Tatjana musterte Berry mit kritischem Blick.
„Nun?“, fragte der Hühne nach kurzer Zeit, „Stelle ich Sie zufrieden?“
Die Antwort ließ ein wenig auf sich warten, nicht das ausprechen wollte, was ihr eigentlich auf der Zunge lag.
„Was eure Leistung auf dem Schlachtfeld angeht, ja“, sagte sie, „Doch eine Paradeuniform anlegen, tja, das ist noch verbesserungswürdig, Herr Burton.“
„Verstehe. Würdet Ihr so freundlich sein und die Fehler beheben?“
„Das hatte ich auch ohne Bitte vorgehabt.“
Mit geschickten Händen strich Tatjana dort eine Falte glatt, steckte einen Orden da richtig an und entfernte hässliche Fussel. Wenige Augenblicke später besah sie sich stolz wie ein Künstler sein Werk die Uniform. Doch war Berry von dem Endergebnis beeindruckt.
„Alte Gewohnheiten kann mal wohl schwer ablegen, nicht wahr?“, bemerkte der Hühne und lächelte sie mit seinem bärtigen Gesicht an.
„Ich würde es nicht so bezeichnen, Burton“, sie warf einen Blick auf die Analoguhr an ihrem Arm, „Ich befolge einfach nur Regeln. So wie es ein Soldat auch tun müsste.“
Sie tippte mit ihrer behandschuhten Hand auf die Uhr, um Berry die Zeit, die sie noch hatten, zu verdeutlichen. Laut Cartwright, sollten sie sich ungefähr in einer guten Stunde im Besprechungsraum der ISK einfinden. Aus irgendeinem Grund wollte sie John Forge dort schon vor dem Eintreffen des Majors sprechen. Das mulmige Gefühl einer bevorstehenden, äußerst unangenehmen Mission benebelte schon seit der Bekanntmachung des Besuches ihre Laune und stimmte sie nachdenklich. Bisher hatte sie noch keine Gelegenheit dazu gehabt mit John darüber zu reden und ihre Vorahnung zu teilen. Gerade als sie Berry ihre Gedanken anvertrauen wollte, öffnete sich die Tür zu seiner Unterkunft.
Nero und Matthew betraten in vollster Paradeuniform den Gang und reagierten überrascht auf die Anwesenheit von Tatjana. Matthew pfiff beeindruckt über das Aussehen von der Sprengmeisterin.
„Sie sehen gut aus“, sagte er, noch damit beschäftigt seine Krawatte festzuziehen.
„Schmeichler.“
„Gern geschehen. Wollen sie uns nochmal überprüfen, bevor wir vor den Major treten?“, fragte Matthew schmunzelnd.
„So wie Sie aussehen? Ich glaube, dass ich das beim besten Willen nicht durchgehen lassen kann.“
Auch wenn die Brüder Einwände aussprachen, ignorierte Tatjana diese schlichtweg und korrigierte ihre Uniformen, wobei sie Matthews Krawatte mit einem Ruck etwas fester zog. Matthew japste kurz nach Luft, was Tatjana mit einem gespielt höflichem Lächeln zur Kenntnis nahm. Die beiden Brüder blickten hilfesuchend zu Berry, der jedoch ratlos mit den Achseln zuckte.
„Ich hab's auch versucht, Jungs. Haltet einfach durch“, antwortete er und zeigte ihnen aufmunternd einen hochgereckten Daumen.
Die pinkfarbene Blase wurde größer bis sie schließlich lautstark platzte und die Aufmerksamkeit von Veivei auf sich zog. Mit einem strengen Blick funkelte diese die unschuldig dreinschauende Jill, welche sich wie sie selbst an den Querstangen festhielt, an.
„Mensch... schmeiss das Kaugummi weg“, kam es beinahe empört von Veivei, die nach einem irgendeinem Papier in ihren Tasche suchte.
