Langsam öffnete sich die Tür, und obgleich Lena schonwieder völlig frei von Schmerzen war, stieg sie mit einer gewissen Vorsicht aus dem Auto heraus.
Endlich war sie wieder zuhaus - endlich wieder in ihrem Zimmer, ihrem eigenen kleine Reich. Hier, wo nur sie das Sagen hatte und niemand sonst. Das Krankenhaus war mehr als nur langweilig gewesen und sie hatte es auch nicht nachvollziehen können, warum sie so viele Untersuchungen über sich ergehen lassen musste. Doch dies lag nun alles hinter ihr. Es war vorüber und nichtmehr notwendig sich damit zu beschäftigen – nichtmehr nötig ihren Geist damit zu belasten. ‚Erinnerungen sind nur solange nützlich wie sie Informationen enthalten die es ebenfalls sind.‘ Aber halt mal… hatte sie schon immer so empfunden? Ein plötzliches Gefühl der Unsicherheit beschlich sie und wurde von ihrem rationalen Selbst ebenso schnell wieder verdrängt wie es gekommen war. Von Zeit zu Zeit ging es ihr so. Momente in denen sie sich ihrer Veränderung bewusst wurde, doch sie akzeptierte sie als Teil ihres neuen, besseren Selbst. Ja, besser – dessen war sie sich sicher. Gefühle sind doch nur Irritation. Ablenkung vom Wesentlichen und Wichtigen. Sie verschleiern fast immer die eigentlich logischen Konsequenzen und das hasste sie. Dies war ihr nie so richtig klar gewesen – dieses eigene Bedürfnis nach Klarheit und bedingungsloser Selbstbestimmung. Wahrscheinlich eben ihrer Gefühle wegen, von denen sie immer wieder durchs Leben geschubst wurde wie es ihnen gerade beliebte. Früher war sie oft traurig, wütend oder auch glücklich gewesen – sie erinnerte sich noch gut daran. ‚Überflüssig! Auch diese Erinnerungen helfen mir nicht weiter.‘ Aber das waren Gedankengänge, mit denen sie sich nur im Stillen auseinander setzte und welche sie für sich ganz allein behielt. Sie war sich auf seltsame Art und Weise darüber sicher, dass sie ohnehin niemand sonst hätte nachvollziehen können. ‚Viel zu irritiert sind sie alle.‘ Jeden ihrer eigenen Schritte bedenkend, begab sie sich hinauf zu ihrem Zimmer. Als ihre Hand auf der Klinke zum Ruhen kam, wurde ihr Geist von einer Flut aus Erinnerungen förmlich durchspült. Erinnerungen die fest mit ihrem Zimmer in Verbindung standen. Erinnerungen an denen Gefühle hingen, und die nun nichtmehr von Wert für sie waren. Sie schüttelte sie ab und es war als würden sie alle mit dem Herabdrücken der Klinke von eben dieser hinabrutschen und im Nirwana verschwinden. ‚Auf nimmer Wiedersehen, altes Ich…‘
Ihre Eltern und Geschwister hatten sie herzlich willkommen geheißen. Immerhin freuten sich alle sehr darüber, dass sie ihr geliebtes Familienmitglied wieder bei sich zuhause hatten. Dennoch war es ein seltsames „Willkommen“ und anders als alle bisherigen. Man sollte meinen, dass sich Lena nach der Zeit im Krankenhaus auf ihr Zuhause gefreut hatte und dies auch zum Ausdruck bringen würde, doch ein schlichtes >>Danke.<< war alles was sie für Ihren warmherzigen Empfang bekamen. >>Sie ist wahrscheinlich völlig erschöpft und noch zu sehr mitgenommen von all den Strapazen.