„Schach.“
Die vernarbte Hand des Mannes rieb nachdenklich das behaarte Kinn, während die Frau sich mit einem süffisanten Lächeln in dem mit altmarcischen Schnitzereien versehenen Holzstuhl zurücklehnte und auf den Zug ihres Gegners wartete. Mael schien überrascht, dass das Spiel so schnell verlaufen war. Doch die Verwunderung lag auf dem Schach, welches er nicht hatte vorhersehen können. Sein letztes Spiel lag schon einige Zeit zurück, aber so miserabel, wie er sich jetzt anstellte, war er in seinen Erinnerungen nicht gewesen. Obwohl Mael immer noch nachtragend wegen der Streitdiskussion gewesen war, so verblasste diese Abneigung bei dem Spiel. Die Tatsache, dass sie sich nicht dumm anstellte, beeindruckte ihn außerdem.
„Sie stellen sich äußerst geschickt an, Offizier“, sagte er nach einiger Zeit gewissenhaftem Nachdenken und holte seinen König aus dem Schach. Sein Zug hatte offensichtlich wieder ihre Aufmerksamkeit angezogen. Sie beugte sich zu dem Brett hinunter und fast beiläufig fiel Maels Blick auf ihre vollen Busen. Glücklicherweise befand sich dieser in einer Höhe zwischen seinen Augen und dem Brett, so dass sich der Kapitän in Sicherheit wog.
„Achten Sie auf das Spiel, Kapitän. Sie haben mich bisher noch nicht Schach setzen können“, sagte sie ernst und änderte die Position ihres letzten verbliebenen Läufers, ohne ihn dabei anzusehen.
Mael wollte auf dieses Kommentar reagieren, entschied sich aber schließlich zu schweigen.
„Sie könnte auch etwas anderes gemeint haben“, dachte er und blickte wieder auf das schwarzweiß karierte Brett. Es war ein schönes Schachspiel, die auf einen begabten Holzschnitzer hindeutete, soweit Mael das beurteilen konnte. Die Verzierungen um das mittige Karo und elegant geformten Figuren gefielen ihm sehr gut. Nach seinem nächsten Zug hatte er mehr Zeit, so dass Mael über die vergangenen Stunden nachdachte.
Das letzte Gespräch mit der Piratin Lebia Semirage hatte ihm einen weiblichen Anführer von Entermanövern eingebracht, was er auch ausnutzen würde. Seine Befehle waren klar und deutlich gewesen: Sie sollte trainieren, um wieder bereit für mögliche Kämpfe zu sein. Auch ihr gab er die Erlaubnis, das Waffenlager frei zu gebrauchen. Sobald sie wieder einigermaßen in Übung war, sollte sie sich bei ihm melden. Er hoffte, dass sie sich noch als nützlich erweisen würde, nach der langen Zeit im Gefängnis. Wer weiß, welche seelischen und körperlichen Wunden sie erlitten hatte.
Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass bald die Dämmerung eintreten würde. Sobald er das Schachspiel hinter sich hatte, würde er befehlen die Mehrheit aufwecken zu lassen. Obwohl sie sich noch in altmarcischen Luftgebieten befanden, so konnte man sich dennoch nie ganz sicher sein. Mael mochte keine Überraschungen und vor allem keine von der schlechten Sorte.
Eleanor machte ihren nächsten Zug, der Mael wieder zwang sich auf das Spiel zu konzentrieren. Es war ein kniffliger Zug von ihr und Mael bohrte in seinem Kopf nach einer Lösung, um ein ihn betreffendes Schachmatt abzuwenden. Das Verlieren war nicht unbedingt seine Stärke, wohl aber das Gewinnen. Während seine Augen das Brett auf und ab wanderten, verloren sich seine Gedanken an einen der Gefangenen. Der weißhaarige Mann, der Eidos erwähnt hatte, ging ihm nicht aus dem Kopf. Es interessierte ihn, wie ein Mann, der einst unter altmarcischer Flagge gesegelt war, plötzlich auf die schiefe Bahn geraten konnte. Sobald das Spiel beendet war, würde er auch diesen Mann zu sich rufen und sicherstellen, dass er mit ihm allein sein würde. Obwohl Eleanor Sánchez durchaus ein reizvoller Anblick war, so wollte er dennoch ohne ihre Anwesenheit in die Vergangenheit eintauchen.