Jill bemerkte dies ohne ein Kommentar abzugeben. Seit sie einmal ein Kaugummi auf den Boden gespuckt hatte, sorgte offenbar jeder dafür ein Taschentuch oder etwas ähnliches mit sich zu führen, damit dies nicht mehr vorkam. Dabei hatte sie einfach nur den Mülleimer verfehlt, was ihr keiner zu glauben schien, besonders der Finder des Kaugummis selbst: John Forge. An die Standpauke erinnerte sie sich jetzt noch sehr detailiert sowie an das Schrubben des Ganges, wo das Kaugummi gelandet war.
„Mach dir keine Mühe, Lex. In diesem stickigem Ding gibt’s doch immer einen Müll...“, sagte Jill und suchte durch den vollgestopften Waggon nach einem Eimer, bis sie einen entdeckte, „Hey! Macht mal Platz, sonst spucke ich das Kaugummi einfach zwischen euch durch!“
Auf das schien keiner große Lust zu haben. Kurze Zeit später landete die feuchte, zähe Masse neben Plastik, Papier und anderem Unrat in einem metallischem Bottich.
„Wenn du das Zeug auf deine Paradeuniform bekommen hättest...“, begann Veivei ernst.
„Ich kann es mir vorstellen... Oh Mann, wenn noch mehr Personen einsteigen, platzt die Bahn. Können die nicht zu Fuß gehen?!“, stellte Jill genervt fest und versuchte sich mit den Ellenbogen etwas Freiraum zu verschaffen, was von den betroffenen Passagieren schweigend ertragen wurde.
Der ganze Tag ging Jill schon gegen den Strich. Den Aufwand, der in Decoris für den Besuch einer Person durchgeführt wurde, konnte sie einfach nicht begreifen. Zwar hatte sie ähnliches bereits schon erlebt, wie in Begleitung ihres Vaters auf Meetings, doch nicht in diesem Ausmaß und vor allem nicht in einer militärischen Basis. Jill war eine pragmatische Person. Wieso konnte der Tag nicht wie jeder ablaufen und der Person zeigen, wie es wirklich vorging, anstatt Perfektionismus vorzugaukeln? Über das Thema hatten Veivei und sie kurz diskutiert. Veivei gab es jedoch nach kurzer Zeit auf, sich mit der schlechten Laune ihrer Kollegin zu befassen und beendete kurzerhand die Diskussion. Danach waren die beiden Frauen sehr still geworden, was bis jetzt angehalten hatte. Jill presste eine Entschuldigung raus, die Veivei mit einem wortlosem Nicken zur Kenntnis nahm.
Quietschend kam die Bahn bei einer Haltestation zum Stillstand, wo ein paar Menschen ausstiegen und fast doppelt so viele versuchten ihren Platz einzunehmen. Dann setzte die Bahn ihren Weg ratternd fort. Zu der Zeit, in der Decoris noch Bergbau betrieben wurde, benutzte man schon diese Bahnen, damit die Minenarbeiter sich selbst und andere Dinge effizienter durch den Komplex transportieren konnten. Beim Umbau in eine Militärbasis erkannte man den Nutzen dieses Systems und gebrauchte es wieder. Die Bahn führte durch einige Bereiche von Decoris, wie zum Beispiel von den Unterkünften zu den Landeplattformen mit mehreren Zwischenstationen. Obwohl dieses Fahrgerät sich auch schon früher aus zwei bis drei Waggons zusammengesetzt hatte, so wurde außer einem die anderen nicht für Mineralien- oder Gesteintransporte verwendet. Stattdessen war in einem Waggon Platz für Sanitäter und ihre Patienten sowie für Lasten. Ebenso wurden die Bahnen nicht mehr durch einen Fahrer betrieben, sondern von einer Zentrale aus überwacht, wo ein Computersystem die meiste Arbeit machte. Menschen achteten nur darauf, dass es auch ordentlich ablief.