<< versuchte es ihre Mutter auf die körperliche Verfassung zu schieben, und alle anderen stimmten ihr schweigend zu. Sie nahmen dies als gegeben hin, um sich der Wahrheit nur ein Stück weit zu entziehen – Lena war nichtmehr dieselbe. Und es war auch völlig absurd, Lena war nie ausgeruhter gewesen und hatte sich, rein körperlich gesehen, nie besser gefühlt als jetzt. Oben auf ihrem Zimmer warf sie ihre Sachen in irgendeine Ecke und begann sich die Schuhe auszuziehen. Bequemere Kleidung musste her und zwar sofort. Ihr Kleiderschrank gab natürlich einiges her, denn wie bei wahrscheinlich jedem gut ausgestatteten Mädchenhaushalt, bot er eine reichhaltige Auswahl an. Gesagt, getan und umgezogen. Sie nannte auch einen kleinen Spiegel ihr Eigen, welcher an der Wand neben ihrem Kleiderschrank prangte. Auf diese Weise ging sie sehr effizient Streitereien mit ihren Geschwistern aus dem Weg. Ein Blick in eben diesen, spiegelte genau das wieder was sie sich schon hatte vorstellen können, wie ihre Umwelt sie momentan sah. Ein relativ blasses Etwas mit versteinerter Miene erwiderte ihren starren Blick. ‚Hmmm, etwas Make-up könnte die Sache leicht regeln.‘ schoss es ihr durch den Kopf. Eigentlich sah sie ja aus wie immer, mal abgesehen von der Tatsache, dass ihr Abbild ihr normalerweise immer irgendeine Miene oder ein Lächeln geschenkt hatte. Nicht mal ihr sonst so bevorzugtes, gelangweiltes Mundwinkelverziehen konnte es sich abringen. Aber wer war sie, sich darüber zu beschweren?! Immerhin hätte sie sich den Wunsch ganz leicht selbst erfüllen können, wenn sie es denn gewollt hätte. Und wenn sie genau darüber nachdachte, war auch das wiederum völlig egal. Mit einem tiefen Atemzug ließ sie sich rücklings auf ihr Bett fallen und begann zu sinnieren. Die vergangenen paar Tage, die sie im Krankenhaus verbracht hatte, zogen noch einmal im Schnelldurchgang an ihr vorbei.
Als ihre Eltern versucht hatten, sie aus dem Krankenhaus zu holen, waren die Ärzte nicht wirklich davon begeistert gewesen, denn sie wollten noch so viel von ihr wissen. >>Wir raten ihnen dringlichst dazu ihre Tochter noch ein paar Tage zu Untersuchungszwecken hier im Krankenhaus zu belassen. Unter normalen Umständen wäre sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch lange nicht wieder auf den Beinen. Es könnte durchaus einen Rückfall geben. Auch hätten wir gerne noch ein paar Testergebnisse abgewartet um eindeutig grünes Licht zur Entlassung geben zu können.“ ‚Pah! Gesundheit… Rückfall… grünes Licht. Alles nur dummes Gewäsch von Leuten welche die Wahrheit nicht aussprechen wollen. Die haben sich doch lediglich darum geschert herauszufinden warum bei mir alles so viel schneller geht als bei anderen Menschen!‘ Schlussendlich mussten sie sie gehen lassen, ob sie nun wollten oder nicht. Schließlich konnten sie Lena ja nicht gegen ihren und den Willen ihrer Eltern dort festhalten. Medizinisches Fachgelaber hin oder her, jeder konnte sehen wie gut es ihr bereits ging und da half es auch nichts zu betonen, dass dies eigentlich nicht normal sei. Am nächsten Tag war Lena schon wieder so fit, dass sie alle alltäglichen Dinge eigenständig erledigen konnte. Auch die Katzenwäsche funktionierte ohne Umstände. Während sie so im Bad am Waschbecken stand und wiedermal ihrem eigenen Anblick im Spiegel ja beinahe ausgeliefert war, fasste sie den Beschluss sobald wie möglich ein entspannendes Bad zu nehmen. Und auch wieder zu Duschen! Und das alles eigenständig! Sie hatte keinen Bedarf sich wie ein Invalide zu fühlen, jawohl! Zu jeder Folgeuntersuchung, sowie bei der Krankengymnastik, war sie auch stets alleine unterwegs. Die Übungen waren ihr viel zu leicht und egal was die Therapeutin ihr auch zeigte, sie konnte es ohne Schmerzen ausführen. Jede der Untersuchungen wurde anders bewertet und langsam aber sicher wurde es immer langweiliger für Lena. Nur, dass man ihr dies jetzt nicht mehr ansah. Auch das Essen im Krankenhaus war nicht wirklich berauschend gewesen, dennoch aß sie ohne eine Sterbensmiene zu verziehen. ‚Warum auch? Essen ist eine Notwendigkeit.