Die Spannung stieg immer weiter. Wer auch immer dort herunter kam, würde nun bald am oberen Treppenabsatz erscheinen. Ein mulmiges Gefühl beschlich Lucy. Ihre innere Stimme, ihr Instinkt oder wie auch immer man es nennen wollte, schlug so stark aus, dass ihr die Nackenhaare zu Berge standen. Weitere schwere Schritte, dann traf ein gepanzerter Stiefel in Lucys Sichtfeld, wobei eine kleine Staubwolke aufwallte. In dem Moment reagierte etwas in Lucy. Ein Reflex, der ihr sagte, was nun nötig war, um die nächsten Augenblicke zu überleben.
Ihre Stimme war nur ein Hauchen, doch jeder im Raum vernahm sie.
"Weg!" Ihr Kopf nickte in Richtung des Ganges, der weiter zu ihrem Ziel, der Absturzstelle, führen würde. Es waren keine weiteren Worte nötig. Die anderen verspürten entweder ebenfalls den Drang sofort von hier zu verschwinden oder sie vertrauten einfach auf Lucys Urteil. Jedenfalls sputeten sie sich ihre Stellung zu verlassen und den Raum zu räumen. Beim Zurückblicken sahen sie noch, wie mehrere gepanzerte Gestalten die Treppe herunter kamen. Was Lucy von deren Bewaffnung erkennen konnte, lies erahnen, dass es eine gute Idee gewesen war, zu türmen.
Sie eilten weiter. Dabei jederzeit gerade so schnell, dass sie nicht kopfüber in irgendwelche Hinterhalte stürzen würden, aber hoffentlich auch nicht von den Gepanzerten eingeholt werden würden. Sie hatten gerade mit eiligen Schritten eine Ecke umrundet, wobei Lucy das Schlusslicht bildete, da erklang ein Knacken. Der Boden, eine morsche Sperrholzplatte, gab unter Lucys Gewicht nach. Mit einem erschrockenen Aufschrei verschwand sie durch einen Spalt im Betonboden.
Der Aufprall presste ihr die Luft aus den Lungen, vor ihren Augen tanzten Sterne und sie war sich sicher, sich eine Platzwunde eingehandelt zu haben. Sie lag auf dem Rücken krum auf einigen Trümmerteilen. Licht fiel über ihr durch das Loch, durch das auch sie gekommen war, in den Kellerraum hinein und strahlte die Staubpartikel an, die durch Lucys Sturz aufgewirbelt worden waren.
"Autsch..." Sich vorsichtig bewegend prüfte Lucy, ob ihr auch nichts geschehen war. Alles tat weh, doch es schien nichts gebrochen. Treppelnde Schritte kamen auf das Loch in der Decke zu, dann schwang sich Norbert vor die Öffnung um herab zu schauen.
"Lucy! Alles klar bei dir?"
Norbert hatte einen ganzen Haufen Staub und Putz durch das Loch geschoben, als er sich an dessen Rand gelegt hatte. Der Staub war auf Lucy gestürzt und hätte sie schlimm husten lassen, wenn sie ihre Maske nicht besessen hätte. Mit einer schmerzenden Handbewegung wischte Lucy den Staub von ihre Maske.
"Jaja, alles in Ordnung Norbert."
"Gut. Wir helfen dir rauf. Einen Moment." Versprach Norbert, der Anstalten machte, nach einem Weg nach unten zu suchen. Von irgendwo in der Nähe waren Schüsse zu hören. Dennoch schien Norbert entschlossen sie herauf zu holen.
"Nein. Verschwindet. Hier unten finden sie mich nicht, solange ihr mich nicht verratet, indem ihr da oben rumlungert. Lauft einfach vor. Wir treffen uns an der Absturzstelle. Das ist das beste für mich."
Norbert schien nicht einverstanden mit diesem Plan, doch die Stimme Phils lenkte plötzlich seine Aufmerksamkeit ab.
"Verdammt. Genug diskutiert! Da kommen die Rumpelmänner." Mit einem frustrierten Gesichtsausdruck zog Norbert sich von dem Loch zurück. Lucy hörte nur noch, wie seine und die Füße der anderen davon eilten.
Unter Schmerzen bemühte sie sich von dem Licht, das in den Keller fiel, fort zu kommen und sich in die Dunkelheit zu legen. Mit einer Hand zog und entsicherte sie eine ihrer UMPs, die sie dicht an den Körper drückte und auf das Loch richtete. So leise wie möglich wartete sie ab.
Wenige Augenblicke später knirschte der Boden über ihr. Erneut rieselten Staub und Putz durch das Loch herab. In diesem Moment war Lucy überaus dankbar für ihre Maske. Ansonsten hätte sie wohl genießt und sich verraten. Schwere Schritte zogen an dem Loch vorbei. Dieses mal zählte Lucy genau. Eins... Zwei... Drei... Vier... Fünf! Fünf Gestalten, die jede für sich bereits so schwer schienen, wie ein Kleinwagen. Dann waren sie vorbei.
Erleichtert atmete Lucy auf. Das war ein bisschen zu knapp gewesen. Noch immer tat ihr alles weh und unter ihrer Maske lief ein Blutrinnsal durch ihre Haare. Um den Schmerzen in ihrem Körper Herr zu werden schloss Lucy die Augen. Ruhig suchte sie nach ihrem inneren Mittelpunkt. Als sie ihn gefunden hatte, lies sie ihren Geist für einen Moment treiben. Erst langsam, dann immer schneller verblassten ihre Schmerzen zu einem dumpfen Hintergrundgefühl.