Schließlich erreichten die zwei Frauen ihr Ziel und quetschten sich durch die Passagiere, wobei Jill deutlich rabiater vorging als Veivei.
„Du glaubst gar nicht wie froh ich sein werde, wenn dieser Tag sein Ende findet!“, stieß Jill schnaufend aus und richtete ihre Uniform, die durch das Herauszwängen in Mitleidschaft gezogen worden war.
„Ich verstehe dich“, stimmte ihr Veivei zu, die ebenfalls ihre Kleidung in Ordnung bringen musste und dabei neben ihr den Gang entlangschritt, „Atme tief durch! Wir haben es bald hinter uns, da bin ich sicher.“
„Hoffentlich“, sagte die Hackerin zähneknirschend.
Sie erreichten als Letzte den leicht abgedunkelten Raum, wo ihr Team und zwei weitere vertreten waren. Cartwright lehnte mit verschränkten Armen an einer Wand und schien in Gedanken versunken zu sein, während der Rest von ihren Kollegen aufgeteilt hatten und sich mit anderen unterhielten. Die meisten anwesenden Gesichter kannte Jill bereits, doch es waren auch ein paar neue dabei. Gleichwohl diese nicht wie völlige Frischlinge aussahen.
Veivei trennte sich von Jill und schritt auf einen freien Platz zu. Unterdessen hatte Jill eine Freundin unter den Soldaten ausgemacht.
„Hey, Noa“, begrüßte sie ihre Freundin abgehackt und ließ sich neben ihr auf einen freien Stuhl fallen.
„Deine Laune hat sich ja richtig gebessert“, sagte sie und zeigte ihr markantes Grinsen, welches Jill jedes Mal an eine Hyäne erinnerte.
„Lass mich bloß in Frieden mit solchen Scherzen“, sie fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, „Ich will den Tag einfach nur hinter mich bringen.“
„Kopf hoch, Süße. Immerhin pfeifen dir keine Plasmaschüsse um die Ohren.“
„Wohl wahr...“
Jill ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihr Blick fiel auf den Holoprojektor, den John Forge bei ihrer letzten Missionsbesprechung benutzt hatte. Der große, massive Quader aus grauem, kalten Stahl spiegelte den Schein der langen Lampen auf seiner glatten, gläsernen Oberfläche, von der die Hologrammgrafiken dreidimensional hochgeladen und präsentiert werden konnten. Im Moment ruhte die Holofläche noch, aber Jill war sich ziemlich sicher, dass diese heute noch aktiviert werden würde.
Das Barret von ihrem Kopf ziehend, strich sich Jill geistesabwesend durch die Haare. Noa hatte sich abgewandt, da sie gemerkt hatte, wie schlecht die Laune ihrer Freundin war und eine Konversation dadurch eher einseitig verlaufen würde. Sie unterhielt sich mit einer Scharfschützin aus ihrem Team, Ellen Hawk, die eine heimliche Zuneigung zu Nero hegte. Früher hatte sie ihn gehasst, als er sie bei einem Wettschiessen knapp besiegen konnte. Doch in dem Fall zogen sich Gegensätze an und sie entdeckte irgendetwas in diesem arroganten Arschloch, was sie anzog. Laut Gerüchten war das nach einem Abend im Schießstand gewesen, wo sie Nero beim Üben ertappt hatte. Mehr Informationen konnte keiner aus ihr herauskitzeln, was an diesem besagten Abend zwischen den beiden Soldaten geschehen war, nur das Ellen sich in den Trottel verliebt hatte. Und mit Nero würde Jill nicht mal im Traum ein Gespräch starten, erst recht nicht wegen so einer für sie total uninteressanten Angelegenheit.
„Er sieht gut in der Paradeuniform aus, nicht wahr?“, hörte sie Ellen sagen und Jill spürte sofort den Drang sich zu übergeben. Offensichtlich spielte heute jeder verrückt.
