ein heißer Schmerz bohrte sich in Johns Brust und ein Schlag ließ ihn vornüber taumeln. Im nächsten Moment versagten ihm seine Beine den Dienst und er sank auf die Knie. Die Zügel entglitten seinen Fingern und ein warmes, klebriges Gefühl breitete sich unter seiner Jacke aus. Schwerfällig drehte er den Kopf und erkannte Dave, der hinter ihm auf der Straße stand und eine Pistole auf ihn gerichtet hatte. Jetzt erst schien der einzelne Knall den Weg von seinen Ohren durch sein Gehirn ins Bewusstsein geschafft zu haben.
Vergeblich wollte er sein Gewehr auf Dave richten, der verächtlich lachte, die Waffe zielte auf Johns Kopf. Überdeutlich nahm er die Zahnlücke wahr, als der Plünderer ein zweites Mal abdrückte. John blinzelte, doch kein Schuss ertönte. Langsam sank sein Oberkörper auf die staubige Straße, sein letzter Gedanke, dass Daves Waffe eine Ladehemmung hatte.
Der Schmerz bohrte sich in seine Brust, doch John warf sich bereits zur Seite, als der Schuss ertönte und ihn knapp verfehlte. Sofort kam er wieder auf die Knie, wirbelte herum und feuerte auf Dave, der ein Stück die Straße hinab stand und im gleichen Moment ein zweites Mal schoss. Sein verächtliches Grinsen wandelte sich in Verblüffung und dann zu Entsetzen, als er bemerkte, dass seine Pistole klemmte. Mehrmals noch klickte seine Waffe vergeblich, erst dann schien er die zwei kleinen Löcher in seiner Brust zu spüren, aus denen das Leben dunkel aus ihm heraus rann. Leblos sackte er zu Boden.
Die Waffe noch immer im Anschlag, prüfte John die Umgebung. Dann stand er auf und ging zu Ellis, die hinter einer Hausecke Schutz gesucht hatte und jetzt seelenruhig auf ihren Besitzer zu warten schien. Seine Hand glitt unter T-Shirt und Jacke und seine Faust schloss sich um den noch warmen Anhänger auf seiner Brust. Das Artefakt war etwa 10 cm groß, hatte die helle Farbe von ausgeblichenen Knochen und die Form einer Sanduhr, weshalb John es auch so nannte: Sanduhr. Es war eines von unzähligen sonderbaren Objekten, die nach dem Exodus auf die Erde geregnet waren. Man sagte, sie hätten besondere Fähigkeiten, aber nur bei manchen hatte man herausfinden können, was sie bewirkten. Es gab Artefakte, die im Umkreis von einigen Metern sattes Grün wuchern ließen, egal auf welchem Untergrund und in welchem Klima. Andere beeinflussten angeblich physikalische Gesetze, wie Gravitation oder Magnetismus. Und wieder andere wirkten auf die Psyche.
John hatte die Sanduhr vor Jahren in einem Trümmerfeld eines Stasisschiffes gefunden, wo sie hell zwischen zur Unkenntlichkeit verbrannten Aliens in ihren Kryokammern und Teilen der Raumschiffhülle geschimmert hatte. Erst später hatte er entdeckt, dass das Artefakt ihm die Fähigkeit verlieh, wenige Sekunden in die Zukunft zu sehen. Leider hatte er noch nicht herausgefunden, wie er den Effekt kontrollieren konnte. Er setzte völlig zufällig ein, hatte ihn aber bisher jedes Mal vor dem Tod bewahrt.
Er schwang sich auf sein Pferd und verließ New Gallow in Richtung Westen. Seine Gedanken drehten sich nur um eins, als er der breiten Spur folgte und dabei die beiden fehlenden Patronen im Magazin ersetzte.
Kristy Walsh stand dicht vor dem hohen, mit Stacheldraht gekrönten Lattenzaun. Sie beobachtete die Entführer und dachte an ihren Vater. Wo er jetzt wohl war? Die Plünderer hatten sie aus New Gallow hierher gebracht, Frauen und Kinder eingesperrt und waren mit den Männern schon vor einigen Stunden weitergezogen.
„Na schon Sehnsucht, Süße?“ Das bärtige Gesicht eines Mannes tauchte zwischen den Brettern auf und sein gieriger Blick strich über Kristys Körper, über das grobe Baumwollhemd und die engen Jeans. Ihr lag eine passende Antwort auf der Zunge, doch sie schluckte sie runter und drehte sich weg. Sie spürte seine Augen auf ihrem Hintern, als sie zu den anderen Frauen und Kindern ging, die eng beieinander in einer Ecke des abgezäunten Areals hockten.
Die Banditen waren am Morgen in New Gallow eingeritten. Ein untersetzter Mexikaner mit vernarbtem Gesicht, begleitet von einem Dutzend Plünderer hatten zuvor zwei der Jungs beim Jagen eingekreist und sie als Geiseln genommen. In der Stadt hatten sie die Bewohner gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und alle Waffen abzugeben. Ken Yuasa, so etwas wie der Sheriff, Richter und Bürgermeister von New Gallow, hatte sich als einziges in seinem Haus verschanzt. Aber als sie ihm das Dach angezündet und gedroht hatten, nach und nach alle Kinder zu erschießen, hatte er aufgeben müssen. Als Strafe hatten sie ihm vor den Augen aller in beide Schultern geschossen. Jetzt lag er bei den anderen und seine Frau kümmerte sich um ihn.
Dann hatten sie sie zu dieser alten, verlassenen Farm gebracht. Dabei schienen sie mehr an den Männern, als an wertvollen Dingen, wie Waffen, Medikamenten oder Geld interessiert. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Häuser zu durchsuchen.
„Sie sind weg. Sie haben alle Männer mitgenommen. Draußen sind nur noch drei oder vier Wachen“, antwortete sie leise auf die fragenden Blicke der Frauen. Tränennasse Wangen und gerötete Augen schauten sie an.
„Was haben die mit uns vor?“, fragte ein Mädchen zitternd. Sie war die älteste Tochter eines der Bauern. Ihr Vater und drei Brüder waren unter den Verschleppten. Die Kinder und Alten werden sie umbringen oder schlimmer noch einfach verdursten lassen und alle anderen verkaufen, dachte Kristy bitter.
Trotzdem sagte sie: „Ich weiß es nicht. Aber wir müssen tapfer sein. Vielleicht werden sie mit der Zeit nachlässig. Sie sind nur zu viert und wir sind über Zwanzig.“ Sie war nicht von dem überzeugt, was sie da sagte. Jedes Stück ihres Gefängnisses war von außen einsehbar und der einzige Zugang besaß eine Art Schleuse. In einer Ecke hing sogar eine funktionierende Kamera, die sich hin und wieder drehte. Keine Chance für irgendwelche Überraschungsangriffe. Außerdem mussten sie an die Kinder denken. „Wir kommen hier raus“, sagte sie. Paradoxerweise hatte sie den Eindruck, die Frauen glaubten ihr.
„He! Können wir etwas zu essen bekommen?“ Der bärtige Typ kam näher an den Zaun. Kristy hatte gehört, wie ihn die anderen Barbosa genannt hatten.
