Christliche Elemente
Außerhalb der Gralsromane gibt es eine kirchliche Überlieferung, die Josef von Arimathäa mit dem Kelch in Verbindung bringt. Diese geht auf den Bischof Amalarius von Metz zurück († um 850), der anfing, die Abendmahlsfeier allegorisch zu interpretieren. Der Altar wird hier das Grab Christi, das Altartuch das Leichentuch etc. Fassbar wird diese Überlieferung in Theologen des 12. und 13. Jahrhunderts wie Rupert von Deutz, Hildebert von Tours und William Durand. Von diesen wiederum hat Robert de Boron sein Gralsmaterial übernommen (vgl. Allen Cabaniss: Studies in English, 1963). In der Figur des Josef von Arimathäa kommt eine christliche Strömung zum Ausdruck, die abseits der offiziellen Glaubensrichtung steht. Er repräsentiert ein fernes Echo des Urchristentums, das ohne Amtskirche auskam, und das im Bild der Gralsgemeinde und ihrer Kulthandlung um das Gralsgefäß weiterlebt. Um seine Person herum verkörperte sich die neu aufkommende Strömung der Mysterienfrömmigkeit (etwa seit dem 8. Jahrhundert), die erst zur Zeit ihrer Unterdrückung durch die offizielle Kirche in die literarischen Zeugnisse eingegangen ist.
Sehr früh verband sich der Gral mit der christlichen Tradition der Eucharistie: Der Gral wurde als der Kelch verstanden, den Christus beim letzten Abendmahl mit seinen Jüngern benutzt hat und in dem Josef von Arimathäa das Blut Christi unter dessen Kreuz aufgefangen hat, wie schon früh in apokryphen Evangelientexten erzählt wurde. Der Gral stellt sich damit als eine der zahlreichen mittelalterlichen Blut-Christi-Reliquien dar (Longinuslanze, Turiner Grabtuch, Schweißtuch der Veronika, Eucharistie-Wunder von Lanciano, Blutwunder des Januarius in Neapel).
Ähnlich wie diese Traditionen gehört die Entstehung der Gralslegende mentalitätsgeschichtlich in die Entwicklung der zunehmenden Abendsmahlsfrömmigkeit des 12./13. Jahrhunderts. In dieselbe Zeit fallen auch die Formulierung und Dogmatisierung der Transsubstantiationslehre auf dem Vierten Laterankonzil (1215), die Entstehung des Fronleichnamfestes (1264 von Papst Urban IV. zum Fest der Gesamtkirche erhoben) und die Verdrängung der Kelchkommunion durch Laien (verboten erst 1415 auf dem Konzil von Konstanz, aber schon im Mittelalter zunehmend den Priestern vorbehalten, um die Gefahr versehentlichen Verschüttens des Blutes Christi zu vermeiden).
Die in Gralslegende, Transsubstantiationslehre, Fronleichnam (Fest der leibhaften Gegenwart Christi im Altarsakrament) und Priesterkelch sich ausdrückende Vorstellung von der substanzhaften Gegenwart des Blutes Christi im Abendmahl und seiner Heilswirkung ist geistesgeschichtlich von der scholastischen Hauptkontroverse im Streit zwischen „Realismus“ und „Nominalismus“ bestimmt, dem sog. „Universalienstreit“ - der sich übrigens literarisch in dem Roman „Der Name der Rose“ von Umberto Eco spiegelt.
Keltische Elemente
Wie in die Artusromane sind auch in die Gralslegende alte keltische Motive eingeflossen.
Es existiert eine enge Verbindung zwischen dem Mythos des Heiligen Grals und den verschiedenen Legenden, die sich um König Artus und die Ritter der Tafelrunde ranken. Die Geschichte um das verlorene Paradies und die folgende Gralssuche als der Versuch, das Paradies wieder zu erlangen, stehen häufig im Mittelpunkt der Artuslegenden. Sie bilden oft den Hintergrund für zahlreiche andere Legenden, so z. B. auch für die Geschichte des Zauberers Merlin, die Lebensgeschichte Lancelots oder die Erzählungen von der Fraueninsel Avalon.
Auch das Speisewunder des Grals wird auf Vorstellungen von einem magischen Trink- oder Füllhorn in der keltischen Mythologie zurückgeführt.