Sie drehte sich zu dem weiblichen Raptor um.
„Ellen, warum sagst du es ihm nicht selbst?“, fragte sie mit einem vorgespielt freundlichem Lächeln, „Er steht doch gleich da hinten.“
„Ich... Wieso?“, fing Ellen an zu stottern.
Jill lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und setzte ihre Stiefel auf einem vor stehenden Sitz ab.
„Erstens muss ich deinen Schmalz nicht mehr ertragen und zweitens geht dem eingebildeten Kerl dann sicher einer ab“, sie grinste Ellen an, „Und das ist doch genau dein Wunsch, oder täusche ich mich?“
Die Scharfschützin verengte ihre Augen zu drohenden Schlitzen.
„Halt die Fresse, Jill.“
„Hey, Mädels“, ging Noa dazwischen, „Ganz sachte jetzt. John wird nicht sehr glücklich sein, wenn er sieht, wie ihr versucht euch gegenseitig die Rübe einzuschlagen.“
„Ich hab eh nicht angefangen“, schnaubte Jill und wollte gerade ihren Platz wechseln, da brüllte Cartwright schon durch den Saal.
„Aaaaachtung! Stillgestanden!“
Mit einem Schlag kehrte Ruhe ein. Jeder ISK'ler stellte sich mit seinen Teamkollegen zusammen und stand mit geradem Rücken aufrecht vor seinem Stuhl. In der Stille hörte man das Aufschlagen von Stiefelsohlen, die über den Linoleumboden stapften, bis eine große, stattliche Person vor den Soldaten zum Halt gekommen war. Ohne ein Wort zu sagen nahm John Forge jeden Anwesenden scheinbar genau unter die Lupe, dann begrüßte er die drei Teams.
„Willkommen, Soldaten. Ich hoffe, es geht euch gut?“
Es war eine Frage, die keine Antwort verlangte. Er war sicher, dass es allen gut ging. Mit einer Geste bedeutete er den versammelten Soldaten entspannt zu stehen.
„Wir haben heut einen besonderen Besucher zu Gast. Euch allen ist er bekannt, einige haben sogar das Glück gehabt ihn persönlich zu treffen. Heute bekommt ihr alle die Möglichkeit dazu“, er machte eine Pause, in der er einen Dokumentmappe auf den Holoprojektor ablegte, „Das ist jedoch nicht der Grund, warum ich euch um diese Zeit zu mir gerufen haben.“
„Jetzt wird’s spannend!“, flüsterte Noa Jill, die sich ein Grinsen verkneifen musste, zu.
„Team Sigma hat am 22. Dezember die Xenowissenschaftlerin Dr. Alice McNeal von dem Feind befreien können und brachte sie zu uns. Sie hat uns wichtige Informationen von ihrer Arbeit offenbart, die den Kampf gegen die Terraner in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen. Laut ihrer Aussage, könnte es den Krieg verändern.“
Ein kurzes Raunen ging durch die Soldaten, endete aber schlagartig durch das Weiterreden von Forge.
„Major Grant ist nicht hier, um mal nach dem Rechten zu sehen, sondern genau wegen dieser Entdeckung von Dr. McNeal. Ihre Forschungsergebnisse wurden überprüft und bestätigt. Die Operation, die in Gang gesetzt wurde, verlangt drei ISK-Teams. Sigma, Omikron und Rho, ihr seid für diese Operation ausgewählt worden.“
Jill ließ sich nichts anmerken, aber ihre Augen spiegelten ihre Gedanken wider. Die Anforderung drei vollen Teams in eine Operation zu werfen, geschah zum ersten Mal in ihrer Dienstzeit. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie über die möglichen Einsätze spekulierte, die man von drei Teams verlangen könnte. ISK Soldaten waren kostbar und jemand wollte definitiv sichergehen, dass diese Mission funktionierte.