„Bitte?“, fügte Kristy hinzu. Er war jetzt so nah, dass sie seinen Atem im Gesicht spüren konnte. Er roch nach Zwiebeln und Zigarettenqualm.
„Kannst du was anbieten?“, fragte er mit einem anzüglichen Grinsen. „Umsonst gibt’s hier nur den Tod.“
„Für die Kinder, sie haben Hunger. Die haben euch doch nichts getan“, bat sie, ohne auf seinen Einwand einzugehen.
„Die Bälger? Vergiss es. Die machen’s eh nicht lang“, entgegnete Barbosa mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Aber um eine hübsche Blondine wie dich wär’s schon schade.“ Er machte Anstalten, durch die Lücke nach ihrem Haar zu greifen.
„Du widerliches Schwein. Ich mach dich fertig, wenn ich hier rauskomme“, fauchte Kristy ihn an und wich vor seiner Hand zurück.
„Probier’s ruhig, Süße. Ich mag’s, wenn sie sich wehren.“ Lachend drehte er sich um. „Ich kann warten, bis du richtig Hunger hast ...“, rief er im Gehen. Kristy blickte ihm wutentbrannt nach.
Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit, ein Blitzen auf einer baumlosen Anhöhe hinter dem Bauernhaus, in dem sich die Banditen einquartiert hatten. Barbosa hatte bereits die Veranda erreicht, sonst war keine Wache zu sehen. Erneut blitzte es kurz auf. Jemand schien ihr ein Zeichen zu geben. Ein Funken Hoffnung loderte in Kristy auf.
John verstaute den Spiegel. Sie hatte ihn bemerkt. Jetzt konnte er nur hoffen, dass sie sich ruhig verhielt, bis die Nacht einbrach.
Auf eigentümliche Weise fühlte er sich zu Kristy hingezogen. Seit er seine Heimat verlassen hatte, war er allein unterwegs gewesen, nur begleitet von seiner Stute Ellis. Er war vor gut acht Jahren das erste Mal nach New Gallow gekommen. Kristy war damals Anfang Zwanzig gewesen und hatte ihn im Laden ihres Vaters glatt überwältigt. John hatte es davor nicht für möglich gehalten, aber ihr selbstsicheres Auftreten, ihre unerschütterliche Lebensfreude und dieses wunderbare Lächeln ...
John war ein Einzelgänger, aber in Kristys Nähe fühlte er sich geborgen und irgendwie ... zuhause.
Er musste leise Lachen, als er an ihre erste Begegnung zurückdachte: Unter einem lächerlichen Vorwand stand er eine Stunde später wieder im Laden, weil er beim ersten Besuch schlicht die Hälfte vergessen hatte. Sie hatte nur gelacht und ihm die Sachen zusammengesucht. „Ich bin immer hier, falls du noch was vergessen hast“, hatte sie ihn fröhlich verabschiedet.
In den letzten Jahren war er noch mehrmals in New Gallow gewesen und irgendwie hatte er jedes Mal gehofft, dass Kristy verheiratet war. Dann hätte er sich selbst gegenüber rechtfertigen können, warum er sie nie nach einem Date gefragt hatte ...
John hatte Ellis ein Stück hinter der Anhöhe angepflockt. Sein Gewehr lag neben ihm. Er beobachtete das Lager nun schon eine ganze Weile. Die Plünderer waren noch nicht lange in der Gegend und hatten sich den alten Hof als Unterschlupf ausgesucht. Er hatte vier gezählt, ein asiatisch aussehender Typ war meistens draußen, während der Bärtige nur hin und wieder rauskam. Die anderen beiden hatten sich erst zweimal blicken lassen. Sonst saßen sie in der Küche und spielten Karten. Nur noch ein, zwei Stunden bis Sonnenuntergang.
Die fahle Sichel des Mondes strahlte hinter dem rötlichen Trümmerfeld hervor, das die Erde seit dem Exodus umgab. Immer wieder verglühten Fragmente in der Atmosphäre und gelegentlich erhellten Explosionen den Nachthimmel, wenn umhertreibende Raumschiffteile kollidierten oder ein Energiekern sein Lebensende erreichte.
Die Wachen hatten gewechselt: Ein hagerer Typ mit einem Poncho saß jetzt mit dem Rücken gegen einen Pfosten der Veranda gelehnt und schien das Gefängnis im Blick zu behalten. Mit der dürren Gestalt und den fettigen, langen Haaren hätte er gut Daves Zwillingsbruder sein können. Der zweite lümmelte in einem groben Holzstuhl auf der Veranda und drehte regelmäßig eine Runde um das Farmhaus, aber wohl mehr, um wach zu bleiben. Über dem Eingang hing eine Glühbirne, die die Veranda und das Stück bis zum Gefängnis erhellte. Der Bärtige und der Asiat saßen in der Küche.
Lautlos hatte sich John in der letzten Stunde an das Haus herangeschlichen. Jetzt lag er auf der dem improvisierten Gefängnis gegenüberliegenden Seite im hohen Gras und wartete ab.
Endlich hörte er es rascheln. Ein schwarzer Schemen zeichnete sich vor dem über und über mit hellen Pünktchen besprenkelten Himmel ab. Nur wenige Meter vor John schlenderte die Gestalt der zweiten Wache vorbei. Er spannte seine Muskeln an, dann überwand er nahezu geräuschlos die kurze Distanz und riss den überrumpelten Banditen zu Boden, wobei er ihm ein Messer bis zum Heft in den Hals rammte. Ein ersticktes Gurgeln aus der aufgeschlitzten Atemröhre und das leise Rascheln des Grases waren das einzige, was von seinem Todeskampf zu hören war.
John blieb noch einen Moment auf dem Plünderer liegen, bis er sicher sein konnte, dass er tot war. Dann zog er das Messer heraus und schlich weiter zur Ecke des Hauses. In der Küche über ihm brannte eine nackte Glühbirne und zeichnete ein helles Rechteck in das trockene Gras. John achtete darauf, außerhalb des Lichtscheins zu bleiben, als er um die Ecke spähte. Daves Zwilling saß unverändert an den Pfosten gelehnt am anderen Ende der Veranda und wandte ihm den Rücken zu.
John steckte das Messer weg und nahm behutsam das Gewehr vom Rücken. Den linken Zeigefinger am Abzug richtete er den Lauf auf den Plünderer, mit der Rechten angelte er eine Blendgranate aus seinem Gürtel und entsicherte sie. Es war eine heikle Strategie, die er sich zurechtgelegt hatte, aber er sah keine Möglichkeit, unbemerkt nah genug an Dave Nummer Zwei heranzukommen, um ihn mit dem Messer zu erledigen.