‘ so ihre Sicht. Sie war eben nichtmehr der Genießer von einst. Die Bücher, welche ihre Eltern für sie mitbrachten, hatte Lena ziemlich schnell durch und selbst alle Kreuzwort- sowie andere Rätsel gingen ihr wie im Fluge und mit unbeschreiblicher Leichtigkeit von der Hand. Im Grunde wollte sie nur noch eines. Sie wollte nach Hause. Zwei Tage später wurden ihr schon alle Fäden gezogen und die Ärzte konnten nichts mehr gegen Lenas, ihrer Meinung nach voreiliger, Entlassung sagen. Schweigend ließ man sie gehen.
Lena konnte die Sorgen ihrer Eltern nicht nachvollziehen. Immerhin hatte man ihr jene Untersuchungsergebnisse, mit welchen allerdings ihre Eltern konfrontiert wurden, vorenthalten. Man wollte ihnen auf diese Weise ganz eindeutig und nachdrücklich klar machen, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Da aber beide von Lenas Elternteilen keine große Ahnung von dem hatten was sie zu hören bekamen, sorgten die Ärzte bei ihnen mehr oder weniger nur für noch mehr Konfusion als denn für Aufklärung. Was sie allerdings auch ohne all‘ deren Geschwafel sehr gut verstanden: Lena war für normale Verhältnisse viel zu schnell genesen. Auch diese, für ihre Tochter normalerweise unüblichen, Verhaltensweisen, traten mit jedem vergangen Tag mehr zum Vorschein. Es schien ihnen gerade so, als wäre ihr alles egal geworden. Sie waren in dieser Situation so ratlos wie man nur sein kann. Und ihre Ratlosigkeit mündete oftmals in einen Zustand der Verzweiflung und Trauer. ‚Wir sind doch ihre Eltern…‘ dachten sie. ‚Irgendetwas müssen wir doch für sie tun können…‘ Sie konnten nur hoffen, dass wenn sie nach diesem Wochenende wieder in die Schule ging und in ihren gewohnten Alltag eingebunden war, sich auch ihr Zustand irgendwann normalisieren würde. Das Wochenende verlief ohne Auffälligkeiten und verging zumindest für die Eltern so schnell wie noch nie eines zuvor, sehnten sie doch den Beginn des hoffentlich wieder normalen Alltags herbei. Für Lena war es ganz anders. Sie hatte im Prinzip nichts zu tun, also fing sie an, ihr Zimmer, das vorher doch relativ chaotisch war, manch einer möge es auch als kreativ oder wohnlich beschreiben, zu verändern. Irgendwie entsprach es nicht mehr ihrem Geschmack. Sie krempelte also ihre Ärmel hoch und begann die Möbel mit Hilfe ihres Vaters zu verrücken. War vorher noch alles mehr oder weniger durcheinander, so bekam jetzt jedes Möbelstück seinen zugewiesenen Platz. Beinahe in Schachbrettmanier geordnet, ließ sich ihr Zimmer nun ungehindert betreten, in einem einzigen Rundgang alles was man vielleicht brauchte leicht erreichen, und auch ebenso ungehindert wieder verlassen. Jedes Buch, ja sogar jedes Stofftier das sie besaß, bekam einen ausgewählten Platz, wo es sich aus ihrer Sicht perfekt ins Gesamtbild einfügte. Alle Poster kamen von den Wänden herunter, so dass das sterile Weiß, welches sie seit eh und je trugen, wieder voll zur Geltung kam. ‚Ein herrlicher Anblick…‘ flammte einen Augenblick lang fast so etwas wie Freude in ihr auf. Alles musste verändert werden. Alte Dinge mussten neuen weichen