„Ihr seid drei der wenigen Gruppen, die noch von sich behaupten können, dass sie viele Veteranen bei sich haben. Doch nicht nur das, sondern auch eure Fähigkeiten sprechen für euch. Diese Mission wird euch weitaus mehr fordern, als jede, die ihr bisher durchgeführt habt. Ich...“
Forge stoppte abrupt in seiner Rede, weil Cartwright von seinem Platz gewichen war und zu ihm marschierte. Im Flüsterton tauschten sich die beiden für einen Moment aus, was Jill nutzte, um Veivei einen ratlosen Blick zuzuwerfen. Mit einem Seufzer bedankte sich Forge und wendete sich wieder seinem Publikum zu.
„Ich will, dass ihr noch alle für einen Moment im Landungsbereich bleibt, nachdem die Begrüßung abgeschlossen wurde“, sein Blick richtete sich auf die Sergeants, die ihm zunickten, „Ich habe euch noch was zu sagen.“
Er nahm seine Unterlagen auf, reichte sie Cartwright und lächelte dann seine Soldaten flüchtig an.
„Und jetzt, machen wir uns auf den Weg einen planetaren Helden zu empfangen!“
Es klang beinahe sarkastisch.
Das Areal bei den Landeplattformen war neben den Lagerhallen für Terradyns und sonstige Fahrzeuge das weiträumigste in der ganzen Basis, da nicht nur kleine Jäger in Decoris stationiert worden waren, sondern auch große Transportflieger. In dieser Halle reihten sich hunderte Soldaten in sauberen Linien nebeneinander, während ihre Sergeants noch zwischen ihnen durchgingen, um das Äußere jedes Einzelnen nochmal genaustens zu überprüfen. Jill war eine von diesen Geprüften und beobachtete, wie Cartwright sie misstrauisch beäugte.
„Ich habe es mir schlimmer vorgestellt“, kam es schließlich von ihm.
„Dass ich nackt komme?“
„Dass Sie gar nicht kommen.“
„Ich war versucht.“
„Dessen bin ich mir sicher...“
Er wandte sich ab und schritt an der nächsten Person, Tatjana, ohne sie zu mustern vorbei. Ihr Ruf eilte Tatjana offensichtlich voraus. Mittlerweile hatte sich der Major um eine gute halbe Stunde verspätet, aber die Polarstürme bei Decoris waren dafür berüchtigt, dass kaum ein Pilot seinen Zeitplan exakt einhalten konnte. Daher schlug auch keiner Alarm, sondern blieb ruhig und wartete schlichtweg auf den Major.
Jill gähnte gelangweilt und blickte sich blinzelnd um.
Alle ISK'ler waren Zinnsoldaten gleich aufgestellt worden. Es war ein interessantes Bild mit vielen Facetten. Das Erste, was einem auffiel, waren die aufragenden Gestalten der Oger, die mit ihrer Größe und Masse viele merklich in den Schatten stellten. Danach kamen die ungeschlachtenen Reisser, von denen die Mehrheit die Narben in ihren Gesichtern scheinbar wie Trophäen präsentierte. Die Raptoren und besonders die Plünderer gingen fast unter, da sie öfter eher schlanker gebaut waren als ihre Kameraden.
Rechts von der ISK standen normale militärische Einheiten. Von ihnen waren nicht alle zugegen. Die dunkelblauen Uniformen, die sie angezogen hatten, schmückten sie aber schöner als das tiefe Schwarz, was die ISK trug. Ebenso prangte bei ihnen nicht der silberne Schädel auf den Schultern und der Brust, sondern die Zugehörigkeit innerhalb des Militärs, wie z.B. die Fliegerstaffel.
Insgesamt musste Jill zugeben, dass es ein beeindruckendes Bild abgeben würde, falls jemand auf die Idee kam, ein Foto zu schießen.
Die Stille, die in der Halle herrschte, wurde schlagartig durch die plärrenden Lautsprecher unterbrochen.