Vorsichtig schlich er um die Ecke herum. John kniete für einen Moment offen sichtbar im Licht der Verandalampe. Er konnte nur hoffen, dass die Frauen ruhig blieben und ihn nicht unabsichtlich verrieten. Mit einem Blick versicherte er sich der zerbrochenen Scheibe im Küchenfenster, die er von der Anhöhe aus gesehen hatte. Im nächsten Moment warf er die Granate hindurch. Blechern schlug sie auf dem Küchenboden auf. Im selben Moment peitschten zwei Schüsse aus seinem G36 und ließen Dave Nummer Zwei nach vorn kippen. John hatte keine Zeit, sicherzustellen, dass er auch tot war. Holz schabte auf Holz, ein Stuhl kippte krachend um. John hetzte die Verandastufen hinauf, im Laufen wechselte er das Gewehr in die rechte Hand. Gerade, als er die morsche Eingangstür durchbrach, explodierte die Granate in der Küche und warf ein grellweißes Licht an die Wand gegenüber der offenen Küchentür. Im nächsten Augenblick richtete er das G36 in den Raum und jagte zwei Kugeln in die Brust des Asiaten, der geblendet hinter dem Tisch mit den Spielkarten stand. Als Antwort durchsiebten Kugeln die Vertäfelung hinter John sowie Teile der Kücheneinrichtung. Holzsplitter stoben durch den Flur. Der bärtige Bandit schoss blind durch die Gegend, bis sein Magazin leer war. Wild mit der Waffe um sich schlagend taumelte er danach durch die Küche. John wich ihm geschickt aus und hieb ihm mit dem Kolben des Gewehrs gegen den Solarplexus, woraufhin er röchelnd zusammenklappte. Ein weiterer Schlag gegen den Kopf raubte ihm das Bewusstsein.
Sogleich rannte John wieder nach draußen. Doch seine Sorge war unbegründet: Daves Zwilling lag mit dem Gesicht auf der Erde und atmete nicht mehr. Ein Loch prangte in seinem Rücken, ein zweites in seinem Genick. Auch mit links hatte John getroffen.
Etwas ruhiger eilte er in die Küche zurück. Dort entwaffnete er den einzigen überlebenden Banditen an einen der Küchenstühle, nachdem er ihn entwaffnet hatte. Alles war nach Plan gelaufen. Schnell hatte er die Schlüssel für das Gefängnistor in einer der Taschen gefunden.
Kristy stand bereits wartend hinter dem Zaun, während sich die anderen Frauen und Kinder ängstlich im Hintergrund drängten.
„John?“, flüsterte sie ungläubig, als er die Schlösser öffnete. Dann fiel sie ihm um den Hals. „Danke, danke.“ John war überrascht von der unerwarteten Nähe, mit der Kristy ihren Kopf in seine Schulter presste und die Arme um ihn schlang. Zögerlich legte auch er seine Arme um ihren Körper.
„Es ist John, John Mort“, rief sie den anderen zu, als sie sich nach einer wunderbaren, aber viel zu kurzen Ewigkeit wieder von ihm löste. Langsam kamen die anderen Frauen näher. Als sie ihn nach und nach erkannten, verflog ihr Argwohn und überschwänglich bedankten sie sich bei ihm. Dann drängte sich Kristy dazwischen.
„Sind sie tot? Hast du die Arschlöcher umgelegt?“ In ihren dunklen Augen glomm Hass und der Durst nach Rache.
„Alle bis auf einen, den ich in der Küche gefesselt habe“, antwortete John wahrheitsgemäß, ohne über die Folgen nachzudenken. Als John seinen Fehler erkannte, war Kristy bereits ins Haus gestürmt. Sofort eilte er ihr hinterher.
„Halt, Kristy!“, brüllte er lauter, als beabsichtigt, als er in der Küchentür stand. Kristy hatte sich ein Messer geschnappt und presste es dem gefesselten Barbosa an den Hals. Er war wach und sein panischer Blick glitt zwischen Kristy und dem Messer hin und her.
„Jetzt bleibt dir das Lachen im Hals stecken, mhmm?“, fuhr Kristy ihn an, ohne auf John zu achten. „Ich hab' dir was versprochen und das werde ich halten.“
„Bitte, ich hab’s doch nicht so gemeint.“ Die Klinge drückte deutlich gegen seinen Kehlkopf. Mühsam flehte er: „Nimm das Messer weg. Bitte.“
„Hättest du es lieber so?“ Kristy hatte ihre Hand um seinen Hals geschlossen. Ihr Gesicht knapp vor seinem, funkelte sie ihn entschlossen an, während das Messer zwischen seine Beine glitt.
„Bitte nicht ...“, wimmerte er, als sie langsam mit der Spitze durch seine Hose stach.
Bestimmt legte John seine Hand um ihr Handgelenk und zog ihre Hand mitsamt dem Messer weg. „Das bist nicht du, Kristy“, flüsterte er sanft. „Du bringst keine Leute um. Du hilfst anderen Menschen. So, wie den Frauen und Kindern, die da draußen warten.“ Behutsam zog er sie von dem Banditen fort. Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht und sah ihr in die Augen. „Du willst dir die Last eines Mordes nicht aufladen. Glaub' mir. Ich weiß, was das bedeutet. Es ist wichtig, dass es Menschen wie dich gibt, die die Menschlichkeit in diesen unmenschlichen Zeiten bewahren. Verstehst du?“
Der Ausdruck in ihren Augen wurde langsam weicher, wärmer, bis eine einzelne Träne ihre Wange hinab rollte. Einen Moment überlegte John, ob er sie wegwischen sollte, doch da drehte sich Kristy bereits um und verließ die Küche. Unschlüssig stand er da, dann wandte er sich dem Banditen zu.
„Jetzt reden wir beiden mal, okay?“ Der Bärtige nickte nur erleichtert.
„Also, wie ist dein Name und was wollt ihr von den Leuten, die ihr verschleppt habt?“
„Komm schon. Wir haben den Frauen doch gar nichts getan“, entgegnete der Bandit kumpelhaft. „Ist doch nichts passiert. Mach mich einfach los und wir vergessen das Ganze. Ich bin ruckzuck weg und du siehst mich nie wieder, versprochen. Wir beiden haben doch gar keine Probleme, oder?“
„Für dich noch mal deutlicher.“ In Johns Stimme schwang ein drohender Unterton. Seinen Fuß hatte er zwischen die Beine des Bärtigen gestellt und trat jetzt leicht zu. „Ich frage und du antwortest auf meine Fragen. Sonst bring' ich zu Ende, was ich der jungen Dame nicht zumuten wollte. Klar?“ Wieder nickte der Bärtige, doch sein Gesicht war aschfahl geworden.
„Wie ist dein Name?“
„Tomás Barbosa.“
„Wer ist euer Anführer?“
„Er heißt Ceja Nevarez. Irgendein Typ aus der Grenzregion, New Mexico oder so.“
„Und was will er hier?“
„Keine Ahnung.“ John trat fester zu.
„Ich weiß es nicht, ehrlich“, stöhnte Barbosa. „Er hatte schon ’nen Haufen Typen dabei, als ich mich ihm ein Stück im Süden angeschlossen hab'. Die Kerle hatten Waffen und Ausrüstung, da gehen einem die Augen über.“
„Was er hier will“, fragte John mit Nachdruck.
