Mit einem brutalen Krachen barsten die Eisplatten, die sich nach kurzer Zeit in dieser polaren Region immer wieder auf der Oberfläche der Basis bildeten, und rutschten stückchenweise an den Wänden in den Abgrund hinunter. Der Pilot musste mit der Kontrolle des Pelicans kämpfen, da einer der häufigen Schneestürme wieder das Gebiet heimgesucht hatte und mit ganzer Gewalt an dem Flieger rüttelte. Jill prallte unangenehm mit dem Kopf gegen den Seitenpolster ihres Sitzes und erwachte aus ihrem unruhigen Schlaf. Die müden Augen reibend, blinzelte sie vom matten, gelblichen Schein im Inneren des Pelicans geblendet und ließ ihren Blick schweifen. Beinahe das gesamte Team war noch im Schlaf versunken, nur Cartwright, der wie ein eherne Säule unbeindruckt von den Flugschwankungen inmitten des Fliegers stand und sich an den Deckengriffen festhielt, schmauchte mit nachdenklicher Miene eine Zigarre von der nur noch wenig übrig war und schien wie ein Hirte über seine Schafe zu wachen. Ihre Blicke trafen sich und Cartwright schenkte ihr ein ernstes, aber freundliches Nicken, um sich dann wieder abzuwenden. Jill zuckte mit den Schultern und streckte gähnend ihre durch den unbequemen Schlaf steif gewordenen Glieder.
„Pelican Alpha 4 Delta 7, wir bringen unsere Leute nach Hause“, kam es aus dem Cockpit, gefolgt von einem spöttischem Grunzen von Cartwright.
Dieser hatte sich noch eine heftige Diskussion mit dem Piloten geliefert, wäre nicht Tatjana dazwischen gegangen und hätte den Streit geschlichtet, so würde mit ziemlicher Sicherheit jetzt Cartwright den Pelican steuern. Die Verweigerung zu Landen und ihr Team rauszuholen, hatte den Sergeant beinahe zum Durchdrehen gebracht. Das erste Mal, dass Jill ihren Sergeant so erlebt hatte.
Nachdem sie ihre Haltegurte gelöst hatte, erhob sie sich von ihrem Platz und schritt zum Cockpit, wo sie auf das stolze und mächtige Bauwerk blickte, was sich vor ihnen aufbaute.
Decoris. Der Anblick ließ ihre Haare aufstellen, überwältigt von der unfassbaren Größe und der darin schlummernden Macht, die unter den meterdicken Wänden verborgen war, nur darauf wartend freigesetzt zu werden. Beeindruckt beobachtete sie, wie sich die schweren Luken öffneten und das Innere offenbarte. Dutzende Menschen verfolgten ihre Aufgaben, wie das Warten der Kanonen, Weiterleiten von Befehlen oder Schrubben der Böden. Einer von ihnen winkte mit orangen Stäben und leitete dadurch die Landung des Fliegers auf der mit Lichtern erhellten Landeplattform. Durch den starken Wind erschwerte sich das Herabsenken des Pelicans, doch der Pilot wäre nicht in Decoris stationiert, wenn er dieses Problem nicht überwinden konnte.
Jill konnte sich noch an den ersten Besuch in Decoris erinnern, als General Warhurst entschieden hatte, dass die ISK einen neuen Standort benötigte. Sie verstand zwar noch nicht den Sinn dahinter, aber war zufrieden und aufgeregt über einen Tapetenwechsel. Sie wurde nicht enttäuscht. Decoris war die drittgrößte befestigte Militäranlage auf Morningstar Prime. Jill konnte sich gar nicht vorstellen, wie Jarrahe oder Carnos aussahen, wenn sie selbst dieses Bauwerk so faszinierte. Gleichzeitig erfüllte sie auch ein gewisser Stolz und Ehrfurcht vor ihrem Volk. Aus der Asche der Korporationen hatten sie ohne fremde Hilfe alles wieder aufgebaut und sogar verbessert. Decoris war ein ausgehöhlter Berg, aus dem früher Titan gewonnen worden war. Als die Quelle erschöpft war, dachte die NSA um und baute das Werk in eine militärische Basis um, die tausenden Soldaten und Zivilisten Schutz und Zuflucht bot. Da Decoris eine der älteren von den größeren Anlagen war, befand sich keine Manufaktur in dieser. Zwar konnten Fahrzeuge und Waffen repariert werden, aber eine Herstellung war nicht möglich. Über eine Tunnelanlage sowie durch Transportflieger bekam Decoris seine nötigen Ressourcen. Trotz dieser Einschränkung konnte die Basis gegen Belagerungen Monate, wenn nicht – so glaubte es Jill - sogar Jahre durchhalten und hatte ausreichend Räumlichkeiten, wie z.B. Bars, Fitness- und Trainingsbereiche, die das Leben in der Basis erleichterten.