oder einfach nur verschwinden. Gleichzeitig wurde sie beim Anblick einiger Dinge von dem „Gefühl“ beschlichen, diese würden zu kindlich für sie wirken. Lieblos und ohne Gnade wurden auch sie in Kisten zusammengepfercht und irgendwo in den unbekannten Weiten des Dachbodens oder Kellers für alle Ewigkeit verstaut. Sonntagabend fiel ihr Blick schließlich auf die Uhr: Punkt acht – fertig! Alles war in Sack und Tüten wie man so schön sagt und ihr altes Reich erstrahlte in neuem Glanz. Dieses ehemalige Zentrum der Entropie und des Chaos war einem praktischen, logischen und durchdachten Zimmer gewichen. Sie hatte in der ganzen Zeit nicht die Lust verspürt, mit ihren Geschwistern zu streiten. Eigentlich recht ungewöhnlich, wenn man bedenkt wie gerne sie das früher immer getan hatte. Ihre Eltern beschäftigten die beiden wo sie nur konnten, um sie auf diese Weise von Lena und ihrer Umräumaktion etwas fern zu halten.
Montags morgens machte Lena sich schnell fertig. Und diesmal war sie wirklich schnell. Nicht mal mehr annähernd so lang wie früher brauchte sie im Bad. Unnötiges, wie Kosmetik und Aufstylen war ihr nicht mehr wichtig. Das einzige was nun auf ihrer Haut noch seinen angestammten Platz fand, war eine feuchtigkeitsspendende Pflegelotion die diese gleichzeitig vor freien Radikalen schützte - praktische Sache. Kaum in der Schule angekommen sammelte sich auch schon eine große Menschentraube um sie herum. Der Andrang war reinster Wahnsinn und alle hatten Fragen über Fragen an sie. „Wie geht‘s dir?“ „Was machen deine Verletzungen?“ „Was genau ist passiert?“ „Wie fühlst du dich jetzt?“ Sie kam gar nicht zum Antworten, denn die Fragen prasselten nur so auf sie ein. Endlich hatte sich ihre Freundin Klara zu ihr durchgekämpft und zog sie aus der scheinbar vom Wahnsinn befallenen Meute heraus. >>Jetzt lasst sie doch mal in Ruhe, das ist ja nicht auszuhalten mit euch!<< Im Klassenzimmer und an ihren angestammten Plätzen angekommen, betrachtete sie Lena erst einmal näher. >>Ist auch wirklich alles in Ordnung? Du bist immer noch so blass wie ‘ne Kalkleiste und wirkst als hättest du ‘nen Dauerkrampf im Gesicht.<< übertrieb sie absichtlich und kicherte vor sich hin, doch Lena lachte diesmal nicht wie gewohnt mit ihr. Irgendwie ließ sie das völlig kalt. ‚Nanu, hat sie etwa ihren Humor verloren?‘ stellte Klara etwas erschrocken fest. ‚ Egal…sprich weiter ehe es peinlich wird!‘ so stand sie im inneren Konflikt mit sich selbst. Lena jedoch schüttelte nur den Kopf und meinte >>Alles okay soweit und die anderen da stören mich auch nicht wirklich. Brauchst dir also keine Sorgen zu machen oder so...<<
Das schrille Ringen der Schulklingel riss die beiden abrupt aus ihrer Unterhaltung und mahnte mit unerbittlichem Nachdruck zur Aufmerksamkeit. Der Unterricht begann und alle Schüler begaben sich an ihre Plätze. Der Lehrer sprach ein paar begrüßende Worte an Lena, ging dann aber sofort auf den Unterrichtsstoff über. Lena war heilfroh darüber, dass die Erwachsenen nicht so einen Wirbel um die Sache machten. Immerhin macht es das auch nicht einfacher – jedenfalls für die anderen. Für sie selbst stellte das alles kein wirkliches Problem dar. Sie konnte sich allerdings vorstellen, dass es frustrierend sein musste, auf seine Fragen nur so etwas wie ein „Alles ist okay.“ oder „Kein Grund zur Sorge.“ zu erhalten, wenn man doch eigentlich mit etwas anderem rechnete.
