Das Erklimmen der Felswand als Plackerei zu bezeichnen wäre eine Form brutaler Untertreibung. Ulrik geriet trotz der kühlen Nachtluft ins Schwitzen und auch den anderen schien es nicht viel besser zu gehen. Selbst die beiden Elfen hatten so ihre Mühe, den Fels zu bezwingen.
Doch so langsam kam das Ende in Sicht, als sich die Zinnen der Burgmauer über ihnen im Schein eines Feuerkorbs abzeichneten und der rohe Fels unter ihren Händen zu gestapelten Quadern überging.
Ulrik hoffte innigst, dass sie nicht zu spät waren, um Akeela vor ihrer eigenen Torheit zu retten.
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Mit schmerzenden Gliedern zog Akeela sich über die Mauer. Das Leder ihrer Rüstung schabte leise über den Stein, als sie zwischen den zwei Zinnen hindurch glitt. Die Mauer war vom matten Schein eines Feuerkorbs erhellt, der wenige Meter weiter im Inneren eines Wachturms stand. Von dem Leuchten umrissen konnte Akeela die Silhouette einer grobschlächtigen Gestalt erkennen, die sie ohne weiteres als Ork wiedererkannte, auch wenn der Unhold nicht in ihre Richtung sah - was wohl auch besser war, wollte sie unbemerkt bleiben. Angramar hatte ihr mehr als einmal davon erzählt, wie einige dieser Kreaturen selbst in tiefster Finsternis noch zu sehen vermochten. Ihr schauderte es bei dem Gedanken daran, wie Angramar seinen Erzählungen nach in den tiefen Stollen der Zwerge gegen ganze Horden diese Wesen gekämpft hat. Der Verstand eines Orks bestand seinen Worten nach zu gleichen Teilen aus Hass und Verkommenheit, während ihre Körper groß und stark wie zwei Männer waren. Nur zu gut konnte sie sich auch daran erinnern, wie der Zwerg ihr davon erzählt, dass es noch weit schlimmere Wesen als Orks gab, die unter der Erde lauerten. Manchmal verbündeten diese sich mit den Grünhäuten und begleiteten sie an die Oberfläche.
Vielleicht war das ganze doch keine so gute Idee gewesen, schoss es Akeela durch den Kopf. Vielleicht hätte sie auf das Urteil des Rates vertrauen sollen. Andererseits... andererseits wusste sie einfach, dass sie das richtige Tat!
Oder glaubte sie das nur?
Wie auch immer. Nun war es bereits zu spät zum Umkehren.
Gewandt war Akeela die steinerne Treppe hinab vom Wehrgang in den Hof geschlichen, die linke Hand an die Scheide ihres Schwertes gelegt, damit es ja kein verräterisches Geräusch von sich geben mochte. Im Hof der Burg angelangt, bot sich Akeela der Anblick schlafender und faulenzender Orks, die stinkendes Fleisch über glimmenden Feuern brieten. Einige Dutzend dieser Gestalten glaubte Akeela zu erspähen, doch zu ihrem Glück schien keiner von ihnen ihr gewahr geworden zu sein.
Für einige Minuten verharrte Akeela im Dunkeln hinter einem Wasserfass, um den Hof eingehender zu beobachten. Ihr Ziel hatte sie klar vor Augen: Etwa mittig des Hofes ragte eine steinerne, Konstruktion auf. Aus Steinklötzen, Holzbalken und Eisenbeschlägen war ein hoher Turm gut vierzig Meter hoher Turm gebaut worden. Zwischen den Steinen des Gemäuers waren kleine und große Lücken, aus denen Holz und vermodertes Stroh ragten. Um den Turm herum schmiegte sich eine krumme Holztreppe, die irgendwie von einer Ansammlung weiterer Balken gehalten wurde und bis ganz hinauf zur Spitze des Turms führte, wo auf einem Podest ein Leuchtfeuer aufgebahrt war.