„Setz dich hin, Jill, es wird gleich ruppig“, unterbrach sie Cartwright in ihrer Bewunderung und gesellte sich zu ihr ins Cockpit.
„Faszinierend, nicht wahr?“, sagte Jill sich auf den Kopflehnen der Pilotensitze abstützend.
„Wie man es nimmt. Wenn dieser verdammte Krieg nicht wäre, könnte ich ruhig darauf verzichten und jetzt ab mit dir nach hinten.“
Die Augen verdrehend, schob sie sich an ihrem Sergeant vorbei, während der Flieger zur Landung ansetzte. Mittlerweile war auch der Rest des Teams aufgewacht. Die auf einer Pritsche auf dem Bauch liegende Veivei schaute Jill, die ihr ein warmes Lächeln schenkte, schläfrig hinterher. Berry gähnte lautstark, was einige der Insassen wegen der Tonstärke eher missbilligten, aber nichts darauf erwiderten. Nero, der Kopf an Kopf an Matthew gepennt hatte, sah, wie Jill ihm provokant die Zunge raussteckte, was er mit einem genervten Seufzer beantwortete.
„Aufwachen Mädels, wir sind daheim“, Cartwright war aus dem Cockpit aufgetaucht und meldete sich hörbar an, „Ich will nicht, dass ihr wie ein müder Haufen da rausspaziert. Immerhin sind wir die ISK. Ein bisschen mehr Stolz wäre nicht schlecht.“
„Wir sind aber immer noch Menschen“, warf Jill ein und grinste breit. Sie hatte gute Laune, die sie deutlich präsentieren musste.
„Sachte, Mädel, oder du reinigst mir die Rüstungen und Waffen, bevor du dich ins Bett hauen darfst.“
Cartwright grinste zurück und lachte plötzlich auf. Der Rest des Teams lachte entweder mit oder grinste. Nero hingegen gönnte sich ein flüchtiges Schmunzeln. Die Stimmung hob sich merklich im Pelican. Alle waren froh endlich wieder daheim zu sein. Nur Dr. McNeal schien noch sehr geistesabwesend zu sein. Die Belastung des Kampfes konnte man ihr ansehen und Jill war sich sicher, dass Cartwright sie zu einem Seelendoktor schicken würde.
Schließlich setzte der Pelican auf der Plattform auf und öffnete seine Luken. Sanitäter mit Ausrüstung und Pritschen sowie Mechaniker erwarteten sie bereits am Boden. Veivei wurde sofort übernommen und der blonde Sanitäter aus dem Pelican gab einen knappen Bericht über den gesundheitlichen Zustand des Teams. Als sich die Reihen lüfteten, tauchte zur allgemeinen Überraschung der Truppe ein allzu bekanntes Gesicht auf.
„Team Sigma“, sagte John Forge und lächelte zufrieden, „Willkommen zurück.“
„Ich kann es nicht glauben!“
„Und wie du mir das glauben kannst, Kat.“
„Major Grant? Hier in Decoris?“
„Du hast mich schon richtig gehört“, sagte Jill und deutete auf das Bakkageschnetzelte hinter der Vitrine, das die Küchenhilfe sogleich mit einem Schöpflöffel in einen Teller beförderte. Dazu kamen noch ein paar Petersilienkartoffeln. Den gefüllten Teller aus der Hand der beleibten, älteren Frau mit der Plastikhaube und Schürze nehmend, folgte sie dem Strom der Soldaten in der Kantine zu den Nachspeisen.
Jills Verband am Kopf war noch immer da, aber nach dem Doktor konnte sie diesen schon morgen abnehmen. Es würde allerdings eine kleine Narbe bleiben, aber das war ihr egal. Ihre Haare hatten sie da eher interessiert. Glücklicherweise waren diese nicht mehr rot von ihrem eigenen Blut geblieben, worüber sie äußerst erleichtert war. In ihrer auffälligen Frisur steckte einiges an Arbeit drinnen und einen glattrasierten Kopf hatte sie schon einmal gehabt. Sie konnte erstmal darauf verzichten.
Kat oder - um ihren vollen Namen zu nennen - Katherine bemühte sich mehr oder weniger ihre Aufregung zu unterdrücken. Ihre Ehrfurcht und Bewunderung für Major Grant war Jill schnell klar geworden, nachdem sie Poster, Ton- und Filmaufnahmen von seinen öffentlichen Auftritten gesammelt und sortiert in Kats Behausung gesehen hatte. Jill hatte das nicht abgeschreckt. Dafür war Kat eine zu attraktive Frau mit einem gewissen, anziehenden Reiz.
„Ich muss ihn unbedingt kennenlernen, Jill. Du musst mir helfen, bitte!“, flüsterte ihr Kat beinahe flehentlich zu.