„Luke Sieben Bravo wird geöffnet! Luke Sieben Bravo wird geöffnet!“
Alle Blicke richteten sich auf die Luke, die sich schwerfällig bewegte, so als würde sie aus einem tiefen Schlummer erwachen. Es war für Jill jedes Mal ein Schauspiel, was ihr den beeindruckenden technischen Fortschritt, den die NSA ohne fremde Hilfe erreicht hatte, bewies. Schneeflocken wurden tobend in die Halle geschleudert und ein Hauch von beissender Kälte breitete sich aus. Der mächtige Wind, der von einem Sturm kündete, drang tief in den Raum ein und riss unachtsamen Soldaten die Kopfbedeckung ab. Die dadurch entstandenen Lücken in den perfekten Reihen schlossen sich jedoch bald unter den wütenden Rufen der Sergeants. Ein schwerer Pelikan gefolgt von zwei Jägern, die als Begleitschutz agierten, schwebte träge in das Innere der Basis. Vorsichtig tastete er sich vorwärts und setzte langsam auf der großen leuchtenden Plattform auf. Während die Luke sich wieder schlossen, begannen sich die Turbinen der Flieger zu beruhigen. John Forge und andere wichtige Persönlichkeiten von Decoris hatten sich entfernt, um zu dem Pelikan zu schreiten. Dieser zischte geräuschvoll auf und öffnete sein Hinterteil.
Die Idee brachte Jill zum Grinsen. Der Pelikan schiss sozusagen seine Insassen aus.
„Ein Heldenschiss“, dachte sich die Hackerin glucksend und hielt sich die Hand vor, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Veivei musste Jill anzischen und in die Seite knuffen, damit die Plünderer zur Beherrschung kam. Jill schluckte ihr Lachen runter und rieb sich die Tränen aus den Augen. Den drohenden Blick von Tatjana, den sie auf ihr spürte, ignorierte Jill gekonnt und ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das Schauspiel vor ihr.
Zwei auffallende Personen flankiert von Soldaten verließen den Flieger und wurden sogleich salutierend empfangen. Auf die Entfernung konnte Jill nur schwerlich erkennen, wer Major Grant war, die andere Person war für sie unbekannt. Die kleine Gruppe schritt sich leise unterhaltend auf die Soldatenreihen zu. Erst als sie nähergekommen waren, konnte Jill die fremde Begleitperson erkennen.
Eine braunhaarige Frau, um die vierzig Jahre, marschierte in einen dicken, eindrucksvollen Pelzmantel gehüllt neben Major Grant. Der Mund mit seinen reizvollen Lippen zog an einer elektronischen Zigarette und hauchte zarte Wölkchen, die sogleich in der riesigen Halle verschwanden, aus. Der Mantel lag auf ihren Schultern und musste sicherlich ein stolzes Gewicht haben, was der Frau aber nicht im Geringsten anzumerken war. Darunter trug sie eine militärische Uniform, die ihre weiblichen Formen sogar betonte, anstatt sie zu verstecken. Ihr Äußeres war absolut fehlerfrei, allerdings in einem ordentlichen Tatjana-Stil, wie Jill für sich selbst anmerken musste. Sie strahlte eine ebenso stolze Autorität wie Major Grant aus, doch schien ihre eher distanzierter zu sein. Ihr Blick war stahlhart und hatte schon viele Schlachten mitangesehen. Kein Lächeln zuckte über ihr ehernes Gesicht, während sie Major Grant in einem kurzen Abstand folgte und kritisch ihre Umgebung registrierte. Ihr Interesse schien eindeutig mehr der Anlage zu gelten als den Menschen.