Nachdem Mael seinen Zug beendet hatte, verschränkte er die Arme und wartete gespannt auf Eleanors Reaktion.
Als die Piratin Lebia in das erste Unterdeck kam, entdeckte sie eine kleine Menschentraube um zwei Männer, die offensichtlich das Interesse einiger Gefangener und Matrosen auf sich gezogen hatten. Sie hatte der Waffenkammer einen Besuch abgestattet, um sich kurz darauf eine Mahlzeit zu holen. Mit dieser in der Hand war sie schließlich zum Unterdeck runtergestiegen. Da sie ihr Essen verspeisen wollte, entschied sie sich, dass ein wenig Unterhaltung nicht schaden würde.
Als sie es sich auf einem Holzfass gemütlich gemacht hatte, lauschte sie aufmerksam dem Gerede vor ihr. Sie konnte auch Cassian, der in seiner Hängematte lag und den Kopf auf einem Arm aufgestützt zuhörte, und Benita, die in einer anderen Hängematte sitzend eine Katze auf ihrem Schoß streichelte, sehen. Beide schienen ebenfalls so interessiert wie die restliche Ansammlung von Menschen zu sein. Mit dem Löffel im Mund spitzte sie ihre Ohren für das Gerede des altmarcischen Matrosen.
„Ihr kennt Tabin nicht. Der Mann ist nicht ohne Grund an der Seite von dem großen Bernhoff gestanden“, der bärtige Mann klopfte sich an die Stirn, „Der Kerl hatte auch was in der Birne. Vielleicht haben einige von euch Piraten schon gegen ihn gefochten, auch wenn er selbst den Zweikampf gemieden hatte.“
Als Bestätigung seiner Worte nickten vereinzelt Piraten.
„Das Schlimme ist also nur seine Mannschaft, da ihm sehr gute Männer mitgegeben wurden.“
„Und warum?“, fragte einer der Piraten.
„Das“, sagte der Mann, „Das weiß keiner so genau. Irgendeine Mission oder so etwas ähnliches.“
„Was ist nun so schlimm an seiner Mannschaft?“
„Die Befehlshaber.“
Ein vernarbter Pirat mit einer Augenklappe verschränkte die Arme und nickte zustimmend. Aus seinem kaum mit Zähnen gefüllten Mund kamen Namen, die ernst und verbittert ausgesprochen wurden.
„Edward und Robert Flint.“
Die Namen zeigten offensichtlich Wirkung bei einigen der versammelten Piraten, so dass ihre Gesichtszüge hart und die Lippen aneinander gepresst wurden. Man konnte bei genauerem Studieren ihre auftauchenden Erinnerungen, die für jene Piraten unangenehm zu sein schienen, an diese beiden Männer an ihres Miemenspiels erkennen.
Ein weißhaariger Mann, der auf dem Holz am Boden saß und von den Soldaten als Sorin Memnach bezeichnet worden war, merkte bei den genannten Namen auf.
„DIE Flint-Brüder?“, fragte er emotionslos und doch interessiert in den Raum.
„Genau diese Zwei“, grummelte der vernarbte Pirat, „Jene, die gerne Andenken hinterlassen.“
Es wurde still und plötzlich ergaben die Narben an dem Piraten eine ganz andere Sicht. Lebia hatte unbewusst aufgehört zu essen. Mit dem Löffel in der Hand wartete sie darauf, dass jemand auf diese Wendung reagieren würde. Es war der altmarcische Matrose, der wieder zu reden begonnen hatte.
„Die Flint-Brüder sind harte Kerle, aber wie auch Tabin zweispaltige Helden. Mutige Kämpfer, aber grausam gegen ihre Feinde. Ich hoffe, dass wir diese Mission friedlich beenden werden. Ein Mensch will seine Helden bewundern... nicht bekämpfen.“