Es dauerte mehrere Minuten, bis Akeela den rechten Augenblick gefunden zu haben glaubte, um über den Hof zu eilen. So flink und leise, wie nur irgend möglich, schlängelte sie sich zwischen fünf schlafenden Orks hindurch, hinterging einen weiteren, der gegen die Schlafstätte eines weiteren pinkelte und erreichte ihr Ziel gerade rechtzeitig, um vor dem Blick eines weiteren vorbeischlendernden Orks abzutauchen. Sie sah der Grünhaut nach, während diese sie passierte - die Luft vor Anspannung anhaltend - und wendete sich der Treppe zu, bereits im Inbegriff, die ersten Stufen zu nehmen.
Der kleine, dickliche Ork war mindestens genauso überrascht wie sie, als er gemächlich an einer Fleischkeule kauend die Treppe hinab schlawenzelte und ihm mir nichts, dir nichts ein Menschen Junge vor die Wampe lief.
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Ulrik zog sich über die Mauer und half zugleich Angramar dabei, seinen gepanzerten Zwergenkörper über die Mauer zu wuchten. Die zwergischen Panzerplatten kratzten geräuschvoll zwischen den Zinnen entlang.
"Mist", ächzte Ulrik, als ihm die Sorge durchfuhr, gerade die halbe Burg geweckt zu haben. Und damit hatte er auch gar nicht mal so unrecht. Ein Grunzen hallte über die Zinne, zusammen mit dem unsanften Schritten eines rennenden Orks. Ulrik folgte den Lauten und sah sich einem Ork entgegen, der sein brutales Beil schwingend aus dem nächsten Wachturm auf Ulrik zu getrampelt kam.
Unwillig seinen Gefährten, der noch immer in seiner Rüstung zwischen den Zinnen steckte, loszulassen - und dadurch unter Umständen in den Tod zu stürzen - warf Ulrik sich mit einem Ruck nach hinten, den Zwerg mit aller Kraft über die Festungsmauer ziehend.
Die Axt des Orks verfehlte den zu Boden gestürzten Ulrik knapp, schabte dafür über Angramars Helm und schlug mit dem Blatt auf den Stein des Wehrgangs. Schon holte die Grünhaut zu einem zweiten Schlag gegen Ulrik aus. Ein kräftiger Fußtritt Ulriks brachte die Orkwache jedoch weit genug aus dem Gleichgewicht, um sich zur Seite zu rollen, bevor das Beil erneut auf die Steine schlug - dieses mal dort, wo Ulrik kurz zuvor noch gelegen hatte. Der Ork machte kaum einen Schritt nach vorne, da erklang ein tiefes Grollen zur rechten Ulriks und die Axt Angramars schwang herbei. Beidhändig geführt fuhr sie in den Wanst des Orks, welcher durch den wuchtigen Schlag von den Füßen und über den inneren Rand der Burgmauer gehoben wurde. Laut quieken stürzte er in den Hof hinab.
Arri schwang sich noch in der selben Sekunde auf die Mauer, während Ryias Kopf zwischen den Zinnen erschien.
"Jup, die wissen dann mal, dass wir da sind", war alles, was die Vyalbe hervorbrachte, bevor sie sich ebenfalls auf die Zinne zog, dicht gefolgt von Valen.
Sowohl Ulrik als auch Angramar blickten noch hinunter ins Innere des Hofes, der - wie sie sofort erkannten - voller Orks war. Einige standen und blickten zu irgendetwas auf den Treppen des wackeligen Turms in der Mitte der Burg hinauf, miteinander grunzend, als wären sie sich unsicher, was sie dort sahen.
Ulrik wusste jedoch sogleich, was - oder genauer: wen - er dort sah. Mit flinken Schritten eilte Akeela die Treppe hinauf, die sich um den Turm herum schlängelte, immer weiter hinauf. Hinter ihr ein einzelner wütender Ork, der Mühe hatte, Schritt zu halten.
Doch alle Aufmerksamkeit war von Akeela gewichen und galt nun Angramar und Ulrik, von dessen Position der letzte Laut des sterbenden Orks ausgegangen war. Ein anderer Ork im Hof hob die Hand, um auf die beiden Eindringlinge zu zeigen und gab auf orkisch Alarm.