Der Unterrichtsstoff, so stellte sie allerdings fest, war nicht annähernd so schwierig wie sie ihn sonst immer empfunden hatte. Trotz ihrer etwas längeren Pause kam sie sehr gut mit dem neuen Stoff mit. Die Stunden vergingen für sie wie im Fluge, während sie zwischenzeitlich an den Gesichtern der anderen immer wieder ablesen konnte, dass sie die Mittagspause schon herbeisehnten und dass ihnen die Zeit bis es endlich soweit wäre, noch wie eine Ewigkeit erschien. Doch auch die unerträglichste Zeit geht irgendwann einmal vorüber. So kam auch irgendwann die Mittagspause und wieder versuchten ihre Mitschüler aus Lena die Antworten zu bekommen, welche sie so brennend interessierten. >>Und schon geht es wieder los…<< verleierte Klara die Augen als sie auf den Schulhof heraustraten. Lena hingegen war es wiederum völlig egal, dass sie mit all diesen Fragen behelligt wurde. Es waren schlicht unwichtige Dinge. Unter anderem solche die sie schon längst wieder aus ihrer Erinnerung gelöscht hatte, da sie ihr überflüssig erschienen. Um ihrer Freundin Klara willen, brach sie jedoch ihr Schweigen und rang sich zu einigen eher beiläufig ausgesprochenen Antworten durch. Ihre Gleichgültigkeit und Kälte waren Klara völlig befremdlich und sie stellte sich von Zeit zu Zeit die Frage, ob sie diese Person dort, die sich als „ihre“ Lena ausgab überhaupt wirklich kannte. Etwas ausgeblendet, vergleichbar mit Geräuschen die man hört während man sich unter Wasser befindet, drangen Lenas Antworten an ihre Ohren. Jenes was sie nicht ganz verstand, dachte sie sich einfach so dass es irgendwie passte… >>Also, mir geht es gut. Die Verletzungen sind fast vollständig verheilt und die Ärzte sind sehr zufrieden mit meinem Zustand. Was genau passiert war, weiß ich nicht mehr, denn das ganze ging viel zu schnell. Mehr sage ich dazu jetzt aber nicht mehr! Gebt euch damit zufrieden oder geht sterben oder so. Ist mir völlig gleich.<< eine Menschenmenge mit leicht verstörten Gesichtern blieb zurück. ‚…oder geht sterben…‘ hörte Klara die Worte in ihrem Kopf widerhallen und erwachte aus dem tranceähnlichen Zustand in den sie verfallen war. Hatte sie das Lena gerade wirklich sagen hören? >>Warte mal, warte mal, warte mal Lena…<< ein Griff an Lenas Schulter beendete Ihrer beider Gang und Lenas Blick fiel zuerst auf Klaras Hand und dann auf ihr Gesicht. >>Was?<< kam es locker über Lenas Lippen. >>Na das „oder geht sterben“ eben gerade. Sowas hab ich ja noch nie von dir gehört… Also zumindest nicht mit so‘nem Ernst in der Stimme.<< sprach eine scheinbar völlig entrüstete Klara. >>Na und wenn schon… ist doch auch völlig egal jetzt. Wir sind sie los und gut.<< erwiderte eine dagegen völlig gelassene Lena, kühl und präzise auf den Punkt gebracht. Nach diesem kurzen Wortwechsel setze Lena ihren unterbrochenen Schritt fort und ging nach draußen. Klara folgte – das Gesicht gezeichnet von einem Ausdruck der Entgeisterung. Mit einem leichten Kopfschütteln versuchte sie das soeben erlebte vorerst aus ihren Gedanken zu vertreiben. Schließlich lag das Ende des Schultags schon in spürbarer Nähe. ‚Nur noch eine Stunde Bio und dann auf in die Freiheit!‘ motivierte sich Klara ziemlich erfolgreich selbst. Für Lena hingegen hätte es ruhig nochmal so lange gehen können, auch das hätte sie nicht gestört.