„Das hat er nicht gesagt. Aber es gingen Gerüchte um, dass er von einer Absturzstelle weiß, ganz frisch. Er soll es schon gewusst haben, bevor das Teil überhaupt runter kam.“
„Und die entführten Dorfbewohner sollen für ihn die Drecksarbeit machen, richtig?“
„Ja, jaaa!“ Der Bandit schrie fast. „Er nimmt sie mit zum Wrack. Vielleicht 60 km entfernt im Nordwesten.“
„Na geht doch.“ Mit diesen Worten schlug John ihm den Gewehrkolben gegen den Kopf. Bewusstlos sackte Barbosa auf dem Stuhl zusammen. Dann verließ er die Küche und trat auf die Veranda hinaus.
Im Licht der Lampe saßen und standen die Frauen und richteten ihre Augen erwartungsvoll auf ihn. Der verletzte Yuasa stand, gestützt durch seine Frau, dazwischen. Jemand hatte die Leiche von Daves Zwilling weggeräumt, um die Kinder nicht zu verängstigen.
„Ich denke, das Beste wird sein, wir brechen sofort auf, zurück nach New Gallow“, sagte John laut. „Das sollte bei Nacht in drei oder vier Stunden zu schaffen sein.“
„Und was ist mit unseren Männern?“
„Ja, wo sind sie?“ Ausrufe wurden laut.
„Wir können sie doch nicht im Stich lassen!“
„Ganz ruhig, bitte.“ Er hob beschwichtigend die Hände.
„Wegen eurer Männer ...“ Es wurde still. „Ich weiß, wo sie sind und ich werde sie retten. Das verspreche ich euch. Aber zuerst solltet ihr hier weg. Ihr müsst zurück nach New Gallow und euch um die Kinder und das Dorf kümmern.“
Gemurmel wurde laut, Diskussionen entbrannten. Vor allem die Frauen ohne kleine Kinder wollten kämpfen. Sie wollten Rache nehmen, so wie Kristy noch vor einigen Minuten. Als hätten sie eine Chance gegen diese Typen, dachte John. Wenn die nur halb so gut ausgerüstet sind, wie es für ein solches Vorhaben notwendig war ...
„John hat recht.“ Kristy übertönte das Stimmengewirr. „Lasst uns aufbrechen. Ich vertraue ihm. Wenn er verspricht unsere Männer zurückzuholen, dann wird er das tun. Und wir sollten uns derweil um die Kinder und das Dorf kümmern. Und um Ken“, setzte sie hinzu, als ihr Blick sein schmerzverzogenes Gesicht streifte.
Unter Kristys Führung marschierte die Gruppe aus Frauen und Kindern wenig später los. John hatte sein Pferd geholt und war allein bei der Farm geblieben. Er meinte, er wolle die Farm durchstöbern, auf der Suche nach möglichen Hinweisen auf Nevarez' Vorhaben.
Ein einzelner Schuss hallte durch die Nacht, als die Frauen die Anhöhe bereits überwunden hatten. Wenig später hatte John die Gruppe eingeholt. Er hatte die Waffen der Plünderer und was sonst noch von Nutzen gewesen war, auf Ellis geladen.
Er war neben Kristy abgestiegen und führte das Pferd am Zügel. Wortlos liefen sie an der Spitze der Gruppe.
„Wo ist mein Vater?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
„Alfred geht es bestimmt gut. Sie werden den Männern nichts tun. Sie brauchen sie“, wich John ihr aus.
„Ich werde dich begleiten“, sagte sie nach einer Weile bestimmt. „Ich werde ihn retten.“
„Das kann ich nicht zulassen“, widersprach John. „Die Typen sind gefährlich. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie es hier draußen zugeht. Hier nimmt sich jeder, was er will.“
„Rede nicht mit mir, wie mit einem Kind“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich weiß, dass hier Anarchie herrscht. Die ganze Welt besteht nur noch aus Chaos. Genau darum muss ich meinem Vater helfen!“
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Johns Gefühle rangen in ihm. Zu gern hätte er sie in seiner Nähe gehabt - am liebsten für immer. Aber konnte er ihr Leben aufs Spiel setzen?
„Ich meinte ernst, was ich vorhin sagte“, sagte er in die Stille zwischen ihnen.
„Ich will nicht, dass du einen anderen Menschen töten musst“, erklärte er, als sie nicht reagierte.
Kristy sah in lange von der Seite an.
„Es ist mein Vater ... Ich hab' doch sonst niemanden“, erwiderte sie leise. Außer dir, dachte sie, aber das sagte sie nicht laut.
Am Rand der ersten umzäunten Felder stieg er ab und setzte die Vollschutzmaske auf. Sein Gewehr schussbereit vor der Brust schritt er langsam die rissige Asphaltspur entlang, die in einer bald schon vergessenen Zeit eine Straße dargestellt hatte. Sowohl die Atemschutzmaske aus Militärbeständen als auch sein Pferd Ellis entsprachen einem kleinen Vermögen und es gab viele, die nicht zögern würden, um in ihren Besitz zu gelangen. Ein Menschenleben spielte dabei keine Rolle.
Johns Blick glitt aufmerksam über die Umgebung, während Ellis hinter ihm hertrottete. Ordentliche, in bunten Farben gestrichene Holzhäuser säumten die einzige Straße. Niedrige Zäune umschlossen kleine, mit Kakteen und anderen dem trockenen Wetter angepassten Pflanzen besetzte Vorgärten und saubere Solarpaneele glänzten auf den Dächern. Im Kontrast dazu standen die frischen Kampfspuren, die sofort ins Auge fielen, die zerbrochenen Fenster und zerschrammten Fassaden, die schiefen, offenen Eingangstüren und niedergetretenen Zaunfelder.
Er erreichte ein Haus mit hellrotem Anstrich und einladend weißen Fensterrahmen. Statt eines Daches ragten jedoch nur noch die verkohlten Reste eines Dachstuhls empor, aus denen die Rauchsäule aufstieg. In den Wänden bemerkte John Einschusslöcher und auf der hölzernen Veranda dunkle Flecken. Mit Sorge wanderte sein Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo sich ein zweistöckiges, gemauertes Gebäude befand. „Walsh’s Shop“ stand in großen Lettern im Schaufenster, dessen Glas entgegen aller Wahrscheinlichkeit bis heute überlebt hatte. Und kleiner darunter: „Kaufe alles, verkaufe, was da ist.“
In der Lücke zwischen dem Laden und einem wellblechgedeckten Schuppen regte sich etwas. Reflexartig hatte John das G36 im Anschlag. Mit eingezogenem Kopf kam ein dürrer Mann aus dem Schatten. Er trug ausgeblichene Jeans, ein Hemd und darüber eine gefütterte Weste, die nur aus Taschen zu bestehen schien. Mehrere Tage alte Bartstoppeln und langes fettiges Haar ließen keinen Zweifel, dass er nicht zur Dorfgemeinschaft gehörte. John senkte den Lauf des Gewehrs etwas, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. Zögerlich, die Augen starr auf die Mündung gerichtet, blieb er stehen, die leeren Hände zur Seite gestreckt.
„Ich hab' nix gemacht. Ich bin unschuldig. Bitte tu mir nix. Ich hab nur geschlafen.“ Hektisch und abgehackt brachte er die Sätze hervor. Er vermied es, John anzusehen. „Ich bin schon wieder weg. Ich bin gar nicht da.“ Vorsichtig machte er einen Schritt rückwärts und wollte wieder verschwinden.