Nun etwas entspannter öffnete Lucy ihre Augen wieder. Vorsichtig richtete sie sich auf dem am Boden verteilten Schutt auf und begann damit sich umzusehen. Bei dem Raum handelte es sich wohl um ein ehemaliges Kellerbüro. Unter ein paar Betontrümmern lag ein verbogener Spind voller zerfledderter Akten, daneben lag ein demolierter Bürostuhl mit einer fehlenden Rolle. Etwas schräg gegenüber stand ein billiger Schreibtisch, der zur Hälfte von einer Schutzschicht bedeckt war. Auf einer seiner Kanten lag noch ein Heftklammerentferner im Snoopy Design.
Der einzige Ausgang, außer dem Loch, war ein etwa einen Meter breiter Gang, der vollkommen dunkel war. Ein Blick in den Gang lies Lucy schaudern und zurückweichen. Eigentlich hatte sie nicht im geringsten Angst vor der Dunkelheit. Doch die gähnende Finsternis des Korridors lies sie erschaudern und vor ihm zurückweichen. Sie hatte eben noch erwogen zu versuchen den Keller durch den Gang zu verlassen. Doch ein Gefühl überkam sie, dass sie nie wieder aus dieser Finsternis zurück kehren würde, wenn sie sie erst einmal betreten hatte. Und dennoch... sie konnte ihren Blick nicht von der schwarzen Öffnung abwenden. Irgendetwas zog sie magisch an und zwang sie hinzusehen, auch wenn sie das Gefühl hatte mit jeder Sekunde, die sie hinsah, würde ein fürchterliches Monster ihr durch die Dunkelheit immer näher kommen. War da ein Bewegung im Dunkel und das dort ein paar funkelnder Augen? Der nach Moder und Verwesung riechende Lufthauch, der ihr dort entgegen kam, war das der Atem des Scheusals, das hechelnd immer näher kroch? Dieses Tapsen von Pfoten: Ratten oder etwa doch...?
Wohl kaum. Nahezu amüsiert wandte Lucy endlich den Blick ab. Keine Bruchteilsekunde später schälte es sich aus der Dunkelheit. Groß wie ein stehender Bär, mit schwarzem Fell, bluttropfenden Hauern, Mäulern am ganzen Leib und einem einzigen Auge, das starr auf Lucy gerichtet war. Sie hatte keine Zeit zu reagieren. Das Ding sprang sie an und warf sie zu Boden. Ein Hieb der Pranke des Ungeheuers schlitzte Lucys Kleidung auf, dann vergrub die Bestie sein größtes Maul tief in ihrem Brustkorb, um von ihrem Inneren zu fressen. Zwischen den Kiefern des Monsters brachen und platzten ihre Rippen und Organe auseinander wie Spielzeug. Fest im Griff des Scheusals trat und schlug Lucy minutenlang kreischend um sich, bis sie schließlich erschlaffte und wimmernd in den Tod glitt.
Mit einem Ruck kam Lucy hoch. Sie war schweißgebadet und zitterte am ganzen Körper. Tränen standen ihr in den Augen und liefen ihre Wangen hinunter. Noch immer war sie in diesem Keller, nur einen Meter von der Öffnung des Tunnels entfernt. Lucy richtete ihren Blick auf ihre mit weißem Staub bedeckten, behandschuhten Hände, die noch immer wie beim Tremor zitterten. Ihr ging auf, dass sie laut geschrien hatte. Mittlerweile hatte ihr Verstand den Schluss gezogen, das Opfer einer Halluzination geworden zu sein, doch ihr Körper war noch nicht ganz zu dieser Erkenntnis gelangt. Noch nie hatte Lucy eine so intensive und zugleich grausame Halluzination erlebt. Es hatte sich alles so echt angefühlt. Der Griff des Monsters, der Biss tief in ihren Brustkorb, die Schmerzen im ganzen Körper und das Gefühl aus dem Leben zu scheiden. Noch immer benommen kam Lucy der Gedanke, woher sie wohl wusste, wie es sich anfühlte zu sterben. Immerhin lebte sie ja noch. Konnte man etwas halluzinieren, von dem man nicht wusste, wie es war?
Mit einem Schaudern verwarf Lucy diesen Gedanken. Sie musste hier raus. Ihre Schreie hatten vermutlich die Aufmerksamkeit von irgendwem auf sie gelenkt. Wenn dieser 'irgendwer' hier ankam, wollte sie bereits weg sein.
Eilig stellte sie den Bürostuhl unter dem Deckenloch auf. Das fehlende Rad glich sie mit einem kleinen Betonstück aus. Sehr vorsichtig stieg sie dann auf die Sitzfläche des Stuhls. Die Konstruktion schwankte und wackelte bedrohlich unter ihr. Mit einem mutigen Satz stieß sie sich vom Stuhl ab. Ihre Hände griffen nach dem Rand des Loches. Ihre linke Hand rutschte ab, doch mit den Fingern der rechten konnte sie sich halten. Die Kraft, die nun auf ihren Fingern und auf ihrem Arm lasteten, war überwältigend. Alle die Schmerzen, die Lucy zuvor losgeworden war, stießen bei dieser Belastung wieder hervor. Schweiß lief von ihrer Stirn in ihr Gesicht. Dennoch brachte sie die Kraft auf auch mit der anderen Hand an den Rand zu fassen und sich mühsam daran hoch zu ziehen. Sie atmete stoßhaft und spürte, wie ihre Arme vor Anstrengung zitterten. Dann hatte sie es geschafft einen Arm über die Kante zu ziehen und sich auf ihm abzustützen. Der andere folgte sofort. Somit hatte Lucy einen Punkt erreicht, an dem das Schlimmste überwunden war. Sie wollte sich gerade höher ziehen, da fiel ihr Blick auf etwas direkt vor ihr. Ein paar Füße in schweren Stiefeln, wie Hafenarbeiter und Bauleute sie trugen. Langsam wanderte ihr Blick aufwärts.