Wieder erfüllte das schrille Klingeln die Räume der Schule. Ein letztes Mal für Lena an diesem Tag. Ihr erster Schultag seit dem Unfall war vorüber und sie konnte nach Hause aufbrechen. Auf ihrem Heimweg begann sie wieder zu sinnieren. Ihre Hausaufgaben hatte sie schon in der Schule erledigt – „Pausenfüller“ wie Lena sie gerne nannte - und eigentlich war der Tag wie immer. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sie sich einfach mehr auf den Unterricht konzentriert und keinen Unsinn mehr angestellt hatte. So verging die erste Woche und Lena hatte sich an ihren Zustand gewöhnt. Für sie ging das Leben normal weiter, auch wenn sich ihre Eltern dazu gezwungen sahen, unzählige Anrufe abzuwimmeln und Lena davon nichts zu berichten. Auf diese Weise versuchten sie ihrer Tochter zu helfen und ihr jede „unnötige“ Belastung vorerst zu ersparen. Die nächste Woche begann und Lena wurde am Montag von ihrem letzten Gips befreit. Nun war sie, zumindest körperlich betrachtet, wieder ganz die Alte – oder besser gesagt erweckte es von außen den Anschein als sei es so. Ihr langweiliges, normales Leben konnte also weiter gehen. ‚Yeah! Da passiert mal was Aufregendes in meinem Leben und ehe ich mich versehe ist es auch schonwieder vorbei. Klasse…‘ Und natürlich dachte sie das, sie hatte ja schließlich keine Ahnung was tatsächlich noch alles auf sie wartete…
Unglücklicherweise war von Dienstag auf Mittwoch ein „kleines“ Problem mit der Stromversorgung ihres Stadtviertels aufgetreten und ihr Wecker war einer dieser Radiowecker die ständig am Netz hängen mussten um anständig zu funktionieren. Über eine Stunde war die ganze Gegend sprichwörtlich tot und Lenas Wecker bekam in dieser Zeit natürlich keinen „Saft“. Als der Strom wiederkehrte lief er ganz normal weiter, nur eben leider über eine Stunde im Verzug. Als Lena am nächsten Morgen von ihrem werten Stück mit den sanften Tönen eines aktuellen Popsongs geweckt wurde, ahnte sie zunächst nichts Schlimmes. ‚Noch sooo viel Zeit…‘ dachte sie bei sich und griff nach dem Buch, das sich förmlich selbst anbietend auf ihrem Nachttisch zur Schau stellte. Dan Brown‘s „Illuminati“. ‚Unglaublich, dass es Menschen gibt die diesen Quatsch tatsächlich glauben‘ schlug sie das Buch an Stelle des Lesezeichens auf. ‚Ein Geheimbund der alle großen Geschehnisse in der Welt lenkt? Also bitte, wenn’s sowas gibt dann find‘ ich’s früher oder später heraus, aber bis dahin ist es für mich nichts weiter als ein Gespinst um leichtgläubige Leutezu unterhalten. Aber hey halt mal… Ich lese es ja auch gerade oder nicht? Hmm, naja aber ich glaube ja nicht dran. Puh… der rettende Gedanke. So jetzt aber ab in’s Bad. Hoffentlich ist Larissa schon raus, sonst werde ich gleich wahnsinnig.‘ Das Bad war frei und auch sonst schien es im Haus überall ruhig zu sein. Zugegebener Maßen kam ihr das schon etwas seltsam vor, aber dennoch ließ sie sich nicht aus ihrem normalen Rhythmus bringen. Fix unter die Dusche, Haare waschen, föhnen, die Lotion drauf und ab in die frischen Klamotten. Volles Programm in unter 10 Minuten - das soll ihr mal einer nachmachen. Daraufhin die schon gepackten Schulsachen geschnappt und hinunter in die Küche ‘nen Kaffee und ‘nen Toast abstauben gehen und gechillt ein paar Minuten sitzen. Doch siehe da – niemand in der Küche! ‚Was ist denn hier los?!