„Hey, nicht so schnell. Du sagst mir erst mal deinen Namen und was hier passiert ist.“ Johns befehlender Ton ließ den Mann erstarren.
„Dave. Ich heiße Dave. Also zumindest nennen mich alle so.“ Er grinste nervös und entblößte dabei eine Lücke in der oberen Zahnreihe. Er schien nicht gerade besonders helle zu sein.
„Plünderer waren das. Haben das Dorf überfallen. Ich hab in der Scheune geschlafen.“ Er deutete auf ein Gebäude, das in zweiter Reihe hinter einem der Wohnhäuser an der Straße stand. „Aber nur die Nacht!“, ergänzte Dave sofort und grinste erneut.
„Erzähl weiter“, meinte John. Argwöhnisch sondierte er die Umgebung. Plünderer waren in dieser Gegend selten geworden. Und solche, die ganze Dörfer überfielen erst recht.
„’s wurde grad morgen, als se kamen. Haben laut rumgeballert und die Leute aus den Häusern geholt. Einen haben se sogar angeschossen. Dann haben se alle mitgenommen. Aber mich haben se nicht gefunden.“
Sie hatten die Bewohner entführt und das Dorf unangetastet gelassen? Das war äußerst seltsam. Aber dann Bestand die Möglichkeit, dass sie noch am Leben waren.
„Wo sind sie mit ihnen hin?“, fragte John ungeduldig.
Dave überlegte einen Moment, bevor er antwortete: „Westen. In die Hügel.“ Sein Arm wies die Straße hinab. „Se hatten die Sonne im Rücken. Konnten mich nicht sehen, als ich se beobachtet hab.“ Wieder präsentierte er seine Zahnlücke. „Sind weggeritten und haben alle mitgenommen.“
„Danke, das hilft mir weiter. Am besten, du siehst zu, dass du hier wegkommst, ehe die Kerle es sich anders überlegen.“ John warf ihm zwei Münzen zu, die Dave geschickt auffing und blitzschnell in den Tiefen seiner Weste verschwinden ließ.
„Ich werd' den Kerlen folgen.“ John ergriff Ellis' Zügel und folgte ohne ein weiteres Wort der Hauptstraße zum anderen Ende von New Gallow. Eine staubige Spur von Fußabdrücken, vermischt mit Hufabdrücken setzte am Ende der Häuser ein und führte geradewegs zwischen die spärlichen Felder, die um das Dorf angelegt worden waren. Im Gehen nahm er die Maske ab, gegen Plünderer würde sie ihm nicht helfen.
Ein heißer Schmerz bohrte sich in Johns Brust und ein Schlag ließ ihn vornüber taumeln. Im nächsten Moment versagten ihm seine Beine den Dienst und er sank auf die Knie. Die Zügel entglitten seinen Fingern und ein warmes, klebriges Gefühl breitete sich unter seiner Jacke aus. Schwerfällig drehte er den Kopf und erkannte Dave, der hinter ihm auf der Straße stand und eine Pistole auf ihn gerichtet hatte. Jetzt erst schien der einzelne Knall den Weg von seinen Ohren durch sein Gehirn ins Bewusstsein geschafft zu haben.
Vergeblich wollte er sein Gewehr auf Dave richten, der verächtlich lachte, die Waffe zielte auf Johns Kopf. Überdeutlich nahm er die Zahnlücke wahr, als der Plünderer ein zweites Mal abdrückte. John blinzelte, doch kein Schuss ertönte. Langsam sank sein Oberkörper auf die staubige Straße, sein letzter Gedanke, dass Daves Waffe eine Ladehemmung hatte.
Der Schmerz bohrte sich in seine Brust, doch John warf sich bereits zur Seite, als der Schuss ertönte und ihn knapp verfehlte. Sofort kam er wieder auf die Knie, wirbelte herum und feuerte auf Dave, der ein Stück die Straße hinab stand und im gleichen Moment ein zweites Mal schoss. Sein verächtliches Grinsen wandelte sich in Verblüffung und dann zu Entsetzen, als er bemerkte, dass seine Pistole klemmte. Mehrmals noch klickte seine Waffe vergeblich, erst dann schien er die zwei kleinen Löcher in seiner Brust zu spüren, aus denen das Leben dunkel aus ihm heraus rann. Leblos sackte er zu Boden.
Die Waffe noch immer im Anschlag, prüfte John die Umgebung. Dann stand er auf und ging zu Ellis, die hinter einer Hausecke Schutz gesucht hatte und jetzt seelenruhig auf ihren Besitzer zu warten schien. Seine Hand glitt unter T-Shirt und Jacke und seine Faust schloss sich um den noch warmen Anhänger auf seiner Brust. Das Artefakt war etwa 10 cm groß, hatte die helle Farbe von ausgeblichenen Knochen und die Form einer Sanduhr, weshalb John es auch so nannte: Sanduhr. Es war eines von unzähligen sonderbaren Objekten, die nach dem Exodus auf die Erde geregnet waren. Man sagte, sie hätten besondere Fähigkeiten, aber nur bei manchen hatte man herausfinden können, was sie bewirkten. Es gab Artefakte, die im Umkreis von einigen Metern sattes Grün wuchern ließen, egal auf welchem Untergrund und in welchem Klima. Andere beeinflussten angeblich physikalische Gesetze, wie Gravitation oder Magnetismus. Und wieder andere wirkten auf die Psyche.
John hatte die Sanduhr vor Jahren in einem Trümmerfeld eines Stasisschiffes gefunden, wo sie hell zwischen zur Unkenntlichkeit verbrannten Aliens in ihren Kryokammern und Teilen der Raumschiffhülle geschimmert hatte. Erst später hatte er entdeckt, dass das Artefakt ihm die Fähigkeit verlieh, wenige Sekunden in die Zukunft zu sehen. Leider hatte er noch nicht herausgefunden, wie er den Effekt kontrollieren konnte. Er setzte völlig zufällig ein, hatte ihn aber bisher jedes Mal vor dem Tod bewahrt.
Er schwang sich auf sein Pferd und verließ New Gallow in Richtung Westen. Seine Gedanken drehten sich nur um eins, als er der breiten Spur folgte und dabei die beiden fehlenden Patronen im Magazin ersetzte.
Kristy Walsh stand dicht vor dem hohen, mit Stacheldraht gekrönten Lattenzaun. Sie beobachtete die Entführer und dachte an ihren Vater. Wo er jetzt wohl war? Die Plünderer hatten sie aus New Gallow hierher gebracht, Frauen und Kinder eingesperrt und waren mit den Männern schon vor einigen Stunden weitergezogen.
„Na schon Sehnsucht, Süße?“ Das bärtige Gesicht eines Mannes tauchte zwischen den Brettern auf und sein gieriger Blick strich über Kristys Körper, über das grobe Baumwollhemd und die engen Jeans. Ihr lag eine passende Antwort auf der Zunge, doch sie schluckte sie runter und drehte sich weg. Sie spürte seine Augen auf ihrem Hintern, als sie zu den anderen Frauen und Kindern ging, die eng beieinander in einer Ecke des abgezäunten Areals hockten.