Die 28 jährige Sanitäterin lernte Jill während der Behandlung ihrer Verwundung von der letzten Mission kennen. Sie war eine aufgeweckte, lebensfrohe Frau, was sich aufgrund eines tragischen Vorfalls nicht zu ändern schien. In der vor kurzem eingenommen Stadt Harakon war ihre Familie vermisst gemeldet worden und bisher ohne weitere Informationen seit einigen Monaten geblieben. Wie sie damit fertig wurde war Jill immer noch unbegreiflich.
Sie drehte sich zu Kat, die mit ihren dunkelblauen Augen träumerisch ins Leere starrte, während ihre dünnen, rabenschwarzen Haare, die zu einem Kopf gebunden waren, im Schein des strahlend weißem Lichts in der großen von Essgeräuschen und Unterhaltungen erfüllten Kantine glänzten. Offenbar dachte Kat über das möglichen Treffen mit dem berühmten Major nach, was Jill auf eine kindliche Weise amüsierte.
„Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Du bist eine normale Soldatin, Kat, wer weiß, vielleicht bist du bei der Begrüßung anwesend.“
„Du hast keine Ahnung, wie aufgeregt ich bin. Ich würde durchdrehen, wenn ich ihn nicht sehen könnte!“
Als ob das nicht so ersichtlich wäre, dachte sich Jill schmunzelnd.
„Ich kann's mir vorstellen...“
Nachdem sie ihr Tablett mit Getränken und Speisen bedeckt hatte, stellte sie sich den vielen langen Tischen, von denen die Meisten bereits besetzt waren. Im Gegensatz zu der Mehrheit der Soldaten hatte die ISK mehr Erfolg beim Finden einer freien Sitzmöglichkeit. Ein paar Tische weiter, erreichte sie den ISK-Bereich, der sich direkt an der Scheibe befand, wo einer der großen Fischtanks verlief und man den Tieren ebenfalls beim Essen zusehen konnte. Obwohl es so schien, dass sich die ISK absichtlich ausgrenzte – von ein paar Spezialisten wie den Reissern abgesehen – vermied es die breite Masse ihnen in die Quere zu kommen. Vielleicht war es der Respekt, der sie davon abhielt, oder sogar Furcht.
„Du hast dir ja kräftig was auf den Teller gelegt, Jill“, sagte Berry und versenkte einen vollen Löffel mit Bakkafleisch in seinem Mund.
„Ich hab auch mächtig Hunger!“, Jills Blick fiel auf Kat, die wortlos hinter ihr stand, „Willst du dich zu uns setzen?“
„Naja...“
„Wir beissen schon nicht“, lächelte Veivei ihr aufmunternd zu.
„Noch nicht“, kam es von Matthew, der sogleich einen Klaps auf den Hinterkopf von Berry erhielt.
Jill und Kat nahmen an dem Tisch Platz und begannen sofort mit dem Essen. An dem grauen Plastiktisch saßen zusammen mit den beiden, nur Berry, Veivei und Matthew. Eduards Abwesenheit überraschte Jill nicht sonderlich. Er saß für gewöhnlich bei den anderen Reissern. Einen Blick riskierend, beobachtete sie wie an dem Reisser-Tisch ein glatzköpfiger Kerl mit vernarbtem Gesicht mit seinem Messer gestikulierte. Es beschrieb eindeutig eine Tötung. Das musste Jill nicht einmal hören, so deutlich waren seine Handbewegungen. Von Nero und Tatjana fehlte allerdings jede Spur. Cartwright pflegte meistens später zu kommen, um, laut seiner Aussage, in Frieden speisen zu können.
„Wo sind denn Tatjana und Nero?“, sagte Jill mit vollgestopftem Mund, so dass sie sich selbst wunderte, überhaupt noch reden zu können.
„Veivei kommt gerade von der Krankenstation. Matthew und ich waren noch trainieren. Der Rest... Ich habe keine Ahnung... ihr vielleicht?“, antwortete Berry und schaute in die Runde, die ihm nur kopfschüttelnd begegnete.
Kat schien sich nicht mehr zurückhalten zu können.
„Ich kann es kaum erwarten den Major zu sehen", platzte sie plötzlich heraus.
„Wen? Major Grant?“, fragte Matthew.
„Richtig. Wen sonst?“
„Mich?“
„Pfff...“, machte Jill und zerdrückte eine Kartoffel mit dem Löffel.
„Sein Kommen hat mit Sicherheit seine Gründe“, sagte Berry nachdenklich kauend, „Gerade einer der besten Strategen taucht in Decoris auf. Das kann nichts Gutes heißen.“
„Jetzt mach ihr keine Sorgen, du Pessimist“, warf Veivei ein und hob ihr Glas zum Mund, „Ich bin gespannt auf diesen berühmten Mann. Bisher kenne ich ihn nur aus dem Fernsehen.“
„Apropos berühmter Mann...“, Matthew schluckte, „Unser Team soll sich um 18 Uhr zu John Forge begeben. Cartwright war sehr ausdrücklich, was das angeht.“
„Soviel zu meinem Pessimismus...“, sagte Berry und brachte den Tisch zum Lachen.