‘ der anschließende Blick auf die batteriebetriebene Küchenuhr verriet ihr ganz genau was hier los war: sie hatte verpennt und zwar ordentlich! Und natürlich hatte niemand dieses ach so vorbildliche Mädchen die niemals zu spät zur Schule kommt geweckt, da vermutlich alle davon ausgegangen waren sie hätte eine Freistunde. ‚Klasse Sache! Statt Kaffee und Toast bekomm ich heute Morgen ‘ne ordentliche Portion Stress, was für’n super Tausch!‘ Nur ein Gedanken kursierte jetzt noch in ihrem Kopf ‚So schnell wie möglich zur Schule.‘ Wie von der Tarantel gestochen schnappte sie sich noch im Vorbeigehen, ja mehr im Vorbeifliegen ihre Tasche und stürzte zur Haustür hinaus. Ein kurzer Gedanke an ihr Fahrrad rief Lena das traurige Bild eines seitlich von der Felge herabhängenden Schlauches in Erinnerung, welcher momentan jedweder Luft entbehrte. ‚Tja Haken dran und laufen so schnell wie’s nur geht.‘ Gesagt, getan. Lena begann zu rennen. Und sie rannte, rannte so schnell wie sie nur konnte. Und plötzlich begann sich die Welt um sie herum zu verzerren, fast so wie man es aus Science-Fiction Filmen kennt, wenn Raumschiffe zur Überlichtgeschwindigkeit übergehen. Binnen Sekunden und ohne eine Spur der Erschöpfung war sie vor dem Schulgebäude angekommen, nur um sich den Bruchteil einer Sekunde später, auf den harten betonierten Boden unter ihr gestützt wiederzufinden. ‚Was soll das?!‘ dachte sie, beinahe erschrocken über sich selbst. Dann wurde sie von einem unglaublichen inneren Zwang überwältigt. ‚Aaaarrrggghhh…MUSS...LIEGESTÜTZE…EINS…ZWEI…‘ und aus welchen Gründen auch immer, begann sie damit Liegestütze zu vollführen. Sie zählte – jeden einzelnen. Zuerst fiel es ihr noch leicht, doch mit jedem Mal wurde sie langsamer, bis sie schließlich drohte unter ihrer eigenen Last zusammenzubrechen. Der Schweiß lief ihr die Schläfen herab, tropfte auf den Boden unter ihr und immer öfter hatte sie fast nicht mehr die Kraft sich wieder von eben diesem nach oben zu drücken. Doch der Zwang tief in ihr drängte Lena dazu weiter zu machen und nicht aufzugeben. Sie fühlte sich geradezu so, als würde ihr Leben davon abhängen. Irgendwann, sie hatte schon vor Anstrengung vergessen weiter mitzuzählen, ließ der Zwang nach und sie wusste, dass sie es hinter sich hatte. Flach an den Boden geschmiegt lag sie dort und keuchte vor sich her. >>Endlich…<< pustete sie vor Erschöpfung >>...das wurde…wurde ja auch Zeit, verdammt…<< völlig außer Atem raffte sich Lena langsam aber sicher vom Boden auf. Eine nahegelegene Wand diente ihr als Stütze in ihrer Kraftlosigkeit und wie sie dort so lehnte, zog nach und nach wieder das Leben in sie ein. Dann endlich konnte sie in Ruhe einen Blick auf die Uhr werfen. Zu ihrem Erstaunen erkannte sie, dass es eindeutig noch vor Unterrichtsbeginn war…
'Was zur Hölle geht hier ab?!'
-to be continued-