Die Banditen waren am Morgen in New Gallow eingeritten. Ein untersetzter Mexikaner mit vernarbtem Gesicht, begleitet von einem Dutzend Plünderer hatten zuvor zwei der Jungs beim Jagen eingekreist und sie als Geiseln genommen. In der Stadt hatten sie die Bewohner gezwungen, ihre Häuser zu verlassen und alle Waffen abzugeben. Ken Yuasa, so etwas wie der Sheriff, Richter und Bürgermeister von New Gallow, hatte sich als einziges in seinem Haus verschanzt. Aber als sie ihm das Dach angezündet und gedroht hatten, nach und nach alle Kinder zu erschießen, hatte er aufgeben müssen. Als Strafe hatten sie ihm vor den Augen aller in beide Schultern geschossen. Jetzt lag er bei den anderen und seine Frau kümmerte sich um ihn.
Dann hatten sie sie zu dieser alten, verlassenen Farm gebracht. Dabei schienen sie mehr an den Männern, als an wertvollen Dingen, wie Waffen, Medikamenten oder Geld interessiert. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Häuser zu durchsuchen.
„Sie sind weg. Sie haben alle Männer mitgenommen. Draußen sind nur noch drei oder vier Wachen“, antwortete sie leise auf die fragenden Blicke der Frauen. Tränennasse Wangen und gerötete Augen schauten sie an.
„Was haben die mit uns vor?“, fragte ein Mädchen zitternd. Sie war die älteste Tochter eines der Bauern. Ihr Vater und drei Brüder waren unter den Verschleppten. Die Kinder und Alten werden sie umbringen oder schlimmer noch einfach verdursten lassen und alle anderen verkaufen, dachte Kristy bitter.
Trotzdem sagte sie: „Ich weiß es nicht. Aber wir müssen tapfer sein. Vielleicht werden sie mit der Zeit nachlässig. Sie sind nur zu viert und wir sind über Zwanzig.“ Sie war nicht von dem überzeugt, was sie da sagte. Jedes Stück ihres Gefängnisses war von außen einsehbar und der einzige Zugang besaß eine Art Schleuse. In einer Ecke hing sogar eine funktionierende Kamera, die sich hin und wieder drehte. Keine Chance für irgendwelche Überraschungsangriffe. Außerdem mussten sie an die Kinder denken. „Wir kommen hier raus“, sagte sie. Paradoxerweise hatte sie den Eindruck, die Frauen glaubten ihr.
„He! Können wir etwas zu essen bekommen?“ Der bärtige Typ kam näher an den Zaun. Kristy hatte gehört, wie ihn die anderen Barbosa genannt hatten.
„Bitte?“, fügte Kristy hinzu. Er war jetzt so nah, dass sie seinen Atem im Gesicht spüren konnte. Er roch nach Zwiebeln und Zigarettenqualm.
„Kannst du was anbieten?“, fragte er mit einem anzüglichen Grinsen. „Umsonst gibt’s hier nur den Tod.“
„Für die Kinder, sie haben Hunger. Die haben euch doch nichts getan“, bat sie, ohne auf seinen Einwand einzugehen.
„Die Bälger? Vergiss es. Die machen’s eh nicht lang“, entgegnete Barbosa mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Aber um eine hübsche Blondine wie dich wär’s schon schade.“ Er machte Anstalten, durch die Lücke nach ihrem Haar zu greifen.
„Du widerliches Schwein. Ich mach dich fertig, wenn ich hier rauskomme“, fauchte Kristy ihn an und wich vor seiner Hand zurück.
„Probier’s ruhig, Süße. Ich mag’s, wenn sie sich wehren.“ Lachend drehte er sich um. „Ich kann warten, bis du richtig Hunger hast ...“, rief er im Gehen. Kristy blickte ihm wutentbrannt nach.
Plötzlich erregte etwas ihre Aufmerksamkeit, ein Blitzen auf einer baumlosen Anhöhe hinter dem Bauernhaus, in dem sich die Banditen einquartiert hatten. Barbosa hatte bereits die Veranda erreicht, sonst war keine Wache zu sehen. Erneut blitzte es kurz auf. Jemand schien ihr ein Zeichen zu geben. Ein Funken Hoffnung loderte in Kristy auf.
John verstaute den Spiegel. Sie hatte ihn bemerkt. Jetzt konnte er nur hoffen, dass sie sich ruhig verhielt, bis die Nacht einbrach.
Auf eigentümliche Weise fühlte er sich zu Kristy hingezogen. Seit er seine Heimat verlassen hatte, war er allein unterwegs gewesen, nur begleitet von seiner Stute Ellis. Er war vor gut acht Jahren das erste Mal nach New Gallow gekommen. Kristy war damals Anfang Zwanzig gewesen und hatte ihn im Laden ihres Vaters glatt überwältigt. John hatte es davor nicht für möglich gehalten, aber ihr selbstsicheres Auftreten, ihre unerschütterliche Lebensfreude und dieses wunderbare Lächeln ...
John war ein Einzelgänger, aber in Kristys Nähe fühlte er sich geborgen und irgendwie ... zuhause.
Er musste leise Lachen, als er an ihre erste Begegnung zurückdachte: Unter einem lächerlichen Vorwand stand er eine Stunde später wieder im Laden, weil er beim ersten Besuch schlicht die Hälfte vergessen hatte. Sie hatte nur gelacht und ihm die Sachen zusammengesucht. „Ich bin immer hier, falls du noch was vergessen hast“, hatte sie ihn fröhlich verabschiedet.
In den letzten Jahren war er noch mehrmals in New Gallow gewesen und irgendwie hatte er jedes Mal gehofft, dass Kristy verheiratet war. Dann hätte er sich selbst gegenüber rechtfertigen können, warum er sie nie nach einem Date gefragt hatte ...
John hatte Ellis ein Stück hinter der Anhöhe angepflockt. Sein Gewehr lag neben ihm. Er beobachtete das Lager nun schon eine ganze Weile. Die Plünderer waren noch nicht lange in der Gegend und hatten sich den alten Hof als Unterschlupf ausgesucht. Er hatte vier gezählt, ein asiatisch aussehender Typ war meistens draußen, während der Bärtige nur hin und wieder rauskam. Die anderen beiden hatten sich erst zweimal blicken lassen. Sonst saßen sie in der Küche und spielten Karten. Nur noch ein, zwei Stunden bis Sonnenuntergang.
Die fahle Sichel des Mondes strahlte hinter dem rötlichen Trümmerfeld hervor, das die Erde seit dem Exodus umgab. Immer wieder verglühten Fragmente in der Atmosphäre und gelegentlich erhellten Explosionen den Nachthimmel, wenn umhertreibende Raumschiffteile kollidierten oder ein Energiekern sein Lebensende erreichte.