Die Gruppe erreichte die ISK und Major Grant erfüllte wahrhaftig seinen Ruf. Eine Rede wollte er nicht halten und darauf hatte man auch alle eingestellt. Stattdessen zog er etwas anderes vor. Er schritt jede Reihe durch und blickte in die Augen jedes Soldaten. Manchmal begann er ein kurzes Gespräch, was oft mit einem Lächeln oder Lachen von einem der Sprechenden beendet wurde. Das gleiche Ritual führte er auch bei der ISK durch. Bei Berry kam er ein weiteres Mal zum Stehen.
Er musste seinen Kopf heben – so wie eigentlich jeder ihres Teams – um dem Oger ins Gesicht sehen zu können.
„Wenn alle unsere Soldaten solche Riesen wären, dann würden sich die Terraner in die Hosen scheissen“, sagte Major Grant anerkennend und blickte sich lächelnd um, als würde er nachsehen, ob jeder den Witz begriffen hatte, „Wie heißen Sie, Soldat?“
„Berry Burton, Major“, antwortete der Oger.
„Burton...“, Grant suchte seine Erinnerungen durch, „Mir kommt ihr Name bekannt vor... Sie waren schon einmal in einem Team, welches ich angefordert hatte, richtig? Letztes Jahr, wenn ich mich nicht täusche? Artilleriezerstörung?“
Berry hob überrascht seine Augenbrauen.
„Das stimmt.“
„So einen Namen wie Ihren vergisst man nicht so schnell bei dem was sie da vollbracht haben! Ich hoffe, ich habe wieder das Vergnügen mit ihnen zu arbeiten, Burton.“
Er lächelte Berry warm an und ging weiter. Bis er schließlich bei Veivei und Jill angekommen war.
„Interessante Haarfarben“, bemerkte er und Jill konnte sehen, wie John Forge tief einatmen musste. Die unbekannte Frau zog weiter stumm an ihrer metallischen Zigarette.
„Wie heißen Sie beide?“
„Jill Chambers, Major.“
„Veivei Lex Hunt, Major.“
„Frische Gesichter, die einen Eindruck hinterlassen. Nicht nur wegen der Haarfarbe“, er zwinkerte, „Und sie...“
Major Grant schaute Jill an und diese konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Der Heldenschiss drang wieder in ihr Gedächtnis.
„Sie sehen nach Ärger aus“, er machte eine Pause und deutete mit dem Finger auf sie, „Ich mag sie jetzt schon.“
Jills Lächeln wurde zu einem Grinsen. Grants Blick fiel auf Tatjana.
„Und Sie müssen Tatjana Rugerowa sein. Ich muss gestehen, ich habe selten eine so tadellose Uniform gesehen. John hat nicht unrecht gehabt, was ihr Aussehen angeht. Eine schöne, gepflegte Frau in einer schönen, gepflegten Uniform. Ich bin mehr als beeindruckt! Ich bin fasziniert, Frau Rugerowa!“
„Vielen Dank, Major.“
Nachdem er den letzten Soldaten kameradschaftlich auf die Schulter geklopft hatte, hatte die Vorstellung zumindest für den größten Teil der Militärs ein Ende gefunden. Major Grant und die Unbekannte verließen die Halle mit den Führungspositionen der Basis. Nur John Forge blieb zurück und entließ die ISK bis auf die vorher genannten drei Teams. Es dauerten einen Moment bis sie alleine waren.
„Soldaten“, fing er an, als nur noch sie übrig waren, „Ich will mich kurz fassen, da man mich vermutlich gleich wieder weiter scheuchen wird. Die Operation, die auf sie zukommt, wird hässlich. Und mit hässlich meine ich hässlich. Ich bezweifle nicht im Geringsten, dass ihr Erfolg haben werdet, doch bis dahin wartet eine Menge harte, schmutzige Arbeit auf euch. Das Ziel dürfte euch allen wohl bekannt sein und kaum Freude bereiten. Diesmal geht es nicht darum defensiv zu spielen. Wir werden angreifen.“
„Wo?“, schnitt jemand hinter Jill dazwischen.
„Harakon.“