Die Wachen hatten gewechselt: Ein hagerer Typ mit einem Poncho saß jetzt mit dem Rücken gegen einen Pfosten der Veranda gelehnt und schien das Gefängnis im Blick zu behalten. Mit der dürren Gestalt und den fettigen, langen Haaren hätte er gut Daves Zwillingsbruder sein können. Der zweite lümmelte in einem groben Holzstuhl auf der Veranda und drehte regelmäßig eine Runde um das Farmhaus, aber wohl mehr, um wach zu bleiben. Über dem Eingang hing eine Glühbirne, die die Veranda und das Stück bis zum Gefängnis erhellte. Der Bärtige und der Asiat saßen in der Küche.
Lautlos hatte sich John in der letzten Stunde an das Haus herangeschlichen. Jetzt lag er auf der dem improvisierten Gefängnis gegenüberliegenden Seite im hohen Gras und wartete ab.
Endlich hörte er es rascheln. Ein schwarzer Schemen zeichnete sich vor dem über und über mit hellen Pünktchen besprenkelten Himmel ab. Nur wenige Meter vor John schlenderte die Gestalt der zweiten Wache vorbei. Er spannte seine Muskeln an, dann überwand er nahezu geräuschlos die kurze Distanz und riss den überrumpelten Banditen zu Boden, wobei er ihm ein Messer bis zum Heft in den Hals rammte. Ein ersticktes Gurgeln aus der aufgeschlitzten Atemröhre und das leise Rascheln des Grases waren das einzige, was von seinem Todeskampf zu hören war.
John blieb noch einen Moment auf dem Plünderer liegen, bis er sicher sein konnte, dass er tot war. Dann zog er das Messer heraus und schlich weiter zur Ecke des Hauses. In der Küche über ihm brannte eine nackte Glühbirne und zeichnete ein helles Rechteck in das trockene Gras. John achtete darauf, außerhalb des Lichtscheins zu bleiben, als er um die Ecke spähte. Daves Zwilling saß unverändert an den Pfosten gelehnt am anderen Ende der Veranda und wandte ihm den Rücken zu.
John steckte das Messer weg und nahm behutsam das Gewehr vom Rücken. Den linken Zeigefinger am Abzug richtete er den Lauf auf den Plünderer, mit der Rechten angelte er eine Blendgranate aus seinem Gürtel und entsicherte sie. Es war eine heikle Strategie, die er sich zurechtgelegt hatte, aber er sah keine Möglichkeit, unbemerkt nah genug an Dave Nummer Zwei heranzukommen, um ihn mit dem Messer zu erledigen.
Vorsichtig schlich er um die Ecke herum. John kniete für einen Moment offen sichtbar im Licht der Verandalampe. Er konnte nur hoffen, dass die Frauen ruhig blieben und ihn nicht unabsichtlich verrieten. Mit einem Blick versicherte er sich der zerbrochenen Scheibe im Küchenfenster, die er von der Anhöhe aus gesehen hatte. Im nächsten Moment warf er die Granate hindurch. Blechern schlug sie auf dem Küchenboden auf. Im selben Moment peitschten zwei Schüsse aus seinem G36 und ließen Dave Nummer Zwei nach vorn kippen. John hatte keine Zeit, sicherzustellen, dass er auch tot war. Holz schabte auf Holz, ein Stuhl kippte krachend um. John hetzte die Verandastufen hinauf, im Laufen wechselte er das Gewehr in die rechte Hand. Gerade, als er die morsche Eingangstür durchbrach, explodierte die Granate in der Küche und warf ein grellweißes Licht an die Wand gegenüber der offenen Küchentür. Im nächsten Augenblick richtete er das G36 in den Raum und jagte zwei Kugeln in die Brust des Asiaten, der geblendet hinter dem Tisch mit den Spielkarten stand. Als Antwort durchsiebten Kugeln die Vertäfelung hinter John sowie Teile der Kücheneinrichtung. Holzsplitter stoben durch den Flur. Der bärtige Bandit schoss blind durch die Gegend, bis sein Magazin leer war. Wild mit der Waffe um sich schlagend taumelte er danach durch die Küche. John wich ihm geschickt aus und hieb ihm mit dem Kolben des Gewehrs gegen den Solarplexus, woraufhin er röchelnd zusammenklappte. Ein weiterer Schlag gegen den Kopf raubte ihm das Bewusstsein.
Sogleich rannte John wieder nach draußen. Doch seine Sorge war unbegründet: Daves Zwilling lag mit dem Gesicht auf der Erde und atmete nicht mehr. Ein Loch prangte in seinem Rücken, ein zweites in seinem Genick. Auch mit links hatte John getroffen.
Etwas ruhiger eilte er in die Küche zurück. Dort entwaffnete er den einzigen überlebenden Banditen an einen der Küchenstühle, nachdem er ihn entwaffnet hatte. Alles war nach Plan gelaufen. Schnell hatte er die Schlüssel für das Gefängnistor in einer der Taschen gefunden.
Kristy stand bereits wartend hinter dem Zaun, während sich die anderen Frauen und Kinder ängstlich im Hintergrund drängten.
„John?“, flüsterte sie ungläubig, als er die Schlösser öffnete. Dann fiel sie ihm um den Hals. „Danke, danke.“ John war überrascht von der unerwarteten Nähe, mit der Kristy ihren Kopf in seine Schulter presste und die Arme um ihn schlang. Zögerlich legte auch er seine Arme um ihren Körper.
„Es ist John, John Mort“, rief sie den anderen zu, als sie sich nach einer wunderbaren, aber viel zu kurzen Ewigkeit wieder von ihm löste. Langsam kamen die anderen Frauen näher. Als sie ihn nach und nach erkannten, verflog ihr Argwohn und überschwänglich bedankten sie sich bei ihm. Dann drängte sich Kristy dazwischen.
„Sind sie tot? Hast du die Arschlöcher umgelegt?“ In ihren dunklen Augen glomm Hass und der Durst nach Rache.
„Alle bis auf einen, den ich in der Küche gefesselt habe“, antwortete John wahrheitsgemäß, ohne über die Folgen nachzudenken. Als John seinen Fehler erkannte, war Kristy bereits ins Haus gestürmt. Sofort eilte er ihr hinterher.
„Halt, Kristy!“, brüllte er lauter, als beabsichtigt, als er in der Küchentür stand. Kristy hatte sich ein Messer geschnappt und presste es dem gefesselten Barbosa an den Hals. Er war wach und sein panischer Blick glitt zwischen Kristy und dem Messer hin und her.
„Jetzt bleibt dir das Lachen im Hals stecken, mhmm?“, fuhr Kristy ihn an, ohne auf John zu achten. „Ich hab' dir was versprochen und das werde ich halten.“
„Bitte, ich hab’s doch nicht so gemeint.“ Die Klinge drückte deutlich gegen seinen Kehlkopf. Mühsam flehte er: „Nimm das Messer weg. Bitte.“
„Hättest du es lieber so?“ Kristy hatte ihre Hand um seinen Hals geschlossen. Ihr Gesicht knapp vor seinem, funkelte sie ihn entschlossen an, während das Messer zwischen seine Beine glitt.
„Bitte nicht ...“, wimmerte er, als sie langsam mit der Spitze durch seine Hose stach.
Bestimmt legte John seine Hand um ihr Handgelenk und zog ihre Hand mitsamt dem Messer weg. „Das bist nicht du, Kristy“, flüsterte er sanft. „Du bringst keine Leute um. Du hilfst anderen Menschen. So, wie den Frauen und Kindern, die da draußen warten.“ Behutsam zog er sie von dem Banditen fort. Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht und sah ihr in die Augen. „Du willst dir die Last eines Mordes nicht aufladen. Glaub' mir. Ich weiß, was das bedeutet. Es ist wichtig, dass es Menschen wie dich gibt, die die Menschlichkeit in diesen unmenschlichen Zeiten bewahren. Verstehst du?“
Der Ausdruck in ihren Augen wurde langsam weicher, wärmer, bis eine einzelne Träne ihre Wange hinab rollte. Einen Moment überlegte John, ob er sie wegwischen sollte, doch da drehte sich Kristy bereits um und verließ die Küche. Unschlüssig stand er da, dann wandte er sich dem Banditen zu.
„Jetzt reden wir beiden mal, okay?“ Der Bärtige nickte nur erleichtert.
„Also, wie ist dein Name und was wollt ihr von den Leuten, die ihr verschleppt habt?“
„Komm schon. Wir haben den Frauen doch gar nichts getan“, entgegnete der Bandit kumpelhaft. „Ist doch nichts passiert. Mach mich einfach los und wir vergessen das Ganze. Ich bin ruckzuck weg und du siehst mich nie wieder, versprochen. Wir beiden haben doch gar keine Probleme, oder?“
„Für dich noch mal deutlicher.“ In Johns Stimme schwang ein drohender Unterton. Seinen Fuß hatte er zwischen die Beine des Bärtigen gestellt und trat jetzt leicht zu. „Ich frage und du antwortest auf meine Fragen. Sonst bring' ich zu Ende, was ich der jungen Dame nicht zumuten wollte. Klar?“ Wieder nickte der Bärtige, doch sein Gesicht war aschfahl geworden.
„Wie ist dein Name?“
„Tomás Barbosa.“
„Wer ist euer Anführer?“
„Er heißt Ceja Nevarez. Irgendein Typ aus der Grenzregion, New Mexico oder so.“
„Und was will er hier?“
„Keine Ahnung.“ John trat fester zu.
„Ich weiß es nicht, ehrlich“, stöhnte Barbosa. „Er hatte schon ’nen Haufen Typen dabei, als ich mich ihm ein Stück im Süden angeschlossen hab'. Die Kerle hatten Waffen und Ausrüstung, da gehen einem die Augen über.“
„Was er hier will“, fragte John mit Nachdruck.
„Das hat er nicht gesagt. Aber es gingen Gerüchte um, dass er von einer Absturzstelle weiß, ganz frisch. Er soll es schon gewusst haben, bevor das Teil überhaupt runter kam.“
„Und die entführten Dorfbewohner sollen für ihn die Drecksarbeit machen, richtig?“
„Ja, jaaa!“ Der Bandit schrie fast. „Er nimmt sie mit zum Wrack. Vielleicht 60 km entfernt im Nordwesten.“
„Na geht doch.“ Mit diesen Worten schlug John ihm den Gewehrkolben gegen den Kopf. Bewusstlos sackte Barbosa auf dem Stuhl zusammen. Dann verließ er die Küche und trat auf die Veranda hinaus.
Im Licht der Lampe saßen und standen die Frauen und richteten ihre Augen erwartungsvoll auf ihn. Der verletzte Yuasa stand, gestützt durch seine Frau, dazwischen. Jemand hatte die Leiche von Daves Zwilling weggeräumt, um die Kinder nicht zu verängstigen.
„Ich denke, das Beste wird sein, wir brechen sofort auf, zurück nach New Gallow“, sagte John laut. „Das sollte bei Nacht in drei oder vier Stunden zu schaffen sein.“
„Und was ist mit unseren Männern?“
„Ja, wo sind sie?“ Ausrufe wurden laut.
„Wir können sie doch nicht im Stich lassen!“
„Ganz ruhig, bitte.“ Er hob beschwichtigend die Hände.
„Wegen eurer Männer ...“ Es wurde still. „Ich weiß, wo sie sind und ich werde sie retten. Das verspreche ich euch. Aber zuerst solltet ihr hier weg. Ihr müsst zurück nach New Gallow und euch um die Kinder und das Dorf kümmern.“
Gemurmel wurde laut, Diskussionen entbrannten. Vor allem die Frauen ohne kleine Kinder wollten kämpfen. Sie wollten Rache nehmen, so wie Kristy noch vor einigen Minuten. Als hätten sie eine Chance gegen diese Typen, dachte John. Wenn die nur halb so gut ausgerüstet sind, wie es für ein solches Vorhaben notwendig war ...
„John hat recht.“ Kristy übertönte das Stimmengewirr. „Lasst uns aufbrechen. Ich vertraue ihm. Wenn er verspricht unsere Männer zurückzuholen, dann wird er das tun. Und wir sollten uns derweil um die Kinder und das Dorf kümmern. Und um Ken“, setzte sie hinzu, als ihr Blick sein schmerzverzogenes Gesicht streifte.
Unter Kristys Führung marschierte die Gruppe aus Frauen und Kindern wenig später los. John hatte sein Pferd geholt und war allein bei der Farm geblieben. Er meinte, er wolle die Farm durchstöbern, auf der Suche nach möglichen Hinweisen auf Nevarez' Vorhaben.
Ein einzelner Schuss hallte durch die Nacht, als die Frauen die Anhöhe bereits überwunden hatten. Wenig später hatte John die Gruppe eingeholt. Er hatte die Waffen der Plünderer und was sonst noch von Nutzen gewesen war, auf Ellis geladen.
Er war neben Kristy abgestiegen und führte das Pferd am Zügel. Wortlos liefen sie an der Spitze der Gruppe.
„Wo ist mein Vater?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen.
„Alfred geht es bestimmt gut. Sie werden den Männern nichts tun. Sie brauchen sie“, wich John ihr aus.
„Ich werde dich begleiten“, sagte sie nach einer Weile bestimmt. „Ich werde ihn retten.“
„Das kann ich nicht zulassen“, widersprach John. „Die Typen sind gefährlich. Du machst dir keine Vorstellung davon, wie es hier draußen zugeht. Hier nimmt sich jeder, was er will.“
„Rede nicht mit mir, wie mit einem Kind“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich weiß, dass hier Anarchie herrscht. Die ganze Welt besteht nur noch aus Chaos. Genau darum muss ich meinem Vater helfen!“
Schweigend liefen sie nebeneinander her. Johns Gefühle rangen in ihm. Zu gern hätte er sie in seiner Nähe gehabt - am liebsten für immer. Aber konnte er ihr Leben aufs Spiel setzen?
„Ich meinte ernst, was ich vorhin sagte“, sagte er in die Stille zwischen ihnen.
„Ich will nicht, dass du einen anderen Menschen töten musst“, erklärte er, als sie nicht reagierte.
Kristy sah in lange von der Seite an.
„Es ist mein Vater ... Ich hab' doch sonst niemanden“, erwiderte sie leise. Außer dir, dachte sie, aber das sagte sie nicht laut.